14. Die Träume
Je weiter Stellas Genesung vorangeschritten war, desto mehr fing sie wieder an zu träumen. Auch wenn sie sich nicht sicher war, ob mehr dahinter steckt, war sie fasziniert davon, wie intensiv die Träume werden konnten.
Sobald sie wieder schreiben konnte, nahm sie sich ein Notizbuch zur Hand und schrieb ihre nächtlichen Erlebnisse auf.
So etwas war früher undenkbar gewesen, denn sie hätte Angst gehabt, Michael zu wecken, wenn sie das Licht anmacht, um etwas aufzuschreiben. Im Moment schlief sie jedoch allein in ihrem Schlafzimmer und niemand störte sich daran, wenn sie sich ihre Notizen machte.
Je öfter sie das wiederholte, desto mehr Einblicke bekam sie in ihre Traumwelt und sie hoffte, sich selbst auf diese Weise besser verstehen zu lernen.
Viele der Träume drehten sich um den weißen Wolf, der ihr bereits in der Vergangenheit erschienen war. Manchmal sah sie ihn wie bisher in einem Wald. Bei anderen Gelegenheiten fand sie sich in einer Stadt wieder.
Sie traf den Wolf auf einem Marktplatz. Die Auslagen an einem Souvenirstand deuteten darauf hin, dass die Stadt Bukarest war. Stella folgte dem Wolf durch die Straßen und kam bei einem mehrstöckigen Plattenbau an. Das weiße Tier führte sie durchs Treppenhaus in die oberste Wohnung.
In einer anderen Nacht fand sie sich direkt auf dem Dach des Gebäudes wieder und ging durch eine halb verglaste Tür in die gleiche Wohnung. Dieses Mal konnte sie sich genauer umsehen und notierte hinterher alle Details, an die sie sich erinnerte, in ihr Buch. Sie erinnerte sich an die alte Matratze auf dem Boden, die einfache Küchenzeile und an das fast leere Regal. Auf dem Regal hatte der Bewohner ein Notizbuch hinterlassen, welches Bilder von Steve in seiner Captain America Uniform enthielt.
Bei all ihren Schritten durch diese Wohnung beobachtete der Wolf sie aufmerksam.
In einer dieser Erfahrungen gesellte sich ein weiteres Tier hinzu. Stella war dem Wolf durch die Tür auf das Flachdach gefolgt. Dort löste sich ein Panther aus dem Schatten und schritt mit einer bedrohlich angespannten Haltung auf den Wolf zu. Sein Knurren ließ den Wolf zurückweichen und Schutz hinter Stella suchen. Doch gerade, bevor sie erfahren konnte, was noch geschah, wachte sie auf.
Nachdem sie alles niedergeschrieben hatte, überlegte sie, was der Traum bedeuten könnte. Ein Teil von ihr wollte sogar an die Theorie ihrer Großmutter glauben, die ihr sagte, dass die Träume mit dem Wolf Visionen sein könnten.
Ist der Wolf doch Michael? Es geht ihm nicht gut, oder? Ob er sich so einsam fühlt, wie diese Wohnung es vermuten lässt? Aber welche Bedrohung stellt der Panther dann dar? Vielleicht sollte ich mal versuchen, Michael anzurufen, um zu hören, wie es ihm geht.
Sie versuchte, noch eine andere logische Erklärung für den Traum zu finden. Eine die nichts mit übersinnlichen Fähigkeiten zu tun hatte:
Vielleicht wünsche ich mir auch nur, dass Michael mich vermisst. Das würde dann nämlich auch bedeuten, dass ich ihm doch wichtig bin, oder?
In manchen Nächten kamen neue Träume hinzu, die ihr immer merkwürdiger erschienen. In dem zweiten wiederkehrenden Motiv sah sie, wie jemand einen alten Mann in ein Seniorenheim mit dem Namen „Shady Acres" brachte. Die Straßenecke, an der sich das Heim befand, erinnerte Stella an New York und auch der Backsteinbau selbst war eines der typischen älteren Gebäude der Stadt.
Der alte Mann hatte schulterlanges graues Haar und eine Augenklappe. Sein Blick war leer. Der jüngere Mann führte ihn bestimmt in Richtung des Haupteingangs. Stella glaubte, dass die beiden das erste Mal an diesem Ort waren und der alte Mann seine neue Unterkunft noch nicht kannte. Als der blonde Mann die Tür öffnete, um seinen Begleiter hinein zu dirigieren, drehte er sich zu Stella um und sah ihr direkt ins Gesicht. Ein eisiger Schauer zog über ihren Rücken, den sie in dieser Form zuletzt kurz vor dem Angriff auf New York in ihren Träumen gespürt hatte.
Ein triumphierendes Lächeln umspielte die Lippen des Mannes. Sein Gesicht flackerte kurz auf und Stella sah, dass sich hinter dem Fremden Loki verbarg. Sie hatte den Eindruck, dass er direkt vor ihr steht. Der Schreck ließ sie aufwachen.
Warum träume ich wieder von Loki? Wer ist der alte Mann? Gibt es dieses Altenheim wirklich? Wie komme ich auf so etwas?
Auch diesen Traum notierte sie in ihrem Buch und versuchte, alle Details zu erfassen.
Das dritte Traummotiv brachte ihr ein Wiedersehen mit dem unbekannten Alten. Er hatte jetzt eine ganz andere, deutlich machtvollere Ausstrahlung. Sie befanden sich inmitten einer Graslandschaft und blickten über eine Klippe in Richtung des Meeres. Die kalte Brise ließ sie ein wenig frösteln und sie sah sich weiter um. Sie sah einen Trampelpfad, der von der Anhöhe hinunter führte. Ihr Blick folgte dem schmalen Weg, bis er an einem kleinen Dorf hängen blieb, das sich gerade noch in Sichtweite befand.
Die malerischen kleinen Holzbauten im skandinavischen Stil luden zum Verweilen ein. Der Himmel über dem Dorf war klar und das Wetter schien dort unten etwas wärmer zu sein.
Stella drehte sich wieder zu dem alten Mann um. Hinter ihm braute sich eine dichte Wolkenfront zusammen, die von schnellen Winden umhergetrieben wurde. Je länger sie hinsah, desto mehr glaubte sie, Formen darin erkennen zu können. Sie glaubte, eine Frau mit einer schwarzen Zackenkrone zu sehen. Die Wolken färbten sich plötzlich rot und unterhalb von ihnen entdeckte Stella einen goldenen Schimmer. Der Schein ging von einer goldenen Stadt aus. Aus den Wolken stürzte flammender Regen auf diesen fernen Ort herab und begrub alles unter sich. Einen Augenblick lang glaubte sie, das Leid der Bewohner spüren zu können.
Gerade als sie den Mund öffnen und mit dem alten Mann sprechen wollte, klingelte ihr Wecker.
Müde fuhr sie sich mit der Hand über das Gesicht und schaltete das piepsende Gerät aus. Auch dieser Traum fand jetzt einen Platz in ihrem Buch.
Habe ich neulich einen Fantasy-Film gesehen, in dem diese Stadt vorgekommen ist? Was hat der alte Mann damit zu tun? Und wo ist die Verbindung zu dem nordischen Ort? Ich würde gerne irgendwann mal in Norwegen wandern gehen. Vielleicht habe ich deswegen schon zu viele Reisedokus gesehen, tat sie ihren Traum ab.
Sie erzählte niemandem von den Träumen, da sie für sich beschloss, sie zunächst als nichts anderes zu betrachten. Alles andere ergab für sie keinen Sinn oder wirkte zu verrückt.
Doch ein Teil von ihr war auch neugierig und wollte wissen, ob es die Orte, die sie gesehen hatte, wirklich gab. Etwas bewegte sie dazu, in einer freien Minute im Internet nachzusehen, ob es dieses Seniorenheim wirklich gab. Tatsächlich fand sie die Website der Einrichtung. Auf den Fotos sah das Gebäude so aus, wie in ihrem Traum und es befand sich in New York.
Ihre Suchergebnisse führten sie auch zu einer Newsseite, die darüber berichtete, dass die Betreiber angekündigt hatten, das Gebäude an einen Investor zu verkaufen. Dieser wollte den Gerüchten zu folge den Altbau abreißen und ein schickes Apartmenthaus auf dem Grundstück errichten. Man hatte jedoch noch ein Problem damit, die Bewohner anderweitig unterzubringen. Der Investor soll insgeheim eine Frist gesetzt haben, zu der das Gebäude geräumt sein musste. Allen übrigen Bewohnern drohte ein Leben auf der Straße.
Vielleicht bin ich deswegen auf dieses Heim gekommen. Wahrscheinlich habe ich irgendwo schon mal einen Bericht über die dazu entstandenen Proteste gelesen, schloss sie aus den Erkenntnissen.
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