82. Die Teetasse

∞∞*Triggerwarnung: In diesem Kapitel werden körperliche und seelische Gewalt beschrieben.*∞∞

Nach ihrer Ankunft in Cape Canaveral hatte Stella zunächst eine Weile bei ihren Eltern verbracht. Als sich schließlich der Abend näherte, brachte ihr Vater sie und Antony zu ihrer Wohnung.

„Und du bist sicher, dass du alleine zurechtkommst, solange dein Arm noch in dieser Schlinge ist?", sorgte sich ihr Dad, als sie aus dem Auto aussteigen wollte.

„Ja Dad, das wird schon klappen. Ich bin ja nicht allein zu Hause", versicherte sie ihm.

„Also gut, melde dich jederzeit, wenn du etwas brauchst. Wir sind beide erreichbar."

„Danke Dad! Gute Nacht!", sagte sie, bevor sie den Wagen verließ und mit Antony in das Haus ging.

Ihre Eltern hatten ihr erzählt, dass Michael anscheinend jeden Tag spät Dienst hatte und deswegen erst in der Nacht heimkam. Daher hatten sie auch die meiste Zeit auf Antony aufgepasst, wenn er nicht in der Schule war.

Stella stellte sich darauf ein, dass die Wohnung vernachlässigt aussehen würde, weil sie nicht glaubte, dass Michael etwas aufgeräumt hatte.

Nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte, bestätigte der erste Blick in die Wohnung ihren Verdacht. Es war sogar noch schlimmer als befürchtet.

Auf dem Wohnzimmertisch stapelten sich leere Chipstüten und Verpackungen verschiedener Lieferdienste. Daneben kullerten leere Flaschen umher. In der Luft hing ein Mief, der sich aus dem herumliegenden Müll und der dreckigen Wäsche auf dem Boden zusammen setzte.

Sie seufzte leise und sah dann in das fragende Gesicht ihres Sohnes. „Also gut, das kriegen wir bald wieder hin. Machst du schonmal die Terrassentür auf? Dann kommt ein wenig frische Luft herein."

Vorsichtig schlüpfte sie aus ihrer Armschlinge heraus, damit sie beide Hände voll einsetzen konnte.

Aus der Küche holte sie einen Müllbeutel und schaufelte alles hinein, was nicht gewaschen und wieder benutzt werden konnte.

„Was darf ich machen?", fragte Antony hilfsbereit.

Sie überlegte kurz. „Du kannst aus der Waschküche den Wäschekorb holen."

Der Junge nickte und lief los. Nach ein paar Sekunden kam er mit dem Korb zurück und half ihr dabei, die Wäsche darin zu sammeln.

Gemeinsam brauchten sie eine Weile, bis das Chaos halbwegs beseitigt war.

Für Antony war es inzwischen höchste Zeit, ins Bett zu gehen, und auch Stella sehnte sich jetzt nach Schlaf.

In dieser Nacht tauchte Michael nicht mehr im Schlafzimmer auf. Sie fand ihn am nächsten Morgen schlafend vor dem eingeschalteten Fernseher im Wohnzimmer.

Sie ging leise an ihm vorbei und machte Frühstück. Antony kam kurze Zeit später in die Küche geschlichen und aß zusammen mit ihr eine Kleinigkeit, bevor sie ihn zur Schule brachte.

Auf dem Rückweg von der Schule fuhr Stella zur Klinik, um Estelle den Arztbrief von Dr. Goodman zu geben und sich ihre Schulter ansehen zu lassen.

„Hmm, immerhin hat diese Eisenstange dein Tattoo verfehlt. Es ist noch ganz", kommentierte Estelle die Wunden.

„Ja, das wäre sonst schade gewesen."

„Und die Wunden verheilen gut. Ich kann dir schon in den nächsten Tagen die Fäden ziehen."

„Das ist gut."

„Bis dahin schreibe ich dich krank."

„Aber ich kann meinen Arm schon wieder voll einsetzen", protestierte Stella.

„Du meinst den Arm, der eigentlich noch in einer Schlinge ruhen müsste?", bemerkte Estelle streng.

„Der Haushalt macht sich nun mal einfacher mit zwei Händen", antwortete Stella kleinlaut.

„Und du meinst nicht, dass Michael dir mal zur Hand gehen könnte?"

„Nein, er hat anscheinend im Moment immer spät Dienst und schläft gleich ein, wenn er nach Hause kommt."

„Du würdest es mir doch sagen, wenn du Probleme mit ihm hast, oder?"

„Ich habe keine Probleme mit ihm."

„Okay, jetzt ist deine Nase ein gutes Stück länger", sagte Estelle mit einem sorgenvollen Kopfschütteln. „Ich weiß, dass er zwar spät Dienst hat, aber auch nicht erst mitten in der Nacht fertig ist. Er treibt sich danach noch wo anders herum."

„Das wird er mir ja dann vielleicht nachher noch erzählen, wenn er wach ist."

„Na wenn du das glaubst. Aber du kannst es mir erzählen, wenn du Hilfe brauchst. Jetzt schreibe ich dir erstmal deinen nächsten Termin auf. Spätestens dann sehen wir uns."

„Danke, Estelle", sagte Stella leise, bevor sie den Terminzettel entgegennahm und sich verabschiedete.

Als Stella nach Hause kam, war Michael vom Sofa aufgestanden. Sie machte sich daran, auch den Rest der Wohnung zu putzen. Sie war gerade dabei die Spülmaschine auszuräumen, als Michael mit blutunterlaufenen Augen hereinkam und sie verwundert ansah.

„Du bist ja wieder da", sagte er mit einer kratzigen Stimme.

„Ja, ich wurde gestern entlassen. Happy war so freundlich, mich heimzufliegen. Dad hat mich dann vom Flughafen abgeholt", erklärte sie und ging auf ihn zu, um ihn liebevoll zu umarmen.

Er gab ihr einen kurzen Kuss auf die Wange und entzog sich dann ihrer Umarmung.

„Ich muss gleich zum Dienst. Wir können später noch reden."

„Alles klar. Lass es nicht so spät werden. Ich koche heute Abend für uns."

Am Abend näherte er sich von hinten, als sie nach dem Essen dabei war, das Geschirr aufzuräumen. Er hielt sie an den Hüften fest und rieb seine Mitte an ihrem Po.

„Lass das Geschirr stehen und komm mit ins Bett!", forderte er.

Sie entzog sich seinem Griff und drehte sich zu ihm um. „Michael, ich glaube, in der Richtung läuft bei mir heute noch nichts. Ich bin ziemlich kaputt und möchte einfach nur schlafen", sagte sie sanft.

Er schnaubte verächtlich und brummte: „Dann lege ich mich halt auch schlafen." Er ließ sie ohne weitere Worte in der Küche stehen.

Als sie ins Schlafzimmer kam, lag er schon schnarchend da. Sie versuchte, mit ihm zu kuscheln, doch es fühlte sich nicht so an, wie sie es sich erhofft hatte. Es fühlte sich an, als wäre er ein Fremder. Nachdem sie eine Zeit lang unruhig neben ihn geschlafen hatte, beschloss sie, im Arbeitszimmer weiter zu schlafen, um ihn nicht zu stören.

Der nächste Tag verlief zunächst ähnlich, doch Michael kam diese Nacht nicht heim. In dieser Nacht machte Stella kaum ein Auge zu, weil sie sich um ihn sorgte und keine Ahnung hatte, wo er gerade war.

Am darauffolgenden Tag hatte Stella Antony gerade zur Schule gebracht und war jetzt in der Küche. Sie hatte den Teekessel gefüllt und wartete darauf, dass das Wasser heiß wurde, als Michael zur Tür hereinkam.

„Michael, du bist wieder da", begrüßte sie ihn.

„Ja. Was machst du?", lallte er. Als er näher kam, roch sie die Fahne, die er mit sich herum trug. Er schien die Nacht durchgemacht zu haben, aber Stella entschied sich, dies nicht weiter zu kommentieren.

„Einen Tee. Willst du auch einen?", fragte sie und nahm den pfeifenden Kessel vom Herd. Sie füllte eine Tasse mit der heißen Flüssigkeit und legte einen Teebeutel hinein.

Michael nutzte die Gelegenheit, um sie zwischen sich und dem Küchenschrank einzuklemmen. „Ich will keinen Tee. Rate, was ich stattdessen will. Du warst so lange weg. Das bist du mir jetzt schuldig", brummte er in ihr Ohr.

„Michael, bitte nicht jetzt und hier."

Er drückte sie noch fester an die Theke und packte ihre Arme, um ihren Oberkörper nach vorne zu drücken.

Der feste Griff verursachte einen stechenden Schmerz in ihrer linken Schulter.

Sie keuchte schmerzerfüllt auf. „Bitte lass mich los. Du tust mir weh", flehte sie, während er mit seiner rechten Hand gerade an ihrem Hosenbund herumriss und mit der anderen Hand immer noch ihren linken Arm festklammerte.

„Ach, ist dein Arm etwa immer noch verletzt? Wie lange willst du das noch auskosten, wenn es überhaupt wahr ist?", fragte er mit einem gefährlichen Unterton, ließ aber locker.

Stella klammerte sich zitternd an den Küchenschrank und drehte sich halb zu ihm um, um ihm in die Augen blicken zu können. „Es ist wahr. Ich kann dir den Polizeibericht und den Arztbrief zeigen, wenn du mir nicht glaubst."

In seinen Augen fehlte jede Spur von Liebe. Stattdessen schlich sich jetzt ein unbekanntes Funkeln hinein, welches ihr Angst machte. Sie glaubte, den Mann vor ihr nicht mehr wieder zu erkennen. Die einzigen Regungen, die sie aus seinem Blick herauslas, waren Zorn und Enttäuschung.

Verachtet er mich so sehr? Kann er mir immer noch nicht verzeihen, dass ich damals nach der Party die Nacht bei Steve verbracht habe? Er müsste mich doch eigentlich gut genug kennen. Oder hat der Alkohol den Mann, den ich kannte, bereits vollständig ausgelöscht?

„Ich weiß was, was dich von deiner linken Schulter ablenkt", sagte er plötzlich, griff nach Stellas Tasse und schüttete den Inhalt über ihre rechte Schulter.

Die Hitze ließ sie aufschreien. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an und war zunächst wie gelähmt.

„Wenn du dich wieder eingekriegt hast, findest du mich im Schlafzimmer", knurrte er und ließ sie zurück.

Ihr Herz pochte so heftig in ihrem Brustkorb, dass es weh tat. Tränen schossen in ihre Augen und ließen sich nicht aufhalten. Sie rang nach Luft und ließ sich am Küchenschrank entlang auf den Boden sinken.

Sie hoffte, dass der brennende Schmerz nachlassen würde, doch es wurde nicht von alleine besser.

Ich muss hier weg!, war der erste greifbare Gedanke, den sie wieder fassen konnte. Ab dem Moment konnte sie die Schmerzen an ihren Schultern endlich ausblenden.

Hastig holte sie aus der Waschküche zwei Reisetaschen. Mit einer eilte sie in Antonys Zimmer und stopfte alles hinein, was der Junge in den nächsten Tagen brauchen könnte. Die zweite ließ sie vor der Schlafzimmertür liegen und schlich sich an dem schnarchenden Betrunkenen vorbei, um auch sich selbst das Nötigste zusammen zu sammeln.

In der Küche schrieb sie schnell noch einen kurzen Brief. Darin erklärte sie Michael, dass sie jetzt ihre Drohung wahr machte und zu ihren Eltern ging. Sie bat ihn, sich zu melden, wenn er wieder nüchtern und bereit zu reden war. Den Zettel ließ sie gut sichtbar auf dem Küchentisch liegen.

Mit den Taschen eilte sie dann hinaus ins Auto. Beim Einsteigen durchfuhren sie wieder die Schmerzen. Sie klammerte sich am Lenkrad fest und versuchte, sich zu beruhigen.

Wie ferngesteuert startete sie schließlich den Wagen und fuhr los. Ihr Weg führte sie zur Klinik, wo sie versuchte, möglichst unauffällig in ihre Praxis zu huschen.

„Hey Stella, schön dich zu sehen!", begrüßte sie Rachel, die am Empfang saß.

„Hi Rachel. Ist Estelle da?"

„Ja, sie ist gerade mit einem Patienten im Behandlungsraum."

Stella warf einen verstohlenen Blick in den Wartebereich. „Ist heute viel los?"

„Nein, es ist heute ziemlich entspannt."

„In welchem Raum ist Estelle?"

„In Zimmer eins."

„Wenn sie fertig ist und Zeit hat, kannst du ihr dann sagen, dass ich in Zimmer zwei warte?"

„Ja mache ich. Brauchst du bis dahin irgendwas? Kann ich dir schonmal helfen?"

„Nein, alles gut", sagte Stella und ging dann in das Zimmer.

***

Estelle hatte gerade ihren Patienten verabschiedet, als Rachel sich an sie wandte.

„Stella ist hier. Sie wartet in Zimmer zwei auf dich."

„Hat sie gesagt, was ihr fehlt?"

„Sie hat behauptet, dass alles gut sei. Aber da stimmt was nicht."

Estelle nickte und ging in das Behandlungszimmer. Stella saß auf der Liege und starrte auf einen Punkt auf dem Boden. Mit beiden Händen krallte sie sich an den Rand der Liege fest, so als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.

Der Mistkerl hat was angestellt, oder?, dachte Estelle. Sie versuchte, ein aufmunterndes Lächeln aufzusetzen, und sagte: „Hey Süße, erzählst du mir, was los ist?"

Stella hob ihren Blick und ließ ihre Mundwinkel kurz nach oben zucken. „Ist nichts Schlimmes. Nur ein kleiner Unfall."

„Was?"

Stella schob sich ihre Bluse von der rechten Schulter und drehte sich so, dass Estelle die Rückseite sehen konnte. Die gerötete Haut leuchtete ihr entgegen.

„Was ist passiert?", fragte sie, als sie die Stelle begutachtete.

„Michael ist mit einer Tasse Tee gestolpert. Er war gerade frisch aufgebrüht."

Gestolpert? Er soll hoffen, dass niemand mit der Faust voran in sein Gesicht stolpert!, dachte Estelle, verkniff es sich aber es laut auszusprechen. Es brach ihr das Herz ihre Freundin mit geröteten Augen und einer weiteren Verletzung vor sich zu sehen.

Stella versuchte gerade noch krampfhaft, ihre Tränen zurückzuhalten. Behutsam umarmte Estelle sie, was dazu führte, dass sie völlig aufgelöst anfing zu schluchzen.

„Es ist schon gut. Wir bekommen das wieder hin. Jetzt hol erst mal ganz tief Luft und dann schauen wir uns die Schulter nochmal an", redete sie auf ihre Freundin ein.

Doch Stella kam von alleine nicht aus ihrem schockartigen Zustand heraus. Ihr Atem ging schnell und flach. Sie zitterte am ganzen Leib.

Estelle stand auf und holte aus dem Medikamentenschrank ein leichtes Beruhigungsmittel. Sie gab Stella eine der runden Pillen und ein Glas Wasser und drehte das Fläschchen, sodass sie den Aufdruck lesen konnte. „Damit du besser durchatmen kannst und wir gemeinsam überlegen können, wie es weitergeht."

Stella nickte still und nahm das Medikament.

Als sie ruhiger wurde, versorgte Estelle die Verbrühung und fragte: „Du wirst doch nicht einfach zu ihm nach Hause fahren, wenn wir hier fertig sind, oder?"

Stella schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde mit Antony zu meinen Eltern fahren und die Nacht bei ihnen verbringen, wenn sie es erlauben."

„Das machen sie bestimmt. Und das ist eine gute Idee. Aber ich finde, dass es keine gute Idee ist, wenn du heute noch selbst Auto fährst. Ich werde sie anrufen, damit sie dich abholen."

Stellas Mutter kam sehr bald, nachdem Estelle sie angerufen hatte, und stürmte besorgt zu ihrer Tochter. Sie nahm ihr Kind vorsichtig in den Arm, um sie ein wenig zu trösten.

„Antony ist noch in der Schule", sagte Stella leise, als sie im Begriff waren zu gehen.

„Dein Dad wird ihn nachher abholen. Jetzt bringe ich dich erstmal zu uns nach Hause", beruhigte sie ihre Tochter.

„Wie soll ich Antony erklären, warum wir diese Nacht so fluchtartig zu euch ziehen?"

„Das bekommen wir später gemeinsam hin. Wir reden in Ruhe miteinander und er wird es verstehen." Susan wandte sich an Estelle. „Danke Estelle."

„Kein Problem", antwortete sie und hob einen Zettel hoch. „Hier habe ich den nächsten Termin notiert. Und von dieser Salbe hier muss zweimal am Tag ein dünner Film auf die Verbrühung aufgetragen werden. Das wird die Heilung unterstützen."

Die beiden Hammond-Frauen bedankten sich noch einmal für die Hilfe und verabschiedeten sich.

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