80. Die Heilung
In ihrer dritten Nacht im Krankenhaus konnte Stella kaum einschlafen. Sie wusste nicht, wie sie liegen soll, ohne dass ihre Schulter weh tat. Und wenn sie doch für einen kurzen Moment einschlief, wurde sie von Mrs. Lopez' Schnarchen wieder aufgeweckt.
Resigniert beschloss Stella, ihr inzwischen warm gewordenes Kühlpäckchen auszutauschen.
Leise machte sie sich auf den Weg über den Flur. Auf dem Rückweg sah sie durch das Sichtfenster neben Steves Tür, dass er einen sehr unruhigen Schlaf hatte.
Er muss wieder Albträume haben, dachte sie und ging vorsichtig in sein Zimmer hinein.
„Hey", flüsterte sie und hoffte, dass er davon schon aufwachen würde. Doch er war in seinem Traum noch zu tief versunken.
Sanft legte sie ihre Hand auf seinen Oberarm. Er zuckte leicht zusammen und wachte auf.
„Bitte entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken", sagte sie leise. „Aber ich hatte den Eindruck, dass du gerade schlecht träumst."
Er lächelte freundlich. „Es ist schon gut. Warum bist du um die Uhrzeit noch wach?", fragte er besorgt.
Sie hielt das frische Kühlpäckchen hoch. „Ich brauchte Nachschub. Und ehrlich gesagt ist Mrs. Lopez zwar eine liebe Frau, aber sie schnarcht wie ein Sägewerk."
Steve schmunzelte. „Das ist also das Geräusch, das ich die ganze Zeit höre." Er deutete auf den Stuhl. „Setz dich doch!"
Sie folgte seiner Bitte und setzte sich hin.
„Magst du mir erzählen, wovon du geträumt hast?"
„Ich wusste irgendwie, dass diese Frage jetzt kommt. Meine Träume sind im Moment nur etwas wirr. Nichts Besonderes. Vermutlich liege ich jetzt einfach schon zu lang am Stück im Bett."
„Dir macht die Sache mit Bucky zu schaffen", folgerte Stella.
„Ja", gab er zu. „Ich frage mich immer noch, wie das alles passieren konnte. Aber der einzige, der vielleicht die Antwort darauf noch irgendwo in seinem Kopf hat, ist er selbst. Wie konnte er zum Beispiel an HYDRA geraten? Wir haben die Schlucht so gut wir konnten nach ihm abgesucht. Wie haben sie es geschafft, so viel schneller zu sein? Und wird man diese Gehirnwäsche rückgängig machen können? Wird er wieder er selbst werden? Oder ist er vielleicht im Moment in Gefahr, weil HYDRA ihn verfolgt?"
„Das sind viele Fragen, die nur nach und nach und mit der Zeit beantwortet werden können", dachte sie laut nach. „Und ich kann es eigentlich kaum beurteilen, weil ich ihm nicht begegnet bin. Aber ich denke schon, dass er sich von der Gehirnwäsche lossagen kann. Traumatisch wird es trotzdem für ihn sein und er wird froh sein, einen guten Freund wie dich zu haben."
„Dazu muss er sich aber erstmal wieder richtig an mich erinnern. Und damit ich ihm helfen kann, muss ich ihn erst finden. Ich habe Angst, dass ich zu langsam damit bin und HYDRA mir zuvorkommt."
„Wenn er wirklich der Wintersoldier ist, wird er gut darin sein, unterzutauchen und sich nicht von ihnen aufspüren zu lassen. Was für Geschichten hast du ihm eigentlich bei eurer letzten Begegnung erzählt?"
Steve lächelte wehmütig und begann zuerst die Geschichte zu erzählten, die er auf dem Helicarrier auch Bucky erzählt hatte. Dann sprudelten nach und nach zahlreiche weitere Geschichten aus ihm heraus.
Stella hörte ihm gerne zu. Sie freute sich über den Hoffnungsschimmer, den er in seinen Augen hatte. Es schien auf sie überzuspringen.
Bucky ist ihm auch heute noch ein besserer Freund, als ich es je sein kann. Allein schon, weil sie so viel Zeit miteinander verbracht haben.
Sowohl Steve als auch Stella wurden nach einer Weile schläfrig. Stella lehnte sich automatisch ein wenig vor und legte ihren Kopf auf Steves Bett. In dieser Haltung schlief sie ein und auch Steve begann friedlich zu schlummern.
Zwischendurch kam die Nachtschwester in das Zimmer und wunderte sich kurz über den Anblick. Obwohl sie sich sehr vorsichtig durch das Zimmer bewegte, wachte Stella auf, war aber noch zu schläfrig, um den Stuhl zu verlassen.
„Eigentlich wären Sie in Ihrem Bett besser aufgehoben. Ich habe Sie schon gesucht", flüsterte die Schwester ermahnend. Dann zuckte sie mit der Schulter. „Aber zumindest schläft ihr Freund diese Nacht anscheinend friedlich durch. Es ist schwer, ihn zu wecken, wenn er gerade um sich schlägt." Sie maß bei beiden an der Stirn Fieber und notierte sich die Werte, bevor sie den Raum wieder verließ.
Stella legte ihren Kopf wieder ab, lauschte Steves friedlichem Atem und schlief bald wieder ein.
***
Als Steve am nächsten Morgen aufwachte, spürte er keine Schmerzen mehr. Er hörte Stellas ruhigen Atem und fühlte ihre Körperwärme an seiner Seite. Ihre sanfte Hand ruhte in seiner.
Er öffnete die Augen und sah, dass sie auf dem Stuhl neben dem Bett saß und den Kopf auf seinem Bett abgelegt hatte. Ihre Haare fielen wieder in ihren natürlichen Locken. Im Krankenhaus hatte sie wohl keine Gelegenheit, sie in ihre glatte Form zu zwingen.
Für einen kurzen Augenblick stellte Steve sich vor, wie sie aussähen, wenn sie auch ihre natürliche Haarfarbe wieder hätte, und verstand nicht, warum sie sich immer die unnötige Arbeit mit ihrer Frisur machte.
Dolores hat ihre Haare auch immer künstlich geglättet, ging Steve durch den Sinn. Bucky hat das auch immer unnötig gefunden und sie so gemocht, wie sie war. Er wird auch Stella mögen, wenn er sie kennenlernt, oder?
Sachte strich er ihr eine Locke zur Seite, die vor ihre Augen gefallen war. Dabei berührten seine Finger ihre Stirn.
Sie fühlt sich viel zu warm an, stellte er fest.
Durch die Berührung wachte Stella langsam auf. Sie richtete sich auf und verzog das Gesicht, als sie dabei ihre linke Schulter bewegte. Ihr Kühlpäckchen fiel schlaff zu Boden. Steve sah jetzt, dass sich ein roter Fleck durch ihren Verband und durch die Kleidung hindurch gedrückt hat.
„Guten Morgen! Wie geht es dir?", fragte er besorgt.
„Guten Morgen!", lächelte sie zurück und hob das Kühlpäckchen wieder auf. „Na ja, als hätte ich im Sitzen geschlafen. Es tut mir leid. Ich hatte eigentlich vor zurückzugehen, muss dann aber eingeschlafen sein. Ich hoffe, ich habe dich nicht gestört. Konntest du gut schlafen?"
„Ich fühle mich sogar ziemlich ausgeschlafen. Aber wie geht es deiner Schulter?"
Bevor Stella antworten konnte, kam eine Schwester ins Zimmer, um bei beiden noch einmal alle Werte zu prüfen. Sie schrieb die Daten ohne einen Kommentar in die Patientenakten.
„So Mr. Rogers, Sie bekommen dann bald Ihr Frühstück, damit Sie für die Visite gestärkt sind. Sie dürfen zwischen Kaffee und Tee wählen."
Steve wollte, dass Stella länger blieb, damit er noch ein wenig mit ihr reden konnte.
„Kann Mrs. Chain ihr Frühstück vielleicht auch hier bekommen?", schlug er vor und guckte zwischen den beiden Frauen hin und her.
„Nein, das geht nicht. Mrs. Chain darf gleich zwischen blauen Rauten und grünen Punkten wählen", antwortete die Schwester und hob zwei Patientenhemden hoch.
„Ich werde heute Morgen noch einmal operiert", erklärte Stella.
„Deiner Schulter geht es noch nicht gut", folgerte Steve.
„Ja, es ist aber nichts Wildes. Das schaffen die im Handumdrehen. Vielleicht sehen wir uns dann ja später noch", sagte sie und umarmte ihn vorsichtig.
„Das wäre schön."
Stella trottete müde der Schwester hinterher und verließ das Zimmer.
Nach dem Frühstück stand Steve auf. Er war zunächst vorsichtig, weil ihm am Tag zuvor noch schwindelig war. Schnell merkte er, dass er sich jedoch normal fühlte und wie gewohnt fortbewegen konnte. Er ging in das angrenzende Bad und wollte sein Gesicht vorsichtig waschen. Dabei fiel sein Blick in den Spiegel.
Meine Schwellungen sind komplett verschwunden, staunte er.
Er wusste, dass sein Körper schneller heilen konnten als bei normalen Menschen. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell geht.
Die Ärzte bei der Visite waren genauso erstaunt. Sie schickten ihn anschließend zwischen einem Untersuchungsraum und der Radiologie hin und her, um jede seiner Verletzungen mehrfach zu prüfen, nur um festzustellen, dass viele seiner Verletzungen über Nacht verschwunden waren.
„Wir können Sie tatsächlich schon heute entlassen", schloss Dr. Goodmann die Untersuchungen ab. „Warten Sie jedoch bitte noch in Ihrem Zimmer. Jemand wird Ihnen die Papiere bringen."
In seinem Zimmer holte Steve eine Reisetasche hervor, die Natasha ihm am Vortag gebracht hatte. Darin befanden sich eine Jeans und ein Pullover sowie Unterwäsche in seiner Größe. Er freute sich darüber, sein Patientenhemd gegen diese Kleidung tauschen zu können, auch wenn die Sachen wohl eher Natashas als seinem Geschmack entsprachen.
Ich muss nicht noch einen Tag herumliegen, freute er sich.
Während Steve auf seine Papiere wartete, kam Sam ins Zimmer und blieb mit großen Augen stehen.
„Wow, du siehst tausendmal besser aus, als gestern! Du kannst also nicht nur schnell laufen, sondern auch schnell heilen. Gib's zu, du hast dich gestern noch zurückgehalten, weil du es genossen hast, mal bedient zu werden", grinste Sam.
„Nein tatsächlich fühle ich mich erst seit heute Morgen richtig gut. Sie wollen mich sogar entlassen. Ich warte nur auf die Papiere."
„Die Schwestern wollen die bestimmt nur ungern ausstellen. Manche von ihnen haben wahrscheinlich schon eine Nummer gezogen, wer dir als erstes ein Schwammbad verpassen darf. Die werden jetzt enttäuscht sein."
„Sie werden es sicher überstehen", sagte Steve und lächelte verlegen.
„War Natasha gestern noch hier?", erkundigte Sam sich.
„Ja, sie war kurz nachdem du gegangen bist hier. Sie hat erzählt, dass sie heute zu einer Anhörung muss. Es wird sich jetzt nach und nach herausstellen, wie es mit S.H.I.E.L.D weitergeht."
„Es ist gut, dass du schon entlassen wirst. Der ... ähm ... Mann im Mantel will so bald wie möglich mit uns sprechen."
Sam vermied, es offenbar Furys Namen laut auszusprechen. Offiziell galt Fury noch als tot.
„Dann sollten wir uns bei ihm melden. Bevor wir gehen, will ich dir aber noch eine gute Freundin von mir vorstellen. Sie ist auch in diesem Krankenhaus. Du wirst sie sicher mögen."
Stella kann bestimmt einen weiteren guten Freund gebrauchen, oder? Und vielleicht kann Sam ja mit ihr über ihre Probleme mit Michael sprechen. Er scheint sich zwar gebessert zu haben, aber ich bezweifle, dass dies komplett ausgestanden ist.
„Gern. Ich laufe dir einfach nach."
Nachdem eine Schwester Steves Papiere gebracht hatte, führte Steve Sam zu Stellas Zimmer.
In dem Zimmer befand sich jedoch nur eine ältere Frau, die ihm irgendetwas auf Spanisch erzählte.
„Ihre Freundin ist wahrscheinlich noch im OP. Es ist ein anderer Fall dazwischen gekommen, deswegen hat sich einiges nach hinten verschoben", erklärte die Schwester, die Stella am Morgen weggebracht hatte, und ging gleich weiter.
„Ich würde gerne auf sie warten. Ich sollte mich noch von ihr verabschieden, bevor ich das Krankenhaus verlasse", sagte Steve an Sam gerichtet.
„Ja, klar. Das verstehe ich. Ruf mich an, sobald du eine Mitfahrgelegenheit brauchst. Ich muss leider noch ein paar Dinge erledigen, deswegen kann ich nicht mit dir warten. Schade, dass es nicht geklappt hat."
„Bestimmt ergibt sich irgendwann eine andere Gelegenheit. Wir sehen uns später."
Nachdem Sam gegangen war, setzte sich Steve in die Leseecke der Station und schnappte sich ein Buch, um sich die Zeit zu vertreiben.
Er wurde schon ein wenig unruhig, als die Schwester auf ihn zu kam und sagte: „Wir haben Ihre Freundin eben aus dem Aufwachraum geholt. Wenn Sie wollen, können Sie sie sehen."
„Danke", antwortete Steve erleichtert und ging sofort in Stellas Zimmer.
„Hallo!", sagte er leise, als er an Stellas Bett herantrat.
„Hallo Steve! Du läufst ja schon umher und hast Straßenklamotten an", stellte sie freudig fest.
„Ja, es geht mir heute viel besser und sie haben mich sogar entlassen. Aber was ist mit dir? Wie geht es deiner Schulter? Was war damit eigentlich passiert?"
„Ich hatte einen Unfall. Eine Eisenstange hat sich dadurch gebohrt und bei der ersten OP hatten sie anscheinend nicht alles davon entfernt. Aber jetzt sollte alles draußen sein", sagte sie zuversichtlich.
„Und wie geht es dir jetzt?"
„Noch ein wenig benommen, aber das ist normal. Es wird schon werden."
„Und wann darfst du raus?"
„Dr. Goodmann ist da sehr vorsichtig. Er findet es nicht gut, mich allein auf die Heimreise zu schicken. Aber es kann gerade auch niemand herkommen. Wie geht es bei dir weiter, jetzt wo du raus darfst?"
„Ich weiß es noch nicht genau. Es muss noch geklärt werden, wie es mit S.H.I.E.L.D weitergeht. Und welchen Einfluss das auf die Avengers hat. Tony ist im Moment in der Stadt. Er durfte herkommen, weil er bei Damage Control was zu sagen hat. In den nächsten Tagen wollen wir uns aber auch alle in New York treffen, um die Lage zu besprechen. Und dann ist da noch Bucky, den wir finden müssen. Ich hoffe sehr, dass wir bald eine Spur von ihm haben."
„Ich wünsche dir viel Glück dabei. Ich bin mir sicher, dass du ihn finden wirst."
Stellas zuversichtliches Lächeln wärmte Steves Herz. Er konnte nicht anders, als zurückzulächeln.
„Also gut, dann lasse ich dich jetzt mal ausruhen. Erhole dich gut. Und höre auf deinen Arzt. Vielleicht kommt Tony dich ja mal besuchen."
Stella lachte wehmütig. „Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Er wird dafür keine Zeit haben. Abgesehen von der Party haben wir uns in den letzten Jahren nicht sehr oft getroffen, warum sollte sich das jetzt ändern?"
„Jemand hat auf ihn eingeredet oder wird es zumindest noch tun."
„Rufst du mich an, wenn du zwischendurch Zeit hast?"
„Mache ich. Und wenn ich darf, komme ich dich bestimmt bald auch noch einmal besuchen."
„Gerne", freute sie sich.
Zum Abschied gab Steve ihr einen vorsichtigen Kuss auf die Stirn und machte sich dann auf den Weg nach draußen.
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