85. Der Fund

Kenai kam später als erhofft vom Zahnarzt zurück und hatte ein ungutes Gefühl, als er gerade sein Auto neben seinem Haus abstellte und sein Blick auf die halb geöffnete Haustür fiel. Er stieg aus und ging darauf zu. Vor dem Haus war niemand zu sehen, was sein Gefühl, dass etwas nicht stimmt, verstärkte. Jeder, der im Haus normalerweise aus- und einging, hätte die Tür beim Verlassen geschlossen oder wäre in Sichtweite geblieben.

Vorsichtig schob er die Tür weit genug auf, sodass er hindurch gehen konnte. Als er den Anblick sah, der sich hinter dem Eingang verborgen hatte, lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sein Herz schien einen Moment auszusetzen, nur um danach umso schneller weiter zu pumpen.

Seine Tochter lag regungslos auf dem Boden am unteren Ende der Treppe. Ihre Gliedmaßen waren unnatürlich verdreht. Ihr Gesicht zeigte zur Tür und einen Arm hatte sie hilfesuchend in diese Richtung ausgestreckt.

Er stürzte auf sie zu und kniete neben ihr, um sie fahrig nach Lebenszeichen abzutasten. Ihr Puls war schwach und ihr Atem war kaum wahrnehmbar.

„Chenoa, hörst du mich?", fragte er ängstlich.

Ihre Augen gingen leicht auf, flatterten und fielen dann wieder zu. Dabei gab sie ein leises, wimmerndes Geräusch von sich. Danach reagierte sie gar nicht mehr. Nachdem er ihren Hinterkopf berührt hatte, hatte er Blut an seiner Hand.

In Kenai wuchs die Angst, dass ihr Atem mit jeder Sekunde ganz aussetzen könnte. Er hatte auch Angst, sie zu bewegen, weil er nicht wusste, welche Knochen gebrochen waren und ob ihr Genick verletzt war. Er holte mit einer zittrigen Hand sein Smartphone aus der Hosentasche und wählte den Notruf.

Der Dispatcher am anderen Ende der Leitung wies ihn an, sicherzustellen, dass ihre Zunge nicht ihre Atemwege blockierte. Er sollte ihre Lebenszeichen im Blick behalten, bis der Rettungswagen eintraf.

Während er wartete, setzte Stellas Atem aus. Kenai hatte sein Smartphone noch nicht aufgelegt und bekam jetzt die Anweisung, Stella vorsichtig auf den Rücken zu lagern und sie über den Mund zu beatmen.

Kenai zögerte nicht, die Anweisungen umzusetzen. Die Sekunden und Minuten schienen sich immer mehr in die Länge zu ziehen. Es verging eine gefühlte Ewigkeit, in der der Rettungswagen immer noch nicht ankam.

Seine Angst schlug allmählich in Verzweiflung um und inzwischen existierten für ihn nur noch die wenigen Quadratmeter, auf denen Stella lag und er um ihr Leben bangte.

Er schreckte auf, als er von jemandem an der Schulter berührt wurde. Er riss den Kopf herum und blickte in das Gesicht eines Mannes, der in etwa in Stellas Alter war und eine leuchtend gelb-rote Jacke trug. Er war zusammen mit einem etwas jüngeren Mann durch die offene Haustür gekommen. Der zweite Mann trug einen großen Rucksack und schob eine Trage durch die Tür.

„Sie haben das gut gemacht. Wir übernehmen jetzt. Bitte treten Sie zur Seite", sagte der Mann freundlich aber bestimmt.

Kenai war dem Mann schon einmal begegnet. Seine Tochter ging in die gleiche Klasse wie Antony und er arbeitete an der gleichen Klinik wie Stella.

Er sah ein, dass er seine Tochter jetzt den professionellen Händen der beiden Sanitäter übergeben musste, und machte Platz.

Hilflos sah er zu, wie einer der beiden seine Tochter intubierte, um sie mit Hilfe eines Ballons weiter zu beatmen. Der andere maß ihren Blutdruck und legte einen Zugang für eine Infusion. Danach legte er ihr eine Halskrause an, bevor er die Trage auf Bodenniveau herabsenkte und er Stella zusammen mit seinem Kollegen darauf bettete. Als Nächstes holte er aus dem Rucksack ein mobiles EKG Gerät und legte es Stella an. Während des ganzen Vorgangs waren die beiden völlig auf ihre Arbeit konzentriert und gaben sich gegenseitig knappe Anweisungen, von denen Kenai die meisten nicht verstand.

Susan und Antony kehren bald heim!, schoss es Kenai plötzlich durch den Kopf. Sie sollten das hier nicht mitansehen müssen.

Er ging vor die Haustür, um seiner Frau und seinem Enkelsohn entgegenkommen und ihnen den Anblick ersparen zu können.

Vor dem Haus traf gerade ein Polizei-Auto ein. Die Beamten stiegen aus. Einer kümmerte sich darum, die Traube an Schaulustigen, die am Grundstücksrand stand, zu vertreiben. Der andere kam direkt auf Kenai zu.

„Haben Sie den Notruf abgesetzt?", fragte der Polizist ruhig.

„Ja, das habe ich", bestätigte Kenai.

Der Uniformierte holte einen Notizblock hervor. „Die Zentrale hat gemeint, dass der Notruf so klang, als läge hier möglicherweise ein Gewaltverbrechen vor. Können Sie mir sagen, was passiert ist?"

„Ich weiß es nicht genau", gab Kenai zu. Aber ich sollte es wissen. Ich hätte sie schützen sollen! „Als ich nach Hause gekommen bin, stand die Haustür einen Spalt breit offen und als ich hineinging, fand ich Stella bewusstlos auf dem Boden. Es sieht so aus, als sei sie die Treppe heruntergefallen."

„War sonst jemand zu Hause?"

„Als ich das Haus verlassen habe, waren nur noch sie und unsere Haushälterin hier. Aber Sofia dürfte schon längst gegangen sein."

„Gab es möglicherweise einen Streit zwischen ihrer Tochter und der Haushälterin?"

„Nein. Dafür gibt es keinen Anlass, das kann ich mir nicht vorstellen. Wir haben vor der Haustür eine Überwachungskamera. Auf den Aufnahmen können wir nachsehen, ob noch jemand hier war. Ich kann sie Ihnen zur Verfügung stellen."

Kenai nahm sein Smartphone und verband sich mit dem Server, auf dem die Aufnahmen der Überwachungskamera gespeichert waren. Nach kurzem Suchen fand er die Aufnahme vom richtigen Zeitraum. Er drehte das Smartphone so, dass der Polizist mit auf das Display schauen konnte, und spielte die Aufnahme ab.

Auf dem Video sah man zuerst, wie Michael auf die Haustür zuging. Gleich darauf ging die Tür auf. Sofia guckte überrascht, ließ ihn dann aber ins Haus.

Wir haben vergessen, ihr zu sagen, dass er hier nicht mehr reindarf!, fiel Kenai auf. Die Erkenntnis traf Kenai wie ein Schlag. Ich hätte daran denken müssen!

Sofia machte von draußen die Haustür zu und ging eilig fort.

Wenige Minuten später ging die Haustür wieder auf. Michael erschien im Türrahmen und wirkte verwirrt. Er nahm sich nicht die Zeit die Tür zu schließen, sondern sprintete heraus und war schnell aus dem Blickwinkel der Kamera verschwunden.

Kenai stoppte das Video. Jede Faser seines Körpers begann sich anzuspannen. Er glaubte jetzt, dass Michael seine Tochter die Treppe hinuntergestoßen hatte. Welchen anderen Grund sollte es geben, dass er so eilig das Haus verlassen hat?

„Darf ich mich drinnen kurz umsehen? Vielleicht gibt es dort weitere Hinweise", sagte der Polizist, nachdem das Video gestoppt hatte.

„Sicher. Es gibt hinten im Haus eine zweite Treppe nach oben, so können Sie sich umsehen, ohne den Sanitätern im Weg zu sein", antwortete Kenai. Er hoffte, dass der Polizist eine eindeutige Spur finden konnte.

Nach einigen Minuten kam der Polizist zurück. „Ich habe am oberen Treppenabsatz Knöpfe auf dem Boden gefunden, die von einer Bluse stammen könnten. Das ist ein Indiz dafür, dass es tatsächlich ein Handgemenge gab. Können Sie mir die Kontaktdaten von Ihrer Haushälterin und dem Mann geben? Wissen Sie, wo sie sich aufhalten könnten?", fragte der Polizist.

Kenai nickte und erzählte dem Mann alles, was er wusste.

„Aber ich glaube nicht, dass Sofia etwas damit zu tun hat. Warum sollte sie an Stellas Bluse herumreißen? Michael war der Letzte, der aus dem Haus kam. Er hat meiner Tochter vor ein paar Tagen schon einmal weh getan. Deswegen war sie zu Hause aus- und bei uns eingezogen. Sie hatte Schutz vor ihm gesucht", fügte er mit Nachdruck hinzu.

„Wir werden herausfinden, was passiert ist", sagte der Polizist knapp und verabschiedete sich.

Zusammen mit seinem Kollegen stieg er wieder in sein Auto und fuhr davon.

Die Reaktion des Polizisten frustrierte Kenai. Für ihn war es eindeutig, wer als Erster befragt werden musste. Aber er hatte den Eindruck, dass der Beamte sich lieber auf die ältere Frau einschoss. Sie war vermutlich einfacher zu fassen und leichter einzuschüchtern.

Er seufzte und warf einen Blick zur Haustür. Die Sanitäter waren immer noch mit Stella beschäftigt.

Als sich Kenai wieder zur Straße drehte, sah er, dass Susan und Antony inzwischen angekommen waren. Sie stiegen gerade aus dem Auto aus.

Susan hatte die Augen weit aufgerissen und jede Farbe war aus ihrem Gesicht entwichen, als er auf sie zuging.

Er nahm sie und seinen Enkelsohn in den Arm.

„Ich habe Stella vorhin bewusstlos auf dem Boden gefunden. Sie muss die Treppe heruntergestürzt sein. Die Sanitäter kümmern sich gerade um sie."

„Wie geht es ihr jetzt? Können sie ihr helfen?", drängte Susan.

„Ich weiß es nicht. Sie können ihr bestimmt helfen. Sie tun sicher alles, was sie können", antwortete Kenai. Er versuchte, nicht zu kraftlos zu wirken, denn der Rest seiner Familie brauchte jetzt seinen Trost.

Susan drückte ihren Kopf an seine Brust und legte einen Arm um Antony.

„Es wird bestimmt alles gut werden", flüsterte Kenai in ihr Haar und kämpfte insgeheim mit seiner Mischung aus Angst und Zorn.

Endlich kamen die Sanitäter mit der Trage aus dem Haus. Stella war darauf fest verschnürt. Einer der beiden pumpte weiterhin stetig Luft in ihre Lungen. Sie war an unterschiedlichen mobilen Messgeräten angeschlossen und lag blass und leblos da.

Einen Augenblick lang erinnerte sich Kenai daran zurück, wie es war, wenn sie als kleines Mädchen hinfiel. Es kam vor, dass sie unachtsam losrannte und plötzlich über einen Stein oder eine Wurzel stolperte, und der Länge nach hinfiel. Manchmal musste man ihr aufhelfen und sie trösten. Oft genug rappelte sie sich einfach auf, sagte „Nichts passiert!", lächelte wieder und machte weiter.

Jetzt hoffte ein Teil von Kenai, dass Stella sich einfach aufrichten könnte, um mit einem Lächeln wieder aufzustehen und allen zu versichern, dass es ihr gut ging.

Doch er wusste, dass dies nicht passieren würde.

„Wir haben sie jetzt für den Transport stabilisieren können", erklärte der ältere Sanitäter, nachdem sie die Trage in den Rettungswagen geschoben hatten.

„Jetzt bringen wir sie in die Klinik und behandeln sie dort weiter."

„Wird sie wieder gesund werden?", fragte Susan.

„Wir tun, was wir können Ma'am. Aber wir können erst sicher Auskunft geben, wenn wir sie näher untersucht haben", antwortete der Sanitäter vorsichtig.

„Ich danke Ihnen", sagte Kenai höflich.

Der Sanitäter nickte und eilte in den Rettungswagen, den er von innen verschloss. Sein Kollege saß schon längst auf dem Fahrersitz und fuhr sofort los.

„Ich will ihr hinterherfahren", sagte Susan entschlossen.

„Ja, das machen wir", antwortete Kenai ohne zu Zögern. „Setzt euch schonmal ins Auto. Ich fahre."

Er zog die Haustür zu und schloss ab, bevor er sich zu Susan und Antony ins Auto setzte.

Während der Fahrt musste Kenai den Tacho gut im Blick behalten, um nicht zu rasen. Den Rest der Familie zu gefährden würde Stella nicht helfen.

Im Krankenhaus wurden die drei in einen Wartebereich geführt. Eine Schwester erklärte ihnen, dass Stella gerade im OP sei. Sie hatte Verletzungen, die dringend behandelt werden mussten, und es war schwer einzuschätzen, wie lange dies dauern würde.

Sie saßen lange da und hielten sich einfach nur in den Armen. Keiner der drei wusste etwas Passendes zu sagen. Jedes Mal, wenn sich auf dem Flur eine Tür öffnete, sahen sie hoffnungsvoll hin, doch die Person, die in den Flur kam, lief immer an ihnen vorbei.

In Kenai stauten sich Wut und Verzweiflung inzwischen schmerzhaft an. Er hielt es kaum noch aus, dazusitzen und nichts tun zu können.

Estelle kam irgendwann mit einem sorgenvollen Blick in den Wartebereich.

„Hallo! Ich habe gehört, dass Stella hier ist. Kann ich irgendwas für euch tun?", fragte Stellas beste Kollegin.

„Hallo Estelle. Kannst du uns sagen, wie es ihr geht?", fragte Susan.

Mit einem leisen Seufzer setzte Estelle sich gegenüber den Hammonds hin.

„Ich kann euch im Moment noch nichts Genaues sagen. Sie hat mehrere Knochenbrüche und ein paar Blutungen, die jetzt gerade versorgt werden. Es sind wirklich gute Leute, die heute im OP Dienst haben und sie tun ihr bestes."

„Da ist noch etwas, oder?", hakte Kenai vorsichtig nach.

Estelle zögerte und schluckte, bevor sie antwortete. „Die problematischste Verletzung ist die an ihrem Kopf. Niemand wird zu diesem Zeitpunkt sagen können, wann sie wieder aufwacht. Es könnte ein langer Weg für sie werden. Aber wir sind für sie da."

Kenai sah in Susans kummervolle Augen. Er blickte dann zwischen Estelle und Antony hin und her.

„Estelle, kannst du uns zusammen mit Antony einen Kaffee und eine heiße Schokolade holen?"

Estelle verstand, dass er mit seiner Frau kurz alleine sprechen wollte, ohne auf die Kinderohren Rücksicht nehmen zu müssen. Sie stand auf und reichte Antony die Hand, um mit ihm im Gang zu verschwinden.

„Du kannst nicht mehr stillsitzen, oder? Was hast du vor?", fragte Susan Kenai.

„Ich will ihn suchen."

„Michael?"

„Ja. Auf der Überwachungskamera war zu sehen, dass er das Haus betreten und wenig später verlassen hat. Er hat die Tür offen gelassen, so wie ich sie dann vorgefunden habe. Ich befürchte aber, dass die Polizei lieber Sofia verdächtigen will. Daher muss er sich so schnell wie möglich der Polizei stellen. Es darf nicht sein, dass er damit davon kommt."

„Tu nichts Unüberlegtes. Ich will nicht, dass dir etwas passiert oder dass du in Schwierigkeiten gerätst."

„Susan, ich verspreche dir, dass ich aufpassen werde. Aber ich muss das einfach tun. Hier kann ich nichts ausrichten."

Sie umarmte ihn fest und sagte: „Komm gesund und an einem Stück zurück."

„Mache ich. Ruf mich bitte an, wenn es etwas Neues gibt."

Er eilte hinaus auf den Parkplatz, setze sich ins Auto und fuhr los.

Zuerst versuchte er, Michael in Stellas Wohnung zu finden. Doch dort war nur der Müll, den er hinterlassen hatte. Danach fuhr er jede Bar ab, die er kannte. Doch nirgends war eine Spur von dem Flüchtigen.

Zwischendurch bat Kenai Elane, ihn bei der Suche zu unterstützen, indem sie beispielsweise Michaels Kreditkartennutzung auswertete.

Spät in der Nacht rief Elane endlich zurück.

„Ich weiß jetzt, wo er sich aufhält. Leider wirst du keinen Zugang zu ihm haben", berichtete sie.

„Wo ist er?", wollte Kenai wissen.

„Er ist im Stützpunkt. Er ist dort aufgetaucht, nachdem er bei euch im Haus war. Er war volltrunken und hat herumrandaliert. Der Wachdienst hat ihn festgenommen und in eine Zelle gesperrt. Dort soll er zunächst bis morgen bleiben."

„Er hat das mit Absicht gemacht. Dieser verdammte Mistkerl versucht, sich vor mir zu verstecken, weil er ganz genau weiß, was er angestellt hat!", donnerte Kenai.

„Sie werden ihn nur eine Nacht dort lassen und ihn morgen an die Luft setzen. Dann kann sich die zivile Polizei um ihn kümmern. Bis dahin solltest du zurück zu deiner Frau fahren. Ihr braucht einander", entgegnete Elane in ihrer typischen emotionslosen Art.

„Du schlägst vor, dass ich einfach Däumchen drehe?"

„Auf deinem Tomahawk waren doch diese Schriftzeichen. Was bedeuten sie noch mal?", fragte Elane beiläufig.

„Du weißt es doch", knurrte Kenai.

„Nein, ich glaube, ich habe es vergessen."

„Ein Akt der Gnade kann mehr bewirken, als 1000-mal Rache zu nehmen", zitierte Kenai. „Aber wem soll es helfen, an ihm Gnade walten zu lassen?"

„Dir", entgegnete Elane knapp. „Und deiner Familie", führte sie weiter aus. „Wenn du ihm nichts tust, bleibst du auf freiem Fuß, was Susan sicher gutheißen würde. Er ist es nicht wert, sich wegen ihm Ärger einzuhandeln."

Kenai fuhr sich erschöpft mit der Hand durchs Gesicht. „Du hast ein Stück weit recht", lenkte er ein. Er beendete das Telefonat und fuhr zurück in die Klinik, um weiter mit Susan und Antony zu warten.

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