15. Das Treffen
Heute war einer dieser Tage, an denen Stella von einem Patienten zum anderen eilen musste. Entsprechend kurz fiel auch ihre Mittagspause aus.
Ihr Magen meldete sich zwar zu Wort, aber gleichzeitig wollte sie nebenher auch ein wenig Schreibarbeit erledigen, bevor sie den ersten Patienten nach der Mittagspause empfangen musste.
Estelle hatte sie am Vormittag kaum zu Gesicht bekommen, weil auch sie einen Termin nach dem anderen hatte, und auch Rachel kam vom Empfangstresen nicht weg.
Um trotzdem ein wenig Nahrung zu bekommen, ging Stella in die Kantine und kaufte sich dort einen abgepackten Salat zum Mitnehmen. Sie war froh darüber, dass sie gerade nach der Stoßzeit gekommen war, und sie die Kantine schnell mit ihrer Mahlzeit in der Hand wieder verlassen konnte.
Gerade als sie aus der Kantinentür herausgetreten war, hörte sie eine bekannte Stimme hinter sich.
„Hey, hi! Bitte warte kurz!"
Einen Moment überlegte sie, ob sie wirklich stehen bleiben sollte, aber dann drehte sie sich zu dem Mann hinter ihr um und sah ihm ins Gesicht.
„Hallo Michael!"
Er lächelte leicht und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Mit gesenktem Blick sagte er schließlich: „Es ist schön, dass es dir wieder besser geht. Das mit deinem Sturz ... es tut mir wirklich leid."
Sie schlang die Arme um die Packung mit dem Salat und wartete ab, was ihr Ehemann noch zu sagen hatte.
„Ich habe mich gefragt, ob wir mal miteinander reden könnten. Hast du Zeit?"
In den letzten Wochen hatte sie sich über den Moment, in dem sie wieder mit ihm sprechen konnte, viele Gedanken gemacht. Vorbereitet war sie darauf trotzdem nicht. Sie wusste immer noch nicht, ob sie sich über die Gelegenheit freuen sollte. Ob sie sich darauf freuen sollte, wieder mit ihm zusammen zu kommen. Oder ob sie mehr Angst vor einer Aussprache haben sollte. Schließlich war sie sich nicht mehr sicher, wer er eigentlich war. War er noch der gleiche Mann, den sie geheiratet hatte?
„Heute geht es nicht. Ich habe schon in 30 Minuten meinen nächsten Termin und muss vorher noch was anderes aufarbeiten", antwortete sie und versuchte, dabei einen möglichst neutralen Tonfall zu bewahren.
„Können wir uns dann irgendwann nach dem Dienst treffen? Vielleicht in einem Café?", hakte er nach. „Bitte", fügte er leise hinzu, als sie ihn auf ihre Antwort warten ließ.
Sein Blick erinnerte sie an damals, als er sie zu ihrem ersten Treffen außerhalb des Dienstes überredet hatte. Sie konnte bei seinen flehenden Augen einfach nicht hart bleiben.
„Also gut. Dann übermorgen um 18 Uhr im Portofino", bestimmte sie die Eckdaten in der Hoffnung, so das Ruder in der Hand zu behalten.
Er entspannte sich und sein Gesicht erhellte sich. „Dann sehen wir uns übermorgen."
Den Rest des Tages hatte Stella ausreichend Ablenkung, um nicht weiter über die Begegnung nachzudenken. Aber nachts holten ihre Gedanken sie schließlich doch wieder ein und sie blieb lange wach liegen.
Schließlich rückte der Zeitpunkt immer näher, an dem es zu dem Gespräch kommen sollte.
Bevor sie zu dem Café aufbrach, wechselte sie von ihrer Dienstkleidung zu Freizeitkleidung. Sie wollte eigentlich darauf verzichten, sich besonders herzurichten, denn es war ja nur ein Eiscafé, in das sie gehen wollte. Und es sollte auch kein Date werden, sondern vielmehr eine Aussprache.
Dann ertappte sie sich aber doch dabei, dass sie sich viel zu viele Gedanken über die Auswahl des richtigen Oberteils machte. Sie schüttelte über sich selbst mit dem Kopf und entschied sich dafür, eine luftige Bluse über einem einfarbigen Top anzuziehen. Es bildete einen schönen Kontrast zu ihrer Jeans.
Im Café kam sie viel zu pünktlich an und musste ein paar Minuten auf Michael warten. Sie suchte sich einen Tisch etwas abseits von den anderen Gästen. Von diesem Platz aus hatte sie einen guten Blick auf den ganzen Raum und konnte so auch sehen, wie ihr Mann zur Tür herein kam.
Er blieb kurz am Eingang stehen und schien sich zu orientieren. Als er sie entdeckte, erhellte sich sein Blick und er kam auf sie zu.
Stella fiel jetzt auf, dass er deutlich gesünder aussah als vor ihrem Unfall.
Vielleicht täuscht mich aber auch die sonnige Umgebung, versuchte sie weiterhin vorsichtig zu sein.
„Hi", sagte er und setzte sich auf den Stuhl gegenüber von ihr.
„Hallo", antwortete sie.
„Ich hoffe, ich habe dich nicht zu lang warten lassen", entschuldigte er sich.
„Nein, ich war ein bisschen zu früh."
Ein wissendes Lächeln huschte über sein Gesicht.
Eine Kellnerin brachte zwei Speisekarten und ließ die beiden dann wieder allein. Sie suchten sich etwas aus und gaben schließlich ihre Bestellung auf, als die Bedienung zurückkam.
„Wie geht es dir?", wollte Michael wissen, während sie auf ihr Eis warteten.
Sie wollte zunächst wissen, worauf er mit dem Gespräch hinaus wollte, bevor sie mehr von sich preisgab, daher antwortete sie knapp: „Es geht mir so weit ganz gut. Und dir?"
„Es ist okay. Ein wenig seltsam im Moment. Ich vermisse dich und Antony."
Stella nahm dies schweigend hin und wartete weiter ab, ob er noch mehr sagen wollte.
Er sah ihr mit seinen traurigen Augen direkt ins Gesicht und stieß die Luft aus. „Es tut mir wahnsinnig leid, was geschehen ist. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen, denn das hast du nicht verdient. Aber ich weiß nicht, wie ich das wieder gut machen soll."
„Warum hast du dich dann nicht wenigstens mal bei mir gemeldet? Oder nach mir gefragt?", warf sie ihm vor.
„Ich wollte dich besuchen, ehrlich", fing er an.
Stella rechnete damit, dass jetzt irgendeine fadenscheinige Ausrede kommen würde.
„Dein Dad hat mich aufgehalten."
„Was? Wieso sollte er das tun?"
Er zuckte mit der Schulter. „Na ja, ich weiß nicht, was in ihm vorging. Ich war schon fast bei deinem Zimmer, da hat er mich ins Treppenhaus geschoben und mir gedroht, mich die Treppe herunterzustoßen, wenn ich seine Bedingungen nicht akzeptieren würde. So kannte ich ihn vorher gar nicht. Aber ich war mir sicher, dass er seine Drohung wahr machen würde. Ich hatte noch nie zuvor so viel Schiss."
Dad soll ihm Gewalt angedroht haben? So kenne ich ihn gar nicht.
„Und was sollen das für Bedingungen gewesen sein?", blieb sie skeptisch.
„Er wollte, dass ich mich in eine Entzugsklinik bringen lasse. Und ja, damit hatte er auch recht. Das war das, was ich gebraucht habe, um wieder auf den richtigen Weg zu kommen."
„Dann bist du wirklich in diese Klinik gegangen?"
„Ja. Solange bis jeder Arzt bestätigt hat, dass ich wirklich trocken bin. Ich habe mich jetzt wieder im Griff", versprach er.
„Welche Klinik war das?"
Er fasste in seine Hosentasche und holte einen gefalteten Flyer hervor, den er über den Tisch zu ihr herüberschob.
Stella nahm das Blatt in die Hand und erkannte das Logo der Klinik wieder, die sie am Tag des Unfalls am Computer ihres Vaters selbst herausgesucht hatte. Die Einrichtung hatte einen hervorragenden Ruf und Stella kannte auch ein paar Patienten, die schon einmal dort gewesen waren.
„Du kannst selbst mit den Ärzten sprechen, wenn du dich versichern willst", bot Michael an. „Ich werde ihnen sagen, dass sie dir alles erzählen dürfen."
Sie holte tief Luft und sah dann wieder zu ihm auf. „Worauf soll das alles hinauslaufen?"
„Ich würde gerne wieder bei dir einziehen", flehte er schon fast. „Ich vermisse dich und ich möchte unser altes Leben wieder haben."
Sie schüttelte den Kopf, woraufhin er leicht den Kopf senkte. „Das geht mir ein wenig zu schnell. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich das wirklich will", antwortete sie ehrlich. „Und ich würde gerne mit Dad reden, wegen dieser Sache im Treppenhaus", schickte sie mit Nachdruck hinterher.
Er soll nicht glauben, dass ich ihm jede Geschichte einfach abkaufe und ihn ohne weiteres zurückkommen lasse, als wäre nichts gewesen.
„Und wie soll es jetzt weitergehen? Wollen wir uns zumindest noch einmal treffen?", fragte Michael.
„Wie gesagt: Lass mich nachdenken und mit Dad reden. Danach können wir uns noch einmal treffen. Aber nicht mehr diese Woche."
„Und nächste?"
„Nein. Da geht es bei mir auch nicht", seufzte sie. „Ich muss nach New York. Dad hatte doch schon vor dem Sturz Vorkehrungen getroffen, dass ich mit in den Vorstand für den Immobilien- und den Health Care Bereich soll."
„Ich erinnere mich. Du hattest die Reise schon lange geplant", nickte er.
„Genau. Und dort treffe ich Dad auch das nächste Mal und kann mit ihm reden."
„Wann wollen wir uns dann wiedersehen?"
„Ich schreibe dir, sobald ich wieder da bin. Dann machen wir was aus, okay?"
Er hatte keine andere Wahl, als ihre Entscheidung zu akzeptieren, und nickte still.
„Und wo wohnst du im Moment?", fragte sie.
„Ich bin bei Dad untergekommen."
„Kommt ihr miteinander aus?"
Er lächelte schief. „Du kennst in ja. Wenn man weiß, wie man ihn nehmen soll, kommt man mit ihm klar. Es ist in Ordnung so. Ich verstehe, dass du mich nach all dem nicht gleich mit offenen Armen empfängst. Wenn es irgendetwas gibt, was ich tun kann, lass es mich wissen, ja?"
„Mache ich."
Den Rest des Gesprächs über verfielen sie in einfachere Themen und Stella erinnerte sich in manchen Momenten an die Zeit, nachdem Michael in die Stadt gezogen war.
Damals hatte er sich sehr um sie bemüht und stets versucht, beschauliche Plätze in der Stadt zu finden, an denen sie einen schönen Abend zu zweit genießen konnten. Er hatte ihr Komplimente gemacht und für Antony immer kleine Geschenke dabei. Wenn er die beiden zu Hause besucht hatte, hatte er sich immer zu dem Kind auf den Boden gesetzt und mit ihm zusammen Bauklötze gestapelt.
Sie erinnerte sich an das warme Gefühl von damals und Hoffnung keimte in ihr auf, dass sie dies auch wieder haben könnte.
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