84. Die Treppe

∞∞*Triggerwarnung: In diesem Kapitel werden körperliche und seelische Gewalt beschrieben.*∞∞

Stella hatte eine weitere Nacht kaum Schlaf gefunden. Sie träumte weiterhin von dem weißen Wolf und wie er sie hilfesuchend anblickte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Michael einfach so zurückgelassen hatte, obwohl er ihrer Meinung nach Hilfe benötigte. Sie war überzeugt davon, dass es das war, was ihre Träume ihr sagen wollten.

Trotzdem hörte sie auf den Rat ihrer Eltern und wartete darauf, dass Michael sich meldete. Er musste jetzt den ersten Schritt machen und um Verzeihung und Hilfe bitten.

In der Zwischenzeit wanderte Stellas Blick immer wieder zu ihrem Smartphone in der vergeblichen Hoffnung, irgendein Lebenszeichen von Michael bekommen zu haben.

Sie war erstaunt, wie detailliert ihre Träume inzwischen waren, und dass sie den Wolf plötzlich nicht mehr im Wald, sondern in einer fremden Stadt oder einer schäbigen Wohnung sah. Den Teil der Träume konnte sie nicht interpretieren. Sie erzählte niemandem davon, doch sie fand es auf seltsame Art dennoch wichtig, all die Details, die sie sah, festzuhalten. Deswegen hatte sie in der letzten Nacht viel Zeit damit verbracht, so viel wie möglich in einem Notizbuch aufzuschreiben. Nachdem sie es endlich weggelegt hatte, kreisten ihre Gedanken noch lange umher, bis der Schlaf sie letztlich einholen konnte.

Jetzt rüttelte jemand vorsichtig an ihrem Arm. Als sie die Augen langsam aufschlug, blickte sie in das aufgeweckte Gesicht ihres Sohnes.

„Guten Morgen, Mom!", begrüßte er sie.

Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und warf einen Blick auf den Wecker neben ihr: „Guten Morgen! Ist schon ganz schön spät und ich sollte aufstehen, oder?"

„Grandma will wissen, ob du auch Pancakes haben magst. Sie macht gerade welche."

Einerseits verspürte Stella in letzter Zeit nur wenig Appetit und sie hatte oft Angst, ihrem Magen zu viel zuzumuten. Doch andererseits, waren in ihren Augen die Pancakes ihrer Mutter die besten der Welt. Die Einzigen, die das vielleicht toppen konnten, waren die von ihrer Großmutter. Sie verstand nicht, warum sie so viel besser waren, denn sie selbst ging haargenau nach dem gleichen simplen Rezept vor.

„Pancakes von Grandma, das klingt gut."

„Sie hat auch was von der tollen Schokosoße da", ergänzte Antony freudestrahlend.

Er kann noch lächeln. Das ist ein gutes Zeichen, oder? Es war vermutlich doch richtig, hierher zu kommen.

Antony schien zu merken, dass Stella kurz in Gedanken war. Er guckte jetzt ernst und kuschelte sich vorsichtig in ihre Arme. „Du vermisst ihn, oder?", fragte er leise.

„Ja", gab sie zu und drückte ihn sanft an sich. „Aber ich habe keinen anderen Weg gesehen, um ihm zu zeigen, dass er so nicht weiter machen kann. Er wird das sicher bald verstehen und dann wird alles gut. Wie geht es dir damit?"

Der Junge zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Ich bin eigentlich gerne bei Grandpa und Grandma. Hier ist es schön."

„Ja, das ist es."

„Also, du nimmst auch einen Pancake", folgerte der Junge, nachdem sie Stellas Mutter schon rufen gehört hatten. Er kletterte vom Bett herunter und war gleich darauf aus dem Zimmer verschwunden.

Als Stella in der Küche ankam, war ihre Mutter noch dabei, die letzten Pancakes zu braten. Der Rest der Familie saß bereits am Esstisch und jemand hatte einen randvoll gefüllten Teller für Stella hingestellt.

„Mom, versuchst du mich zu mästen?", schmunzelte Stella.

„Ja. Du musst einfach mal ordentlich was essen, Kleines. Dein Körper braucht Nahrung. Wenn du aufgegessen hast, kannst du noch mehr haben."

Stella brauchte lange, aber am Ende hatte sie doch ihren Teller geleert. Die Pancakes waren zu gut, um Reste davon liegen zu lassen. Jetzt hoffte Stella, dass ihr Magen nicht gegen diese Mahlzeit rebellieren würde.

„Kenai, denk daran, dass du nachher zum Zahnarzt musst", sagte Stellas Mom.

Ihr Vater verzog das Gesicht und antwortete: „Hab ich nicht vergessen. Hoffentlich geht es nicht wieder so lange."

„Ich muss heute auch aus dem Haus und ein paar Besorgungen machen. Ich bringe Antony zur Schule und danach zum Training. Was hast du heute vor?"

Stella zuckte mit der Schulter: „Zu Estelle soll ich erst morgen wieder. Sie war beim Fädenziehen ziemlich zufrieden mit meiner Schulter. Vielleicht darf ich ab übermorgen wieder arbeiten."

Sie freute sich darauf zur Arbeit zurückzukehren. So könnte sie sich wieder nützlich machen und sich ein wenig von den Gedanken an ihren Mann ablenken. Außerdem vermisste sie ihre Kollegen.

Für Michaels Probleme galt es noch eine Lösung zu finden. Ihr war in den Sinn gekommen, dass ein Entzug in einer darauf spezialisierten Klinik vielleicht einen dauerhaften Erfolg bringen könnte. Sie wollte heute nach einer passenden Einrichtung recherchieren.

„Darf ich vielleicht einen eurer Computer nutzen? Und vielleicht kann ich zwischendurch die Wäsche machen."

„Du kannst meinen Computer benutzen", sagte ihr Dad. „Aber die Wäsche macht Sofia, wenn sie nachher kommt. Sie ist sonst beleidigt."

Stella mochte die Haushälterin ihrer Eltern. Sie hatten sie ursprünglich nur für die Zeiten engagiert, in denen sie selbst nicht zu Hause waren. Doch dann hatten sie sich entschieden, Sofia jede Woche einmal kommen zu lassen und ihr so ein regelmäßiges Gehalt zu ermöglichen, ohne sie zu beleidigen. Seither machte die Frau die Wäsche und bügelte Kenais Hemden. Je nach Bedarf half sie auch im Garten oder räumte die Küche auf.

Nach dem Frühstück verließen ihre Eltern und Antony bald das Haus.

Sofia war inzwischen da und wirbelte emsig im Haus umher. Stella hatte keine Chance, sich in den Haushalt einzumischen, daher zog sie sich schnell in das Arbeitszimmer ihres Vaters zurück.

Sie setzte sich auf den bequemen Schreibtischstuhl und lauschte einen Augenblick der Stille. Das Haus ihrer Eltern strahlte auf sie Geborgenheit und Sicherheit aus, auch wenn dieses Haus nicht dasjenige war, in welchem sie aufgewachsen war. Es musste an den Menschen liegen, die darin lebten. Stella war dankbar dafür, dass sich ihre Eltern immer noch so sehr um sie kümmerten.

Das Summen ihres Handys durchbrach die Stille. Hoffnungsvoll blickte sie sofort auf das Display. Es war nur der Newsletter eines Onlineversandhauses.

Er meldet sich nicht, stellte sie traurig fest. Vielleicht sollte ich ihn doch kontaktieren und den ersten Schritt machen? Aber erst muss ich eine Lösung für ihn haben. Etwas an das er sich halten soll, damit ich auch bei ihm bleiben kann.

Es verging eine ganze Weile, bis sie eine passende Klinik gefunden hatte. Sie schrieb die Kontaktdaten und alle wichtigen Fakten auf einem Notizzettel auf.

Gerade als sie zum Telefon greifen wollte, um dort anzurufen, klopfte Sofia am Türrahmen.

„Ich bin für heute fertig und komme dann nächste Woche wieder", verkündete die Haushälterin.

„Danke, Sofia. Haben Sie dieses Wochenende etwas vor?", machte Stella etwas Smalltalk.

„Ja", strahlte die ältere Frau. „Mein Sohn und seine Familie wollen mit mir dieses Wochenende in Orlando verbringen und in die Vergnügungsparks gehen. Meine Enkelin freut sich schon sehr darauf, die Prinzessinnen zu sehen."

„Das klingt toll. Ich wünsche Ihnen viel Spaß."

„Danke, den werde ich haben." Sie blickte auf ihre Armbanduhr. „Meine Güte! Ich habe die Zeit vergessen. Sie warten bestimmt schon auf mich! Haben Sie ein schönes Wochenende!", sagte Sofia und eilte davon.

Stella hörte, wie Sofia die Treppe herunterlief und die Haustür öffnete. Sie sprach kurz mit jemandem, der wohl gerade klingeln wollte, und rief eilig irgendwas, was Stella nicht verstand.

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, hatte Stella ein eigenartiges Gefühl. Sie stand auf und ging in den Flur, um nachzuschauen, wer das Haus eben betreten hat.

Mit einem finsteren Blick kam Michael die Treppe heraufgestürmt.

„Michael!", hauchte sie.

Er war inzwischen oben angekommen und hatte sich dicht vor sie gestellt.

„Was soll das, dass du einfach abhaust?", fuhr er sie an.

Sie konnte deutlich seine Fahne riechen, was Galle in ihr aufsteigen ließ.

„Das hatte ich dir in meinem Brief erklärt. Ich hatte gehofft, dass wir reden können, wenn du nüchtern bist. Das bist du jetzt gerade nicht. Bitte geh nach Hause und schlafe dich aus. Dann können wir morgen in Ruhe reden", versuchte sie ihn zu beruhigen.

„Damit du dich bis dahin mit deinem Steve vergnügen kannst?", knurrte er und packte sie am Handgelenk.

Sie versuchte, ihre Hand wegzuziehen. „Nein. Zwischen Steve und mir läuft nichts. Und er ist auch nicht hier. Ich will einfach nur in Ruhe mit dir reden, um gemeinsam eine Lösung zu finden."

„Eine Lösung wofür? Bin ich dir nicht mehr gut genug?"

„Du hast mir weh getan und das nicht das erste Mal. Das muss aufhören", versuchte sie ihren Standpunkt zu verteidigen.

Michael ergriff ihre Arme und zerrte sie herum, um sie an die Wand neben der Treppe zu pressen.

Er schob sein Knie zwischen ihre Beine und rückte so dicht an sie heran, dass sie sich kaum rühren konnte.

„Du gehörst mir. Und ich kann dir gerne jetzt sofort zeigen, dass wir uns auch amüsieren können."

Sie versuchte, sich aus seinem Griff heraus zu winden. Die Mischung aus Zorn und Gier in seinen Augen ließ Panik in ihr hochkochen.

„Bitte höre auf! Ich will ja zu dir zurückkommen, aber nicht so. Lass mich los und geh nach Hause!", flehte sie, während sich Tränen in ihre Augen drückten.

Er zerrte mit einer Hand an ihrer Bluse herum, bis die obersten Knöpfe auf den Boden prasselten.

Ihr gelang ein Schlag auf seine Nase, so dass er kurz aufkeuchen musste. Dennoch ließ er nicht von ihr ab und machte sich an ihrem Hosenbund zu schaffen.

Mit aller Kraft versuchte sie sich gegen seinen Griff zu stemmen, doch er nutzte sein Körpergewicht und seine Muskeln voll aus, um sie weiter an der Wand zu fixieren.

Endlich gelang ihr ein Tritt in seine Körpermitte, sodass er einen kurzen Moment locker ließ. Sie huschte zur Seite weg, doch er ergriff sie sofort wieder mit einer Hand am linken Arm. Durch den Ruck spürte sie ein Ziehen in der fast verheilten Schulter und keuchte auf.

Die verbrühte Haut an ihrer rechten Schulter brannte schmerzhaft, als sie versuchte, den Arm einzusetzen, um sich loszureißen. Sie biss die Zähne zusammen und holte aus. Ihre Faust traf seine Rippen. Doch der Schlag war nicht kräftig genug, um ihn aufzuhalten.

Als er versuchte, auch ihren zweiten Arm zu packen, schwang sie ihren Kopf nach vorne und traf mit ihrer Stirn seine Nase. Der Schmerz löste einen Reflex bei ihm aus und er ließ sie sofort los, um sich sein Gesicht zu halten.

Sie wollte einen Schritt nach hinten machen, um sich umdrehen und endgültig entkommen zu können. Doch ihr Fuß trat ins Leere.

Die Bewegung hatte ihr genug Schwung verliehen, sodass sie jetzt nach hinten fiel.

Sie riss die Augen weit auf und hoffte, dass Michael sie jetzt noch rechtzeitig packen würde. Gleichzeitig ruderte sie mit den Armen und versuchte, das Treppengeländer zu fassen zu bekommen, doch es rutschte ihr einfach aus den Händen.

Es passierte so schnell, dass sie es nicht schaffte, sich an die Lektionen aus dem Kampfsport zu erinnern, wie man sauber abrollt. Aber gleichzeitig kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, die in Zeitlupe an ihr vorbei glitt.

Jeder Aufprall presste etwas mehr Luft aus ihren Lungen und war begleitet von einem unheilvollen Geräusch.

Sie spürte keine Schmerzen, aber ihr Herz raste und sie hoffte, dass der Sturz gleich enden würde.

Endlich blieb sie am unteren Treppenabsatz liegen. Sie hatte nicht die Kraft, den Kopf mehr als ein paar Zentimeter zu bewegen. In ihren Ohren entstand ein Rauschen, das immer stärker wurde und alle anderen Geräusche um sie herum verschluckte. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund.

Michael trat in ihr Blickfeld und sah mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund auf sie herab.

Sie wollte die Hand nach ihm auszustrecken, doch sie wusste nicht, ob sie sich in die richtige Richtung bewegte.

„Bitte hilf mir", versuchte sie zu sagen, doch sie wusste nicht, ob die Worte ihre Lippen verlassen hatten und ob sie verständlich waren.

Einerseits spürte sie den harten kalten Boden unter sich, andererseits fühlte es sich immer noch so an, als würde ihr Fall andauern.

Nachdem Michael einen Moment regungslos dagestanden war, drehte er sich hastig um und lief zur Haustür. Er öffnete sie und eilte hindurch, ohne sie wieder richtig zu schließen.

Er wird jetzt Hilfe holen, oder? Was soll er sonst tun? Ich muss versuchen, bis dahin wach zu bleiben, dachte sie, doch ihr Körper schien aufgeben zu wollen.

Sie war machtlos gegen ihre schweren Augenlider und den Schatten, der ihr Blickfeld immer weiter einschränkte, bis sie schließlich völlig von der Dunkelheit verschlungen wurde.

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