Epilog

Bucky war während seiner Flucht vor HYDRA schließlich in Bukarest gelandet. Dort hatte er es geschafft, einen Job als Hilfsarbeiter in einer Fabrik und eine einfache Wohnung zu bekommen. Die Wohnung bestand aus einem kleinen Raum und einem Bad. In dem Zimmer gab es eine schlichte Küchenzeile, eine alte Matratze auf dem Boden, einen kleinen Küchentisch mit Stuhl und ein Regal. Eine Tür führte ins Treppenhaus, die zweite ins Bad und die dritte hinaus auf das Flachdach des mehrstöckigen Plattenbaus.

Er fing langsam an, sich an den geregelten Tagesablauf zu gewöhnen. Tatsächlich fand er es sogar erholsam, tagsüber arbeiten zu dürfen, denn das lenkte ihn ein wenig von seinen Gedanken hab.

In seinen Gedanken kreiste ein Gemisch aus Erinnerungsfetzen, die aus allen Jahrzehnten seines Lebens stammten und die er zum Teil nicht einordnen konnte. Auch wenn er es krampfhaft versuchte, konnte er noch nicht klar beschreiben, wer er eigentlich war. Fest stand nur, dass er in den letzten Jahrzehnten unzählige Morde begangen hatte. Er glaubte daran, dass die Strafe dafür ihn irgendwann einholen würde. Gleichzeitig befürchtete er, dass HYDRA ihn finden und erneut für ihre Zwecke einsetzen könnte.

An einem Samstag wurde er von einem lauten Geräusch aus seinem unruhigen Schlaf gerissen. Er setzte sich sofort steil auf und sah sich aufmerksam um. In der Wohnung war niemand außer ihm. Doch er sah, dass vor dem Fenster gerade eine Taube vor einem Raben floh. Das schneeweiße Tier konnte entkommen.

Eigenartig, dachte Bucky, glaubte aber nichts gegen die Auseinandersetzung der zwei Vögel tun zu können.

Es vergingen ein paar Tage, bis Bucky eines Morgens wieder von einem lauten Knall aufgeschreckt wurde. Wieder sah er sich um und erblickte durch das Fenster einen Raben, der gerade davon flog.

Irgendetwas bewegte ihn dazu, aufzustehen und hinter der Tür, die auf das Flachdach führte, nachzusehen.

Bevor er die Klinke herunterdrückte, spähte er vorsichtig durch das in die Tür eingelassene Fenster. Auf dem Flachdach war nichts Ungewöhnliches zu sehen.

Erst als er die Tür öffnete, sah er die Taube auf dem Boden liegen. Blut sickerte aus ihren offenen Wunden und befleckte das schneeweiße Gefieder. Das Tier versuchte, davon zu flattern, doch einer der Flügel hing geknickt an ihrer Seite herunter. Sie gab einen wehklagenden Laut von sich, der Buckys Herz schmolz.

Er glaubte, dass das arme Geschöpf Angst vor ihm haben musste. Dennoch folgte er einem Impuls und ging langsam darauf zu. Er ging in die Hocke und hob das Tier behutsam hoch. Mit seiner rechten Hand spürte er, wie schnell und stark ihr kleines Herz pochte.

Vorsichtig stand er wieder auf und brachte die Taube in seine Wohnung. Am Waschbecken im Badezimmer wusch er vorsichtig ihre Wunden.

Und was soll ich jetzt mit ihr machen?, fragte er sich, nachdem er fertig war. Ich habe doch überhaupt keine Ahnung, wie man eine Taube pflegt. Erst recht nicht eine verletzte.

Während er nachdachte, formte er aus einem Handtuch ein kleines Nest und setzte den Vogel hinein.

Sie wird auch Futter brauchen, stellte er fest. Herr Serban aus dem zweiten Stock hat eine Tierhandlung, das hat mir seine Frau neulich erst erzählt, als ich sie am Briefkasten traf. Vielleicht weiß er, wie ich der Taube helfen kann.

Bucky nahm das Handtuchnest mitsamt der Taube hoch und trug es aus seiner Wohnung hinaus, durch das Treppenhaus und vor die Tür seines Nachbarn.

Wie mit allen Nachbarn hatte Bucky mit ihm bisher kaum ein Wort gesprochen. Nur seine Frau war anscheinend allen gegenüber recht redselig. Immer, wenn er ihr im Hausflur über den Weg lief, erzählte sie ihm eine Vielzahl von Geschichten, nach denen er nicht gefragt hatte. Jetzt war er bereit, ihr zuzuhören, wenn es bedeutete, dass dem verletzten Tier geholfen werden konnte.

Als Bucky klingelte, machte Frau Serban ihm die Tür auf und strahlte ihn an.

„Guten Tag, Frau Serban", begrüßte Bucky sie höflich. „Ist Ihr Mann zu Hause?"

„Ja, das ist er", antwortete sie und beäugte neugierig das Bündel auf Buckys Arm. „Was haben wir denn da?"

„Sie ist vorhin verletzt auf dem Dach gelandet. Ich hatte gehofft, dass Ihr Mann mir einen Rat geben könnte, wie man ihr helfen kann."

„Ich wusste gar nicht, dass sie so eine sanfte Seite haben", kicherte seine Nachbarin. „Sie wirken ja sonst eher grimmig – nichts für ungut. Kommen Sie rein! Aber stören Sie sich nicht daran, dass unser Junge die ganze Zeit vor dem Bildschirm hängt. Er schaut sich diese Kochsendungen an, weil er demnächst nach München geht, um in einer Hotelküche zu arbeiten. Er will schon mal die Sprache lernen, wissen Sie", plapperte die Frau drauf los.

Sie führte ihn in die kleine Wohnküche, wo ihr Mann gerade die Zeitung las. Der Sohn der Serbans saß mit am Küchentisch und schaute sich Videos auf seinem Laptop an.

Bucky erklärte Herr Serban, was passiert war.

„Ein schönes Tier", bemerkte der Grauhaarige, während er die Taube vorsichtig untersuchte. „Sie hat ja gar keinen Ring! Ungewöhnlich, dass so eine in dieser Gegend wild lebt."

„Kann ihr geholfen werden?"

Herr Serban nickte, stand auf und ging hinüber zum Kühlschrank. Aus dem Eisfach holte er zwei Stieleise und reichte eines davon Bucky.

„Aufessen!", ordnete er an. „Mit den Stielen kann ich vielleicht ihren gebrochenen Flügel schienen", schickte er hinterher, als Bucky ihn fragend ansah.

„Krieg ich auch eins?", fragte der Sohn und Herr Serban reichte ihm das zweite Eis.

Während er aß, fiel Buckys Blick auf den Bildschirm. Darauf lief gerade eine Kochsendung. Ein Mann und eine Frau backten gemeinsam einen Pflaumenkuchen. Die Frau erklärte auf Deutsch gerade, warum Pflaumen gut für das Gedächtnis sind.

Ihr Anblick fesselte ihn, auf eine Art, die er sich nicht erklären konnte. Ihre Stimme und ihre leuchtend grünen Augen strahlten eine Wärme aus, die sein Herz berührte. Was irgendwie nicht zu ihr passte, waren ihre glatten blonden Haare. Sie hatte lockere Kleidung an, die ihre Figur gut kaschierte, doch durch ihre dünnen Handgelenke konnte man erahnen, dass sie auch sonst sehr schlank war.

Mit ihrem Blick schaute sie in Richtung Kamera, aber Bucky hatte das Gefühl, dass sie direkt ihn ansah. Er wusste, dass dies nicht sein konnte, doch er fühlte sich angesprochen.

Pflaumen. Vielleicht ist das ein Versuch wert und sie können mir mit meinem Gedächtnis helfen.

„Wer ist das?", fragte Bucky den jungen Mann neben sich.

„Tim Mälzer", antwortete er knapp.

Bucky stutzte einen Moment und glaubte dann, dass da ein Missverständnis vorlag. „Nein, ich meinte die Frau."

„Oh, das ist Stella Hammond", klärte Frau Serban auf. „Ihren Eltern gehört der Hammond International Konzern. Ein armes Ding. Sie hat diese Fernsehshows mitgemacht, um einen Patzer ihres Ehemannes auszugleichen, munkelt man", tratschte die Frau weiter.

„Einen Patzer?"

„Ja. Nach einer Party von Tony Stark ist ein Foto aufgetaucht, wie ihr Mann mit einer anderen in ein Taxi steigt. Wenn Eugen so etwas machen würde, bräuchte er gar nicht mehr nach Hause kommen", kicherte sie.

Stark? Es fühlt sich so an, als würde ich den Namen kennen.

Herr Serban brummte nur und beendete die Arbeit an seiner provisorischen Schiene für die Taube. Er stand dann auf und holte Vogelfutter aus der Abstellkammer neben der Küche und füllte einen Teil davon in eine ausgewaschene Konservendose.

„Hier, das sollte eine Weile reichen, wenn sie denn wieder zu Kräften kommt und fressen kann. Für heute sollte ihr ein Schälchen Wasser und vielleicht etwas eingeweichtes Brot reichen", erklärte er, setze die Taube mit ihrem Nest in eine Apfelkiste und reichte sie Bucky.

„Danke, Herr Serban", sagte Bucky, bevor er sich verabschiedete und zurück in seine Wohnung ging.

In der Nacht konnte Bucky nicht davon ablassen, immer wieder nach dem Vogel zu sehen. Nach einer Weile krabbelte das Tier vorsichtig aus dem Handtuch heraus und trank aus der Untertasse, die Bucky mit Wasser gefüllt und mit in den Karton gestellt hatte. Danach pickte sie ein wenig an dem Brot und kroch dann wieder zurück an den warmen Schlafplatz.

Mit jedem Tag wurde die Taube immer munterer und begann immer mehr mit beiden Flügeln zu schlagen. Bucky nahm ihr die improvisierte Schiene ab, da er glaubte, dass sie der Taube jetzt nur noch Schmerzen bereitete.

Eines Morgens schreckte Bucky aus einem seiner zahlreichen wirren Träume auf. Er brauchte Zeit, um sich im Hier und Jetzt und zu orientieren und strich sich mit seiner rechten Hand erschöpft durch das Gesicht.

Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen und aus den Traumfetzen mögliche Erinnerungen herauszufiltern. Doch immer wenn er versuchte, sich bewusst an etwas zu erinnern, baute sich in seinem Kopf eine Art Blockade auf. Eine die mit Stacheln bewehrt und schier unüberwindbar war.

„Wie soll ich mich jemals daran erinnern, wer ich bin?", seufzte er leise zu sich selbst.

Er hörte Flügel flattern und sah dann, wie die Taube vom Regal aus auf den kleinen Küchentisch segelte. Dort setzte sie sich neben einen Notizblock und pickte scheinbar demonstrativ mit dem Schnabel darauf.

„Du findest, ich soll einfach alles aufschreiben, was mir einfällt?", flüsterte er.

Die Taube legte abwartend den Kopf schief und sah ihn mit ihren Kulleraugen an.

Er stand von seiner Matratze auf und setzte sich an den Tisch. Als er den Bleistift in die Hand nahm, dachte er: Höre ich hier gerade auf den Rat einer Taube? Werde ich langsam verrückt oder bin ich es schon längst? Aber es könnte einen Versuch wert sein. Was ich aufgeschrieben habe, kann ich nicht mehr vergessen. Ich kann es immer wieder nachlesen. Bis alles einen Sinn ergibt.

In den kommenden Tagen flatterte die Taube immer mehr in der Wohnung umher und Bucky entschied, dass es an der Zeit war, Abschied zu nehmen.

Sie ließ sich von ihm hochnehmen und schien ihm zuzuhören.

„Du bist wieder gesund. Es wird Zeit, dass du wieder nach draußen gehst. Ein Vogel wie du gehört in die Freiheit", erklärte er, während er sie auf das Flachdach trug.

Draußen angekommen setzte er sie auf dem Boden ab.

Sie hüpfte zögerlich umher.

„Na los, flieg! Ich habe gesehen, dass du das kannst", forderte er sie auf. Mach es mir bitte nicht so schwer, fügte er in Gedanken hinzu. Die Vorstellung, wie still es ab jetzt wieder in seiner Wohnung sein würde, schmerzte ihn. Aber es war falsch, so einem Wesen die Freiheit zu rauben.

Sie flatterte jetzt ein Stück weit, landete auf der Brüstung und sah ihn einen Augenblick an. Dann segelte sie mit weit aufgeschwungenen Flügeln auf die gegenüberliegende Seite des Daches.

Bei dem Anblick musste Bucky lächeln. Ihr Gefieder schien im Sonnenlicht zu leuchten und die Anmut, mit der sich die Taube fortbewegte, war bezaubernd.

„Flieg hinaus in die Welt!", flüsterte er.

Die Taube warf ihm einen letzten Blick zu und nahm dann einen Satz vom Dach herunter, um dann auf ihren Schwingen hinaus in die Stadt zu gleiten.

Bucky sah ihr eine Weile hinterher. Ich habe einem kleinen Wesen geholfen und sie ist wieder gesund geworden. Ich kann vielleicht doch mehr als nur töten!, dachte er. Der Gedanke tröstete ihn darüber hinweg, dass er nun wieder mit seinen Albträumen und Erinnerungsfetzen alleine war.

Er sah die Taube nicht mehr wieder, aber manchmal lag auf seinem Fenstersims ein grüner Zweig oder ein kleines Stück Brot. So als hätte die Taube vorbeigeschaut und ein kleines Geschenk dagelassen.

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