76. Der Stuhl
Stella wusste nicht, wie viele Stunden sie auf dem Bett in ihrer Zelle lag. Sie fühlte sich lange nicht imstande, sich zu bewegen, und sie wurde immer wieder von ihrer Erschöpfung übermannt.
Während sie schlief, holten sie nicht nur die Erinnerung an Moritz ein, sondern auch die Erinnerung an ihre Gefangenschaft in Afghanistan. In den etwas friedlicheren Träumen begegnete sie schließlich wieder dem weißen Wolf.
Sie zitterte, als sie aus ihrem letzten Traum aufwachte. Es war kühl im Raum und die OP-Decke, in die sie der Soldat eingehüllt hatte, bot nicht genug Wärme, um ihr Zittern aufhören zu lassen.
Zwischendurch schob ihr jemand ein Tablett mit Essen durch die Tür.
Ich sollte ein paar Bissen davon essen. Vielleicht kann ich so genug Kraft tanken, um hier raus zu kommen. Hier raus kommen ... der Judo-Wettkampf ist in den nächsten Tagen. Antony hat sich gefreut, dass ich auch daran teilnehmen wollte. Und ich wollte ihm zusehen. Er wird enttäuscht sein und es gibt nichts, womit ich das wieder gut machen kann.
Nachdem sie geradeso ein paar Löffel von der grauen Pampe auf dem Tablett zu sich genommen hatte, setzte sie sich auf das Bett. Sie wickelte die Decke fest um sich und starrte resigniert die Wand an.
Sie dachte daran zurück, wie ihre Freunde darauf reagiert hatten, als sie ihnen verkündet hatte, dass sie mit Moritz in einer Beziehung war. Ihr Mitbewohner Antonio hatte sie mehr als einmal vor ihm gewarnt, doch sie war blind genug gewesen, um das zu ignorieren. Und als sie auf einer Party Tony ein Bild von Moritz gezeigt hatte, hatte dieser ihn „Fürst der Finsternis" genannt, ohne ihm je begegnet zu sein.
Die beiden hatten Recht, ich hätte auf sie hören sollen. Und auch in diese Situation hier bin ich bestimmt nur durch meine eigene Dummheit geraten.
Gerade als Stella wieder ein wenig weggedämmert war, wurde die Tür ihrer Zelle geöffnet. Ein Wachmann kam herein und warf ihr ein Bündel Kleidung hin.
„Anziehen! Sofort!", befahl er.
Stella zögerte. Sie wollte nicht aus der Decke herausschlüpfen, so lange dieser Fremde vor ihr stand und sie ansah.
„Wenn Sie wieder rausgehen", forderte sie.
Er rollte mit den Augen: „Als hätte ich noch nie eine Frau in Unterwäsche gesehen ..."
„Haben Sie etwa den aktuellen Victorias Secret Katalog?", versuchte sie ihn zu provozieren. Das leichte Zittern in ihrer Stimme unterwanderte jedoch ihren Versuch, selbstsicher zu wirken.
Er seufzte genervt: „Also schön, Sie haben fünf Minuten. Ansonsten kann ich Sie auch so, wie Sie sind, mitnehmen."
Er verließ den kleinen Raum und ließ die Tür zurück ins Schloss fallen.
Stella sah sich die Kleidung an. Die Sachen ähnelten sehr denen, die sie bei ihrer Ankunft angehabt hatte.
Haben die das bewusst so gemacht oder ist dies ein Zufall? Da ich nichts Besonderes anhatte, sondern nur Basics von der Stange, kann es sehr gut ein Zufall sein, versuchte sie sich zu beruhigen. Doch irgendetwas planen sie auf jeden Fall.
Sie schlüpfte in die Kleidung hinein und wartete auf den Wachmann, der bald darauf die Tür wieder öffnete.
„Brav! Und jetzt mitkommen!"
„Wohin bringen Sie mich?"
„Das werden Sie schon noch sehen."
Er packte sie fest am Arm und führte sie die langen Korridore entlang. Ein Fahrstuhl brachte sie schließlich in ein anderes Stockwerk. Nach einem weiteren Korridor schob er sie durch eine Tür.
Der Raum war leicht abgedunkelt. Moritz und Dr. Gilbert standen vor dem einzigen Fenster und blickten interessiert hindurch.
Der Wachmann zwang Stella, sich ebenfalls vor das Fenster zu stellen und hindurch zu sehen.
Was sie erblickte, versetzte ihrem Herzen einen Stich. Der Metallarmige war auf einem Stuhl festgeschnallt. Ein seltsames Gerät war an seinem Kopf befestigt. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Als eine Art Welle seinen Körper durchlief, riss er aus Reflex an seinen Fesseln, doch sie hielten stand. Zwischen seinen Zähnen war ein Beißschutz fest eingeklemmt. Die Glasscheibe konnte seine Schmerzenslaute nicht vollständig abfangen. In der Nähe des Stuhls stand ein fremder Mann im Kittel und beobachtete eine Kontrolltafel.
Stella spürte Tränen aufsteigen. Ihr Atem beschleunigte sich.
„Was machen Sie mit ihm?", wollte sie wissen.
Moritz stellte sich dicht hinter sie und sprach direkt in ihr Ohr, sodass sie seinen Atem spüren konnte.
„Es ist deine Schuld. Du hast ihn verwirrt und jetzt ist es notwendig geworden ihn zu ... korrigieren." Er wandte sich an Dr. Gilbert: „Eine wirklich sehr spannende Methode, die hier zur Anwendung kommt."
„Ja, das stimmt. Sie ist zwar Jahrzehnte alt, aber es gibt immer noch nichts Effizienteres. Wir können damit ganz gezielt die Erinnerung an einen bestimmten Zeitraum entfernen. Oder, wie in seinem Fall, an ein ganzes Leben."
Stella riss sich aus dem Griff des Wachmanns los und überbrückte die letzten Zentimeter bis zum Fenster. Sie legte die Hände an das Glas und drängte: „Das könnt ihr nicht machen. Bitte hört auf damit."
„Warum denkst du, dass wir auf dich hören würden?", fragte Moritz amüsiert.
Sie drehte sich um und wollte auf Moritz losgehen. „Wer gibt euch das Recht, das hier mit anderen Menschen zu machen?"
Bevor sie Moritz erreicht hatte, wurde sie von dem Wachmann gepackt.
Mit aller Kraft versuchte sie sich gegen seinen Griff zu stemmen, doch durch die Tür kam ein zweiter Wachmann und half seinem Kollegen sie festzuhalten.
Ihre Tränen lösten sich jetzt und liefen ihre Wangen hinab. „Was soll ich tun, damit ihr aufhört?", flehte sie.
„Du hast uns nichts zu bieten", antwortete Moritz. „Sieh dich an – du bist einfach jämmerlich. Was schert es dich, was mit diesem Mann passiert?"
„Wir müssen den Impuls noch ein wenig verstärken. Aber dann dürfte es nicht mehr sehr lang gehen", informierte der fremde Arzt die Zuschauer über eine Gegensprechanlage.
Er drehte ein Rädchen an der Kontrolltafel und man sah dem Soldaten deutlich an, wie er von einer neuen, noch größeren Schmerzenswelle erfasst wurde.
„Nein!", protestierte Stella. „Hört auf damit!" Sie hätte wissen müssen, dass die Leute im Raum nicht auf ihr Flehen reagieren würden. Doch ihr Verstand hatte ausgesetzt und sie wollte nur noch dem gequälten Mann helfen. Sie sah nicht nur ihre einzige Hoffnung, hier herauszukommen schwinden. Sie konnte förmlich auch den Schmerz des Mannes spüren.
„Nein!", rief sie lauter.
Das Licht flackerte kurz auf, um von völliger Dunkelheit abgelöst zu werden. Nur wenige Sekunden später ging die Notbeleuchtung an.
Der Stuhl schien keine Impulse mehr an den Soldaten abzugeben und der Metallarmige war schlaff auf dem Stuhl zusammen gesackt. Sein Blick war leer nach vorne gerichtet.
Der fremde Mann im Kittel scheuchte ein paar Assistenten umher, bevor er seinen Arbeitsplatz verließ und in den Beobachtungsraum kam.
„Was ist los?", fragte Dr. Gilbert ihn.
„Ein Stromausfall. Meine Leute klären, wie das passieren konnte. Wir werden gleich fortfahren. Aber wir werden deutlich länger brauchen, bis die Prozedur abgeschlossen ist."
„Hat er denn nicht schon genug?", fragte Stella, doch alle ignorierten sie.
Der Fremde kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück und wenige Minuten später hatten seine Leute es geschafft, die Stromversorgung wieder herzustellen.
Die Prozedur wurde fortgesetzt, und Stella wollte am liebsten den Blick abwenden. Sie wollte nicht mehr in das gequälte Gesicht des Soldaten blicken müssen, besonders nicht, weil sie offenbar nichts dagegen unternehmen konnte.
Die Hilflosigkeit raubte ihr die Kraft und sie wäre auf dem Boden zusammen gesackt, doch die Wachmänner hielten sie weiter fest und zwangen sie, zuzusehen.
Mr. Pierce kam durch die Tür und beobachtete das Geschehen für einen Augenblick. Schließlich drückte er einen Knopf an der Gegensprechanlage und fragte missmutig: „Warum geht das so lange? Er muss so bald wie möglich einsatzbereit sein!"
„Sir, wir müssen sichergehen, dass die Prozedur auch vollständig abgeschlossen ist. Es kann noch ein paar Stunden dauern, bis es so weit ist, nachdem wir eben durch den Stromausfall unterbrochen wurden."
„Ich will ihre Ausflüchte nicht hören. Er muss sich in zwei Stunden im Triskelion einfinden. Ich brauche ihn in meiner Nähe, wenn wir das Projekt in seine Endphase bringen."
Der Mann im Kittel nickte gehorsam. „Ja, Sir, wir tun, was wir können. Aber ich muss Sie auf das Risiko hinweisen, dass er sich dann womöglich doch noch erinnert ..."
„Erledigen Sie einfach ihre Arbeit!", befahl Pierce und blickte dann Stella an. „Danach ist sie dran. Geben Sie ihr im Anschluss eine glaubwürdige Geschichte und setzen Sie sie aus. Sie ist uns im Moment noch nicht von Nutzen."
„Sir, ich halte es für keine gute Idee, sie gehen zu lassen", wandte Dr. Gilbert ein.
„Wir werden sie weiter beobachten", erklärte Pierce. „In dem Air Force Stützpunkt in Cape Canaveral gibt es einen neuen General, der sehr an einer Zusammenarbeit mit HYDRA interessiert ist. Er kann uns einen ersten Dienst tun, indem er sie für uns im Auge behält und Bericht erstattet. Er hat sogar angedeutet, dass seine Leute dabei sind, einen Weg zu finden, sie wirklich bei jedem ihrer Schritte zu überwachen und im Bedarfsfall die Kontrolle über sie zu übernehmen."
„Gut, dann werden wir uns darum kümmern, dass sie zu ihrer Familie zurückkommt."
Sie wollen mich wirklich nach Hause schicken? Aber sie wollen mir meine Erinnerung nehmen? Wie viel davon werden sie mir wegnehmen? Wird es mich verändern? Und was war das mit dem General?
Stellas Gedanken kreisten um diese Neuigkeit.
Wenn sie davon reden, dass sie ihm die Erinnerung an ein ganzes Leben genommen haben, dann ist es tatsächlich Bucky, oder? Wer sollte er sonst sein? Nur kann ich ihm nicht helfen. Wenn er auf Steve trifft, wird er wieder der kühle Soldat sein und Steve möglicherweise Schaden zufügen. Besonders weil Steve Skrupel haben wird, gegen seinen allerbesten Freund zu kämpfen, stellte sie entsetzt fest.
Nach einer Weile erklärte der Mann im Kittel zähneknirschend die Prozedur für beendet. Der Soldat wurde auf eine Liege geführt, wo er sitzen und sich ausruhen durfte.
Die Wachmänner zogen Stella in den Raum mit dem Stuhl.
Ich will nicht, dass sie an meinem Gehirn herumpfuschen!
Sie konnte sich losreißen und mit dem Ellenbogen dem Wachmann zu ihrer Linken einen Stoß in die Rippen verpassen.
Dem Schlag des anderen konnte sie ausweichen, indem sie hinter seinen Kollegen huschte.
Dieser hatte sich wieder gefangen, wirbelte herum und versuchte, sie zu ergreifen. Sie nutzte seinen Griff als Hebel und konnte seinem Kameraden einen Tritt gegen die Brust verpassen. Der reagierte und hielt ihren Fuß fest. Dadurch geriet sie ins Taumeln, konnte sich aber nach einer Rolle rückwärts wieder aufrichten.
Der erste Wachmann hatte damit nicht gerechnet und seine Deckung vergessen.
Stella gelang es, an den Taser zu kommen, der an seinem Gürtel hing, und ihn auf den Wachmann abzufeuern. Er ging zu Boden und krümmte sich.
Der andere hatte jetzt seinen eigenen Taser in der Hand und wollte ihn auf Stella abfeuern, doch sie sprang rechtzeitig zur Seite. Sie versuchte, ihn zu erwischen, doch die Batterie des Tasers war bereits leer.
Sie warf ihm das nutzlose Stück Plastik an den Kopf und traf ihn knapp oberhalb des Auges.
„Soldat, kümmern Sie sich darum", hörte man Dr. Gilbert genervt sagen und augenblicklich wurde Stella von einem Metallarm gepackt.
Sie konnte sich aus seinem Griff nicht herauswinden, erst recht nicht, als er auch seinen anderen Arm hinzunahm.
Er hob sie ein wenig hoch, um sie auf den Stuhl setzen zu können, und hielt sie da fest.
Neue Tränen rannen ihre Wangen hinunter. „Bitte tu das nicht! Du kannst so viel Gutes bewirken, wenn du dich von ihnen lossagst! Hilf mir hier raus! Bitte!", schluchzte sie und suchte Blickkontakt mit ihm. Ihr Herz schlug schnell und so heftig, dass es schon fast weh tat.
Seine Augen waren kühl auf sie gerichtet. Nachdem der Mann im Kittel die Fesseln geschlossen hatte, ließ der Soldat endlich los. Er nahm einen Beißschutz vom Instrumententisch neben dem Stuhl und zwang Stella, ihn in den Mund zu nehmen. Danach setzte er sich wortlos auf seine Liege zurück und wartete auf seinen nächsten Befehl.
Der Mann im Kittel startete das Gerät und Stella hatte das Gefühl innerlich zu verbrennen. Es fühlte sich an, als würde ihre Haut von tausend Nadeln durchbohrt werden. Sie verlor die Kontrolle über ihre Bewegungen und stemmte sich instinktiv gegen ihre Fesseln. Doch was den Soldaten festhalten konnte, konnte von ihr nicht durchbrochen werden.
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