13. Die Schläferin

Seit ein paar Tagen hatte Stella endlich ihren Dienst wieder aufnehmen können. Sie freute sich darüber, endlich wieder arbeiten zu können. Gleichzeitig war sie aber auch froh, dass ihr Vorgesetzter zugestimmt hatte, sie in der ersten Zeit noch nicht für größere OPs einzuteilen. Stattdessen machte sie kleinere ambulante Eingriffe oder assistierte bei einfachen Routine-Operationen.

Für mehr fehlte ihr im Moment noch die körperliche Ausdauer. Noch schlimmer war es für sie, dass sie noch häufig auf Gedächtnislücken stieß und ihre Konzentration recht schnell nachließ. Einerseits wollte sie helfen, andererseits hatte sie Angst, aufgrund dessen in kritischen Momenten die falschen Entscheidungen zu treffen.

Heute traf sie das erste Mal auch Estelle, die ein paar Tage Urlaub gehabt hatte, in ihrer Praxis wieder.

Estelle schmunzelte, als sie ihre Kollegin mit dem Spazierstock auf sich zu gehen sah. Den Stock benutze Stella noch zeitweise, weil sie sich noch ein wenig unsicher fühlte, wenn sie längere Wege gerade aus laufen wollte.

„Du erinnerst mich an Dr. House", bemerkte Estelle.

„Hm... liegt es an meiner grimmigen Art oder am Dreitagebart?", lachte Stella und strich sich über ihr glattes Kinn.

„Dein Humor ist wieder da, das ist gut", freute Estelle sich und schloss Stella in eine Umarmung. „Willkommen zurück."

Stella erwiderte die Umarmung und sagte leise: „Danke für deine Hilfe. Ohne dich und unsere Kollegen wäre ich sicher nicht so schnell wieder auf die Beine gekommen."

„Ach, das war unser Job", winkte ihre Kollegin ab und ging herüber zum Empfangstresen, wo sie auch Rachel begrüßte. Sie blätterte kurz durch die Akten ihrer heutigen Patienten und zog dann eine heraus, um sie Stella zu reichen. „Ich habe hier einen Patienten, bei dem ich gerne noch deine Meinung hätte. Kannst du ihn dir mal ansehen?"

„Ich sehe ihn mir mal an", versprach Stella und schlug die Akte auf.

Den Patienten empfing sie schließlich noch am selben Vormittag und konnte gemeinsam mit Estelle einen Behandlungsplan entwickeln.

In der Mittagspause bestand Estelle darauf, dass sie sich das Essen in einem Bistro in der Nähe der Klinik holten. Auch Rachel hatte Stella in den letzten Tagen bereits davon abgehalten in der Kantine im Stützpunkt essen zu gehen.

Es waren dennoch Gerüchte zu ihr durchgedrungen, dass Michael ebenfalls wieder seinen Dienst antreten durfte. Ihre Freundinnen wollten ihn wohl von ihr fern halten.

Das wird ihnen nicht ewig gelingen, wenn er sich tatsächlich regelmäßig im Stützpunkt aufhält, glaubte Stella. Sie wusste jedoch selbst nicht, ob sie ihrem Ehemann begegnen wollte oder nicht.

Zwischen zwei Terminen am Nachmittag wurde Stella in das Büro des Generals gerufen. Sie kannte den Mann, der den Stützpunkt leitete, kaum persönlich, da sie ihm bisher nur einmal über den Weg gelaufen war. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger hatte General Cardon zu dem Zeitpunkt unnahbar und mit allem möglichen Anderen beschäftig gewirkt.

Dass er sie jetzt zu sich rief, verunsicherte sie. Sie fragte sich, was er von ihr wollen könnte und hoffte, dass er sie nicht wieder außer Dienst stellen würde. Da sie noch nicht alle Aufgaben übernehmen konnte, hätte er einen guten Grund dazu.

Sie ließ ihren Stock in ihrem Sprechzimmer und machte sich auf den Weg zu dem Gebäude, in dem die Verwaltung untergebracht war. Der Offizier, der im Vorzimmer des Generals saß, ließ sie gleich hindurch gehen und sie betrat ohne Umschweife den Raum.

Der General saß hinter seinem großzügigen Schreibtisch und war gerade im Begriff ein Telefonat zu beenden. Stella blieb geduldig an der Tür stehen und wartete darauf, herbei gewunken zu werden. Schließlich legte der Mann mit den kurzen grau melierten Haaren und dem ernsten Blick den Hörer auf, stand auf und begrüßte sie formell, indem er salutierte. Stella hielt sich an das Protokoll und grüßte ebenso formell zurück.

„Setzen Sie sich, Captain Chain. Ich muss noch eine Kleinigkeit erledigen, dann komme ich auch schon zum Thema", sagte er freundlich.

Sie folgte der Aufforderung und wartete ab, während ihr Gegenüber sich ebenfalls hinsetzte und ein paar Tasten auf seinem Tablet-Computer drückte.

***

Cardon war sehr gespannt auf das Ergebnis dieses Experiments gewesen. Sein Vertrauter, Dr. Gilbert, hatte sich bereits nach der Operation zuversichtlich gezeigt. Dabei hatte er ihm nicht verschwiegen, dass es anfängliche Schwierigkeiten geben könnte, denn die zum Einsatz gekommene Technologie hatte er von einem namenlosen Alien abgekauft. Doch wenn dies wie erhofft funktionieren würde, könnte Cardon der Organisation einen großen Mehrwert bieten.

Captain Chain war wie befohlen in sein Büro gekommen. Sie hatte ahnungslos und geduldig gewartet, während er auf seinem Tablett die nötigen Prozeduren startete, um das Implantat zu aktivieren.

Jetzt drückte Cardon gerade den letzten Button und beobachtete fasziniert, wie sich ihr Blick sofort leerte und sie eine emotionslose abwartende Haltung einnahm.

Es war, als säße statt der Offizierin ein Roboter vor ihm, dem man ihr Aussehen verpasst hatte.

„Kommen Sie mit mir nach draußen zu meinem Wagen!", gab er den ersten Befehl und sie folgte ihm, ohne zu zögern.

Eine weitere Anweisung genügte, damit sie einstieg und sich von ihm zu seinem Ziel mitnehmen ließ. Er hatte bewusst einen Weg gewählt, auf denen sie niemandem begegnen würden, der hinterher ungewollte Fragen stellen könnte.

Er fuhr mit dem Jeep zu einem der entlegeneren Teile des Stützpunktes. Hier gab es einen Raketenstartplatz, der vorübergehend still gelegt war. Ebenso lag im Moment die zugehörige Kontroll-Baracke brach. Diese Abgeschiedenheit war perfekt für ein ungestörtes Treffen.

Der General stieg aus dem Jeep aus, straffte seine Jacke und bedeutete Chain ihm zu folgen.

Als er die Tür öffnete, waren Dr. Gilbert und seine Gäste bereits anwesend.

„Guten Tag, meine Herren! Ich freue mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind!", begrüßte er die Runde.

„Ein Kontrollbesuch war ohnehin überfällig", winkte Arndt von Rabenfels ab und erhob sich von seinem Stuhl, um sich Chain näher anzusehen. „Das ist also die Frau, auf die mein Sohn damals so viel gesetzt hat und an die HYDRA aus irgendeinem Grund immer noch glaubt."

Skeptisch verzog der alte Mann sein faltiges Gesicht und umrundete die Frau, die regungslos auf die nächsten Befehle wartete.

„Wieviel bekommt sie von dem mit, was wir hier besprechen?", wollte der Mann wissen, der sich Cardon bei einer anderen Gelegenheit bereits als Mr. Sandner vorgestellt hatte.

„Sie hört und sieht im Augenblick alles", begann Dr. Gilbert zu erläutern. „Aber sobald wir den Befehlsmodus wieder deaktivieren, wird sie alles vergessen haben."

„Wird sie keinen Verdacht schöpfen?", hinterfragte Sandner.

„Nein. Sie wird denken, dass sie einfach nur zu einem Gespräch bei mir war", sagte Cardon.

„Uns kommt im Moment noch zu Gute, dass ihr Gedächtnis nach ihrem Unfall noch Lücken aufweist. Sie kann leicht mit einer Geschichte verunsichert werden", beschwichtigte Dr. Gilbert die Runde weiter.

Sandner legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. „Warum sie?"

„Die Gelegenheit war günstig", sagte Dr. Gilbert. „HYDRA möchte sie genauer beobachten und sie lag wegen ihres Unfalls ohnehin auf dem OP-Tisch. Der Eingriff an ihrem Kopf ist Außenstehenden nicht aufgefallen, da er zu ihren Verletzungen passte. Und das Implantat ist klein genug, dass es auch bei späteren Untersuchungen nicht auffallen wird. Besonders, weil das Material, aus dem es besteht, bei den traditionellen bildgebenden Verfahren nicht sichtbar ist."

„Sie wollen sie mit dem Gerät einfach nur beobachten?", fragte von Rabenfels, setzte sich auf seinen Stuhl zurück und verschränkte die Arme.

„Sehen Sie nicht, wie willenlos sie dasteht?", fragte Cardon mit Nachdruck. „Sie ist ein Prototyp für eine neue Art von verdecktem Agenten. Sie können ihr in diesem Zustand jeden Befehl geben."

„HYDRA hat so einen Agenten bereits – den Wintersoldier", wollte Sandner ihn daran erinnern, dass die Organisation schon in der Vergangenheit einiges geleistet hatte.

„HYDRA hatte so einen Agenten. Wo ist er jetzt?", provozierte Cardon.

„Sind die Kräfte, die HYDRA sich von ihr erträumt, denn inzwischen erweckt?", hinterfragte Sandner weiter.

„Nein", gab Cardon zu. „Aber wir werden die Ersten sein, die es mitbekommen", versprach er.

„Wie kann sie uns dann in der Zwischenzeit nützlich sein? Kann sie kämpfen? Würde das nicht ihrem Vater irgendwann auffallen? Sie wissen, wer er ist, oder?"

„Selbstverständlich. Nein, sie soll nicht kämpfen. Aber gerade wegen ihres Vaters hat sie Zugang zu Veranstaltungen, in die wir andere Agenten aufwendig einschleusen müssten. Sie wird einfach eingeladen und kann dann unauffällig Informationen beschaffen. Eine der Personen, zu denen sie Kontakt pflegt, ist Tony Stark. Und auch Steve Rogers soll zu ihren Freunden zählen. Außerhalb der Missionen wird sie weiterhin die Ärztin, Tochter, Mutter und was auch immer sein. Niemand wird ahnen, dass wir hinter ihr stehen."

„Und sie wird alle Befehle auf Knopfdruck befolgen? Der Wintersoldier war in dieser Hinsicht lange Zeit einzigartig", bohrte Sandner weiter.

Cardon zog einen Mundwinkel hoch. „Wir können sie sogar fernsteuern", verkündete er und gab auf seinem Tablet einen Befehl ein.

Die blonde Frau löste sich sofort aus ihrer Starre und ging direkt auf Sandner zu. Mit einer anmutigen Bewegung setzte sie sich auf seinen Schoß und strich ihm mit einer Hand durchs Haar. Sie fixierte ihn mit seinen Augen und öffnete leicht den Mund, um zu einem Kuss anzusetzen.

„Kann der Wintersoldier das auch?", fragte Cardon.

Sandner schluckte und sein Gesicht färbte sich rot.

„Das reicht!", unterbrach von Rabenfels das Geschehen. „Wir haben genug gesehen und erlauben Ihnen mit dem Experiment fortzufahren, wenn Sie noch eine Frage beantworten: Was machen Sie, sollte Ihr Prototyp doch außer Kontrolle geraten?"

„Wir können sie mit einem Tastendruck ausschalten", antwortete Dr. Gilbert. „Es würde wie eine Hirnblutung aussehen. Nichts Ungewöhnliches, besonders mit ihrer Vorgeschichte."

Captain Chain war inzwischen auf Anweisung Cardons hin wieder an ihren Platz zurückgegangen.

Von Rabenfels nickte. „Das muss reichen. Wie Sie schon erwähnten: Wir wissen nicht, wo der Wintersoldier ist. Das sollte Anlass genug sein, daran zu arbeiten, uns Ersatz zu beschaffen. Auch wenn die Methode damals sehr effektiv war – vielleicht ist es wirklich an der Zeit für etwas Neues."

Cardon atmete innerlich auf, da er sein Ziel für das Treffen erreicht hatte. Er verabschiedete sich von den Gästen und brachte Chain zurück in sein Büro, von wo aus er sie wieder in ihren Alltag entließ.

Ahnungslos trat die Frau aus dem Zimmer heraus und wandte sich ihren üblichen Beschäftigungen zu.

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