1. Die Nachricht

Nachdem Nat den Quinjet auf dem Boden des kleinen Sportflughafens aufsetzen ließ, rollte Steve sofort sein Motorrad aus dem Frachtraum hinaus.

Mit einem kurzen Nicken verabschiedete er seine Kameradin, die sogleich die Frachtluke wieder zufahren ließ und bald darauf mit dem Jet abhob.

Steve setzte sich auf sein Motorrad und startete es. Sein Weg führte ihn zuerst zu dem kleinen Mehrfamilienhaus in Cape Canaveral, in welchem Stella wohnte.

Dort angekommen klingelte er an der Tür, doch niemand öffnete ihm. Auch alle weiteren Versuche brachten keinen Erfolg.

Stella hatte ihm vor einer Weile bereits einen Schlüssel zu ihrer Wohnung anvertraut. Jetzt überlegte er, ob er davon gebrauch machen sollte.

Darf ich denn einfach so unangekündigt in ihre Wohnung eindringen?, fragte er sich.

Noch bevor er eine Antwort darauf fand, kam Stellas Nachbar Mr. Tanaka mit einer Einkaufstasche und einem Schlüssel in den Händen an der Tür an.

„Guten Tag, Mr. Rogers", begrüßte der alte Japaner ihn freundlich aber ernst. „Sie möchten zu Mrs. Chain, nehme ich an?"

„Hallo Mr. Tanaka. Ja, das ist richtig. Ich hatte versucht sie anzurufen, doch sie geht nicht dran. Deswegen wollte ich nach ihr sehen."

Mr. Tanaka schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie ist vor ein paar Tagen mit ihrem Sohn zu ihren Eltern gezogen. Mr. Chain ist immer nur wenige Stunden am Tag zu Hause", berichtete er.

Steves Muskeln spannten sich bei dieser Nachricht an. Was hat Michael angestellt, dass sie hier ausgezogen ist?

Steve bedankte sich für die Information und machte sich auf den Weg zum Haus von Stellas Eltern.

Der Weg war nicht weit und mit dem Motorrad schon nach wenigen Minuten zurückgelegt. Er stellte die Maschine am Rand der Auffahrt zum Haus ab und klingelte.

Wenige Sekunden später öffnete Stellas Mutter ihm die Tür. Die Falten auf ihrer Stirn und ihre dunklen Augenringe ließen sie gleichermaßen besorgt und erschöpft aussehen.

„Oh Steve", seufzte sie leise und zog ihn gleich in eine Umarmung. „Wir hätten dich anrufen und dir davon erzählen sollen."

Vorsichtig legte auch er kurz seine Arme um sie. „Hallo Susan. Ich suche Stella und hatte gehofft, sie hier zu finden", sagte er verwirrt.

Susan schüttelte kummervoll den Kopf. „Komm erstmal rein, dann erzähle ich dir, was passiert ist."

Steves Magen zog sich bei dieser Ankündigung zusammen und er musste ein wenig schlucken. Doch er folgte Susan ins Haus.

Im Wohnzimmer bot sie ihm zunächst einen Tee an und stellte ihm eine Tasse hin. Dann setzte sie sich zu ihm und begann vorsichtig zu erzählen.

„Stella ist die Treppe heruntergestürzt. Als Kenai sie gefunden hat, war sie bewusstlos und sie ist bis jetzt noch nicht wieder aufgewacht. Sie ist jetzt im Krankenhaus. Kenai ist im Moment bei ihr."

In Steves Hals bildete sich ein Kloß. „Wie konnte das passieren?"

„Wir wissen, dass Michael hier im Haus war und wir glauben, dass er sie gestoßen hat."

Ich hätte sie damals schon von ihm weg bringen sollen, fuhr es ihm in den Sinn. Er setzte dazu an, eine weitere Frage zu stellen, doch Susan fuhr von sich aus fort.

„Sie hatte hier gerade ein paar Tage vorher Schutz gesucht. Er hatte ihr im Suff die Schulter verbrüht. Ich weiß gar nicht, was er noch alles angestellt hat. Aber das war der Punkt, an dem sie entschieden hat, das nicht mehr mitzumachen."

Steve fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und stieß seinen kompletten Atem aus.

Stella hat sich bei all dem sicher auch Sorgen um ihren Sohn gemacht.

„Wie geht es Antony?"

„Er schlägt sich recht tapfer. Kenai und ich, wir schauen, dass er gut versorgt ist. Im Moment ist er beim Training, aber nachher freut er sich bestimmt, dich zu sehen."

Steve nickte still und hing einen Augenblick seinen Gedanken nach.

„Ich möchte sie sehen", sagte er schließlich.

Susan erzählte ihm, wo genau er im Krankenhaus hinmusste. Er ließ sein Gepäck im Haus der Hammonds und machte sich eilig auf den Weg.

Bevor er im Krankenhaus ankam, machte er an einem Geschenkeladen halt.

Es gehört sich nicht, mit leeren Händen aufzutauchen. Was könnte sie mögen?

Schnell verschaffte er sich einen Überblick über den kleinen Laden. Es gab Schnittblumen, Plüschtiere, Grußkarten und verschiedene kleine Dekoartikel.

Sie mag keine Schnittblumen, das hat sie mir mal gesagt, dachte er.

Die meisten der Plüschtiere fand er zu groß und eine Grußkarte war viel zu wenig. Sein Blick fiel plötzlich auf eine Schneekugel. Er wusste nicht, warum diese passen könnte, aber er schnappte sie sich, bezahlte sie und fuhr dann weiter.

Im Flur, der zu Stellas Station führte, kam ihm ihre Kollegin Estelle entgegen. Ihr brauchte Steve gar nicht erst erklären, wo er hinwollte.

„Es ist lieb, dass du sie besuchen kommst. Aber ich muss dich warnen. Das ist für viele Menschen kein leichter Anblick. Wenn du etwas brauchst, findest du mich unten in unserer Praxis."

„Danke, Estelle", sagte Steve, verabschiedete sich von ihr und ging weiter.

Der Kloß in seinem Hals schien mit jedem Schritt zu wachsen und als er an der Tür mit der richtigen Zimmernummer ankam, musste er kurz durchatmen, bevor er seinen Arm heben und anklopfen konnte.

Der Krankenhausgeruch und die unglaublich schwer wirkende Zimmertür vor ihm weckten Erinnerungen an seine Mutter, an die er nur ungern zurückdachte.

Seine Mutter hatte Mitte der 30er Jahre einen Husten bekommen, zu dem sich bald weitere Symptome hinzugesellten. Sie redete sich selbst und allen anderen ein, dass es schon nicht so schlimm sei. Sie wollte sich bei ihrer Arbeit als Krankenschwester auf einer Tuberkulose-Station nicht frei nehmen, um sich auszuruhen. Eines Tages war sie während ihrer Schicht zusammengebrochen. Sie hatte sich bei ihrer Arbeit angesteckt. Von da an ging es recht schnell, bis sie in ihrem Krankenbett den letzten mühsamen Atemzug getan hatte. Steve hatte erst gedacht, sich allein durchschlagen zu müssen, doch Bucky ließ sich nicht davon abbringen, an seiner Seite zu bleiben.

Hinter Stellas Zimmertür hörte Steve Kenai, der ihn aufforderte einzutreten.

Vorsichtig öffnete er die Tür und ging langsam in den Raum. Wie angewurzelt blieb er bei dem Anblick stehen.

Stella lag regungslos in ihrem Bett. Neben dem Bett waren mehrere Apparate aufgereiht, deren Funktion Steve höchstens erahnen konnte. Aus ihrem Mund ragte ein Schlauch. Durch den Ausschnitt ihres Patientenhemdes hatte man ein ganzes Bündel Kabel geführt. Ein Arm und ein Bein waren eingegipst. An dem anderen Arm war ein dünner Schlauch befestigt, der in einem Tropf endete. An ihrem Finger hatte man mit einer Klemme ein weiteres Kabel befestigt.

Kenai saß auf einem Stuhl neben ihrem Bett und sah überrascht auf.

„Hallo Steve."

„Hallo", fing Steve vorsichtig an. „Susan hat mir erzählt, dass Stella hier ist."

Kenai nickte verstehend und deutete auf einen zweiten Stuhl neben sich. „Setz dich ruhig."

Als Steve sich hinsetzte, merkte er, dass er noch immer die Schneekugel in seiner Tasche hatte. Er zog sie heraus und zögerte.

Ist das wirklich ein passendes Geschenk für einen Krankenbesuch? Wird sie sich tatsächlich darüber freuen? Oder überhaupt darüber freuen können?

Er beschloss, die Schneekugel auf dem Nachttisch abzustellen.

Kenai blickte überrascht die Kugel mit der weißen Taube im Inneren an.

„Hat sie dir mal ihren zweiten Vornamen verraten?", fragte der Vater.

„Ihr zweiter Vorname ist Chenoa", erinnerte Steve sich.

„Und die Bedeutung?"

„Nein."

Kenai lächelte leicht, als er zu erzählen anfing. „Bei uns gibt es die Tradition, dass Kinder zwischen 12 und 14 eine Art Reifeprüfung ablegen. Dazu gehen sie für vier Tage alleine in den Wald und zeigen, dass sie ohne besondere Hilfsmittel überleben können."

Steve zog die Augenbrauen hoch. Er fand den Gedanken furchtbar, dass Kinder alleine in den Wald geschickt wurden.

„Nun, sie denken, dass sie allein sind", fügte Kenai hinzu. „In Wirklichkeit gibt es eine Handvoll Erwachsener, die sich in der Nähe verstecken und eingreifen, sollte eine Gefahr drohen. Stella hat sich an den ersten drei Tagen wirklich gut geschlagen. Sie war fast bis zum Rand unseres Gebietes gewandert, hat sich dort einen Unterschlupf gebaut und ausreichend Beeren und Nüsse gefunden, um auf die Jagd verzichten zu können. Am vierten Morgen ging sie auf eine etwas längere Erkundungstour und stieß dabei auf eine weiße Taube. Die gibt es in der Gegend eigentlich nicht, das muss sie neugierig gemacht haben. Sie ging weiter und fand noch mehr Tauben. Als sie der Spur folgte, kam sie zu einer alten Jagdhütte. Auf dem Boden davor war ein älterer Mann zusammengebrochen und schien Hilfe zu brauchen. Sie hat um Hilfe gerufen und damit ihre Prüfung abgebrochen, damit der Mann gerettet werden konnte."

„Wer war der Mann?"

„Ich weiß es nicht genau, nur dass er sich dort anscheinend vor seinen Schuldnern versteckt hatte und dass er dann zur Rechenschaft gezogen wurde, nachdem sein Herz behandelt worden war. Und dass er mittels Brieftauben mit der Außenwelt kommuniziert hatte. Jedenfalls musste ich ziemlich lang mit dem Ältestenrat diskutieren, damit Stella die Prüfung trotzdem anerkannt wurde. Und zum Abschluss der Prüfung hat sie ihren Namen erhalten. Du darfst jetzt raten, was er übersetzt bedeutet."

Steve guckte die Schneekugel an und sagte: „Er passt zu ihr. Aber wie geht es jetzt mit ihr weiter?"

Kenais Blick war jetzt wieder gänzlich mit Sorge erfüllt. „Durch ihre Verletzung am Kopf ist sie ins Koma gefallen. Man hat das Koma künstlich vertieft, damit der Druck in ihrem Schädel sich hoffentlich abbaut. Sobald die Medikamente dann wieder abgesetzt werden, bleibt es abzuwarten, ob sie wieder aufwacht." Er seufzte leicht. „Die Ärzte sind sich recht einig, dass sie in diesem Zustand nichts um sich herum mitbekommen kann. Aber dennoch ist es mir und Susan wichtig, an ihrer Seite zu bleiben."

„Wird sie denn wieder aufwachen?", fragte Steve vorsichtig.

„Ja, da bin ich mir sicher", antwortete Kenai zuversichtlich. „Als sie aus Afghanistan zurückgebracht wurde, war ihr Zustand vergleichbar schlimm. Und damals hat sie es auch geschafft, gesund zu werden. Sie ist stärker, als man es ihr ansieht."

Steve nickte nachdenklich und betrachtete einen Augenblick lang seine regungslose Freundin. So wie sie jetzt dalag, wirkte sie so, als wäre nur noch die schlaffe Hülle der einst so lebensfrohen Frau vorhanden. Es fiel ihm schwer, Kenais Zuversicht zu teilen.

Er wusste nicht, wie er jetzt darauf kam, aber in ihm keimte eine Frage auf, die er sich schon seit einer Weile insgeheim gestellt hatte.

„Sie hat mal erwähnt, dass du und Susan Antonys Namen ausgesucht habt. Gab es dafür einen bestimmten Grund?"

Kenai machte einen tiefen Atemzug und sagte dann: „Ja, den gab es. Sie war nicht nur schwer verletzt, sondern auch schwanger, als sie aus Afghanistan zurückkehrte. Man hat uns als ihre Eltern gefragt, ob sie das Kind behalten soll, und wir glaubten, dass sie es so wollte. Und wir hofften sehr, dass wir damit richtig lagen. Als Antony auf die Welt kam, war sie noch immer nicht bei Bewusstsein. Daher mussten wir auch den Namen auswählen. Als sie dann wach war, haben wir ihr vorsichtig erklärt, dass sie jetzt ein Kind hatte. Sie hat Antony sofort in ihr Herz geschlossen, als sie ihn das erste Mal halten durfte. Sie hatte nur furchtbare Angst, sich nicht gut genug um ihn zu kümmern, besonders weil er als Frühchen noch zerbrechlicher wirkte, als andere Babys."

„Ich glaube, sie macht das ganz gut."

„Ja", bestätigte Kenai und die beiden verfielen in einen Moment des Schweigens.

Die Geräusche, die die Apparate um Stella herum verursachten, dominierten wieder den Raum und Steve sehnte sich jetzt ein wenig nach der Ablenkung durch Kenais ruhige Stimme. Aber er wusste nicht, welche Geschichte er ihm noch entlocken konnte.

Das Gefühl der Hilflosigkeit fing an, an Steve zu nagen. Er hätte Stella vor einer Horde Aliens oder anderen Bösewichten beschützen können. Aber es gab nichts, was er gegen ihren Zustand tun konnte.

Steve wollte nicht zugegeben, dass die Situation für ihn nahezu unerträglich war, also zwang er sich, zu bleiben, bis Kenai sich irgendwann erhob.

„Ich werde jetzt nach Hause fahren. Möchtest du mitkommen?"

„Nein, ich bin mit meinem Motorrad hier. Ich werde bald nachkommen."

Kenai nickte, gab Stella einen vorsichtigen Kuss auf die Schläfe und verabschiedete sich.

Nachdem die Tür wieder geschlossen war, stieß Steve einen tiefen Seufzer aus und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Seine andere Hand war so fest zu einer Faust geballt, dass seine Fingernägel Abdrücke an der Handfläche hinterließen. Seine Nase fing verdächtig an zu kribbeln und er konnte das Gefühl nicht länger unterdrücken.

„Es tut mir leid", hauchte er, als Tränen seine Wangen herunter liefen. Er kämpfte gegen die Mischung aus Angst und Zorn, die in ihm brodelte, an.

Sie hat mich davor gewarnt, nicht aus Zorn heraus zu handeln. Ich darf dem nicht nachgeben!

Um sich ein wenig abzuregen, tigerte er eine Weile im Zimmer auf und ab. Als es wieder einigermaßen ging, warf er einen letzten Blick auf Stella. Er hätte ihr gerne eine tröstliche Berührung zukommen lassen, doch nicht mal das schien ihm möglich zu sein. Er hatte Angst, eine der vielen Leitungen zu beschädigen und ihr damit weiteren Schaden zuzufügen.

Mit einem weiteren Seufzer wandte er sich ab und verließ den Raum.

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