75. Das Wiedersehen

∞∞* Triggerwarnung: In diesem Kapitel werden körperliche und seelische *∞∞

∞∞* Gewalt angedeutet. *∞∞

Stella löste ihren Blick von den Augen des Soldaten und deutete auf das Tablett auf dem kleinen Tischchen in ihrer Zelle.

„Was ist das?"

„Frühstück", antwortete er knapp.

Tony hatte ihr in einer kniffligen Lage einmal geraten, einfach so zu tun, als ob „der Laden" ihr gehöre. Jetzt dachte sie über diesen Ratschlag nach.

Nein, diese Strategie, wird hier nicht aufgehen. Wenn ich hier die pikierte feine Dame spiele, wird dies keine Wirkung zeigen. Aber Tony würde jetzt trotzdem vorlaut werden. Das macht er immer, wenn er unsicher ist. Vielleicht kann ich auch ein bisschen so sein und kriege wenigstens heraus, was die noch von mir wollen.

„Und was ist, wenn ich keinen Hunger habe?", sagte sie und versuchte, das Zittern aus ihrer Stimme zu verbergen.

„Du hast 15 Minuten", sagte er.

„Bist du immer so wortkarg oder bist du einfach nur kein Morgenmensch?"

Das hätte von Tony sein können, oder?

Der Soldat blieb stumm stehen.

„Was passiert in 15 Minuten?"

„Ich bringe dich zurück in das Labor."

„Und dann?"

Er antwortete nicht.

„Hast du eigentlich auch einen Namen?", fragte sie weiter und beobachtete sein Gesicht genau.

Für einen winzigen Augenblick glaubte sie, eine unscheinbare Regung in seinen Augen zu sehen.

Eigenartig. Warum reagiert er so auf eine einfache Frage?

„Nein? Schön. Dann denke ich mir einen aus. Lass mal überlegen ..."

Sie setzte sich auf den Hocker, aß ein paar Bissen von dem Frühstück und musterte sein Gesicht. Sie ging in Gedanken ein paar Namen durch. Plötzlich kamen ihr weitere Bilder in den Sinn, denen der Mann vor ihr ähnlich sah.

Er sieht Steves Freund Bucky ähnlich! Wenn man sich die Haare ein wenig kürzer, den Bart weg und das Gesicht insgesamt etwas jünger und freundlicher vorstellt, ist die Ähnlichkeit verblüffend. Ist das Zufall? Oder hat Bucky tatsächlich durch irgendein Wunder ähnlich wie Steve überlebt?

Sie versuchte, sich an die Informationstafel aus der Captain America-Ausstellung zurückzuerinnern.

Bucky ist damals in den Alpen in eine Schlucht gestürzt, aber hat man seinen Leichnam geborgen? Steve hat irgendwann einmal erwähnt, dass er und ein paar Kameraden ihn gesucht, aber nicht gefunden haben. Aufgrund des Wetters und des Zeitdrucks waren sie dann bald gezwungen aufzugeben. Aber was wäre, wenn jemand anderes ihn gefunden hat?

Und wie war das mit der Gefangenschaft, aus der Steve Bucky befreit hatte? Er war von HYDRA gefangen gehalten und gefoltert worden. Was, wenn sie damals versucht haben einen eigenen Super Soldaten zu züchten und eben nicht ihre eigenen Leute dafür nehmen wollten? Und nachdem das Experiment geglückt war, haben sie an ihm eine extrem effiziente Gehirnwäsche durchgeführt.

Das ist eine ziemlich wilde Theorie, oder? Aber wenn sie wahr ist und ich ihn daran erinnern kann, wer er ist, dann können wir vielleicht gemeinsam fliehen.

„Ich werde dich Bucky nennen!", beschloss Stella.

Der Soldat blieb regungslos stehen, doch in seinem Blick war ein kurzes Zucken zu sehen.

„Okay, vermutlich müssten wir erstmal befreundet sein, damit ich dich so nennen darf. Wie wäre es dann mit James? Oder Buchanan? Oder Sergeant Barnes?"

Da war es wieder, das kleine Zucken in seinem Gesicht, welches man nur sah, wenn man wirklich genau hinsah.

Die Namen kommen ihm zumindest bekannt vor. Sollte ich mal versuchen, ihn auf eine alte Geschichte anzusprechen? Steve hat mir viele erzählt. Aber warum erinnere ich mich ausgerechnet jetzt an keine einzige?

Eine Geschichte fiel Stella dann doch ein: „Du hast 1942 den ersten Platz in einem Box-Wettkampf gemacht. Du warst stolz darauf und deine Freundin Dolores hat kopfschüttelnd deine Blessuren versorgt. Und Steve war damals tatsächlich noch deutlich kleiner als du."

Sein Kiefer spannte sich an und er verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein.

Entweder nerve ich ihn oder ich bin auf der richtigen Spur.

„Iss dein Frühstück auf", befahl er schließlich.

„Ist das meine letzte Mahlzeit?", provozierte sie ihn.

Er ignorierte die Frage.

Es könnte tatsächlich meine letzte Mahlzeit sein, oder? Sie werden mich nicht einfach herausspazieren lassen.

„Wer sind diese Leute hier? Und was haben sie mit mir vor?"

„Wir sind HYDRA", antwortete er knapp.

„Ah, ich verstehe. Man sagt dir nur das Nötigste. Du bist ihr Soldat, der vermutlich ihre Drecksarbeit macht und ansonsten nichts wissen braucht und die Klappe halten soll. Aber was versprichst du dir davon?"

„Ich diene einem guten Zweck. Iss jetzt auf!"

Er wird ein wenig ungeduldig. Und wenn er mich erst ins Labor gebracht hat, kann ich nicht mehr unter vier Augen mit ihm reden. Es muss eine Möglichkeit geben, ihn an seine Menschlichkeit zu erinnern.

Sie stand langsam von dem Hocker auf, stellte sich dicht vor dem Soldaten hin und beobachtete ihn einen Moment lang. Gleichzeitig spürte sie seinen Blick auf sich ruhen.

Er muss einfach Bucky sein. Auch wenn das hier ein sehr dünner Strohhalm ist, an den ich mich klammere, es muss einen Weg geben.

Ihr Blick wanderte von seinem Oberkörper zu seinen Lippen, die eine schmale Linie bildeten.

Würde eine Umarmung reichen, oder sollte ich noch einen Schritt weiter gehen? Das wäre sicher eine Geste, die er von HYDRA nicht kennt. Aber geht das zu weit? Darf ich diese Grenze überschreiten?

Ein Wachmann hämmerte an die Tür und erinnerte die beiden daran, dass man im Labor bereits wartete.

Ich muss das jetzt tun. Ich hoffe er und Michael werden mir das verzeihen!

Sie nahm sich allen Mut zusammen und überbrückte die restlichen Zentimeter zwischen ihr und dem Metallarmigen. Sie legte ihre Hände auf seine Brust und streckte sich etwas, um ihn vorsichtig auf den Mund zu küssen.

Er packte sie an den Oberarmen und drückte sie an die Wand. Er hielt sie fest genug, dass sie ahnen konnte, dass in seinen Muskeln die gleiche Stärke ruhte, wie in Steves. In seinen Augen tobte ein wilder Sturm und sein Kiefer war angespannt.

„Lass das!", knurrte er.

Ihr Herz schlug schnell und ihre Lippen kribbelten. Sie fasste sich mit ihrer zittrigen Hand an den Mund und versuchte, ihre eigenen Gedanken zu ordnen. Die Verwirrung drückte Tränen in ihre Augen.

Es hat etwas in ihm ausgelöst. Aber ist es das, was ich wollte? Reicht es aus? Und was ist das, was es mit mir gerade gemacht hat?

Als der Wachmann erneut an die Tür klopfte, wurde der Blick des Soldaten wieder so kühl wie zuvor.

„Komm jetzt mit!", forderte er.

„Du bist Bucky, oder? Aber ich kann dir nicht helfen. Du brauchst einen viel stärkeren Trigger, der dich an deine Vergangenheit erinnert. Du musst deinem besten Freund begegnen und nicht einer wildfremden Frau", flüsterte sie resigniert.

Er ging nicht darauf ein, sondern packte sie und legte sie sich über die Schulter. Auf diese Weise trug er sie aus der Zelle hinaus, durch den Korridor und bis ins Labor.

Sie versuchte nicht, sich gegen seinen Griff zu wehren, denn ihr war klar, dass er zu stark für sie war.

Im Labor hatte Dr. Gilbert den Untersuchungstisch bereits in eine aufrechte Position gebracht. Der Metallarmige stellte Stella davor ab, drückte sie dagegen und hielt sie so lange fest, bis Dr. Gilbert die Fesseln durch einen Knopfdruck zuschnappen ließ.

„Also schön. Soldat, sagen Sie unserem Gast, dass er jetzt mit seinen Experimenten beginnen kann. Ich bin gespannt darauf, ob er zu einem Ergebnis kommt", sagte der Mann im Kittel.

Der Soldat nickte und verließ den Raum, durch eine Tür, die sich hinter Stella befand. Wenig später hörte sie erneut das Quietschen dieser Tür.

„Guten Morgen, Mr. Gilbert", hörte sie den Neuankömmling sagen.

Bei den Worten lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter. Sie hatte geglaubt, diesen Teil ihres Lebens hinter sich gelassen zu haben und diesen Mann nie wieder sehen zu müssen. Sie hatte die Erinnerung an ihn in eine Ecke weit hinten in ihrem Gedächtnis verdrängt und jetzt drückte jeder Fetzen davon wieder nach vorne.

„Moritz", sprach sie seinen Namen aus.

Er ging an ihr vorbei und schüttelte Dr. Gilbert die Hand.

„Guten Morgen, Herr von Rabenfels. Ich werde Ihnen heute assistieren", begrüßte Dr. Gilbert den Mann im dunklen Anzug.

„Gut, dann sollten wir keine Zeit verschwenden. HYDRA sieht das Gleiche in ihr, was ich mal in ihr sehen wollte. Es wird sich zeigen, ob sie immer noch eine Enttäuschung ist oder ob HYDRA mit ihr richtig liegt."

Moritz stellte sich vor Stella auf und musterte sie mit seinen hellgrauen Augen. Seine schwarz gefärbten Haare trug er kurz. Sein Gesicht hatte immer noch die gleiche edle Blässe wie früher und zeigte die ersten Falten. Er trug immer noch ein Parfum mit einer Patschuli-Note, die jetzt in Stellas Nase wehte und ihr Unwohlsein verstärkte.

„Dass sie hier ohne Oberbekleidung sein sollte, haben Sie wohl ignoriert", merkte Moritz missmutig an und griff nach einer Schere auf dem Instrumententisch. Routiniert schnitt er ihre Kleidung damit auf, bis sie nur noch ihre Unterwäsche am Leib hatte.

Stella bekam eine Gänsehaut. Sie wusste nicht, ob es an der kalten Luft oder an Moritz' kaltem Blick lag.

Er fuhr mit dem Finger über die Narben an ihrem Unterarm und sagte auf Deutsch: „So begegnet man sich wieder. Ich dachte schon, ich sei dich damals losgeworden, aber offensichtlich bist du sogar zum Sterben zu unfähig. Sag, waren deine Eltern damals stolz auf dich?"

Sie schluckte und nahm sich fest vor, seine Worte nicht auf sich wirken zu lassen. Doch seine fast hypnotische Art zu sprechen machte es ihr schwer. Er sprach jedes einzelne Wort sorgfältig in einem derart gestochenen Hochdeutsch aus, dass es künstlich klang. Stella wusste jedoch, dass Moritz aus einer Gegend kam, in der die meisten Menschen noch einen recht deutlichen Dialekt sprachen. Er wollte sich über alle anderen erhaben fühlen und brachte das auch durch seine Sprache zum Ausdruck.

Stella war mit ihm gegen Ende ihrer Zeit in Deutschland zusammen gewesen. Sie hatte den Psychologie-Studenten für einen faszinierenden Poeten gehalten und er hatte ihr genau die Worte ins Ohr gesäuselt, die sie hatte hören wollen. Später verpackte er immer häufiger etwas Negatives in seine Komplimente, so dass sich Stella immer mehr verunsichert fühlte.

Hinzu kam, dass er glaubte, dass in ihr irgendein Potential ruhte und er wollte die magische Essenz in ihr erwecken. Er überredete sie zu allerlei Versuchen, die allesamt erfolglos waren, und erklärte ihr immer öfter, wie enttäuschend sie war.

Zwischendurch kam es immer wieder vor, dass er tagelang weder auf ihre Anrufe reagierte, noch an die Tür ging, wenn sie an seiner Wohnung klingelte.

Als sie sich weigerte, irgendwelche seltsamen Rituale mit Tieropfern mit ihm durchzuführen, ließ er sie fallen. In dieser Nacht beging sie einen riesigen Fehler, mit dem sie ihren besten Freund und ihre Eltern sehr enttäuscht hatte. In der Folge lösten sich alle ihre beruflichen Möglichkeiten im Nichts auf. Bis sie schließlich auf Michael in dem Rekrutierungsbüro in New York stieß.

Es hat letztlich zu was Gutem geführt. Ich würde meine Familie nicht mehr hergeben wollen. Ich hoffe, allen geht es gut. Ob ich sie noch mal in die Arme schließen darf?

„Ich soll Sie daran erinnern, Herr von Rabenfels, dass sie bei den Experimenten keinen dauerhaften Schaden erleiden darf. HYDRA will nur wissen, ob man ihr Potential inzwischen erwecken könnte. Sollte dies nicht der Fall sein, soll sie weiter beobachtet werden."

„Wie lange beobachten Sie sie schon?", erkundigte sich Moritz.

„Seit den 70ern. Sie ist damals in eine von Howard Starks Erfindungen geraten. Wir glauben, dass die Fähigkeiten, die durch ihren Stammbaum in ihr ruhen, dadurch verstärkt werden könnten. Allerdings hat der Zwischenfall noch nicht seine ganze Wirkung entfaltet. Es muss eine Komponente geben, die fehlt."

Ich kann mich gar nicht an den Vorfall erinnern. Ist das etwa wahr? Warum hat mir niemand etwas davon erzählt?

„Ich werde noch einmal versuchen, das aus ihr herauszukitzeln. Gleichzeitig werde ich dafür sorgen, dass sie sich nicht zu wichtig nimmt. HYDRA sollte nicht so große Hoffnungen in sie setzen. Was hat sie schon geleistet, außer alle immer wieder zu enttäuschen?"

Er wandte sich direkt an Stella: „Die Präsentation dieses Geräts zum Beispiel – war Daddy da etwa stolz auf dich? Und jetzt, wo du einfach nicht nach Hause kommst, was für eine Mutter bist du da?"

Sie kniff die Lippen aufeinander und dachte: Nein, ich lasse mich nicht von ihm beeinflussen. Er spielt nur mit mir.

„Tja, und Rogers – wie gut seid ihr deiner Meinung nach befreundet? So wichtig kannst du nicht sein, sonst wüsstest du was. Oder er ahnte schon, dass du dumm genug bist, uns in die Arme zu laufen. Und wo bleibt er? Bist du etwa nicht wichtig genug, um gerettet zu werden? Oder bist du wertlos für ihn?"

Nicht antworten! Er würde nur meine Worte verdrehen und noch etwas Negatives daraus machen!, dachte sie, doch die Verzweiflung hatte sie bereits fest im Griff und sie musste mit aller Kraft gegen ihre Tränen ankämpfen.

Er holte ein Gerät vom Instrumententisch und verband es mit einem Kabelstrang. Die Elektroden, die daraus ragten, brachte er an unterschiedlichen Punkten an ihrem ganzen Körper an.

Als er fertig war, fasste er ihr an eine Brust und kommentierte: „Immerhin war die Schwerkraft bisher gnädig zu dir."

Sie wollte ihm eine Ohrfeige verpassen, doch die Fesseln hinderten sie daran.

„Ich bin nicht mehr dein Spielzeug!", presste sie hervor.

Er ignorierte das und fuhr fort: „Vielleicht ist das die Wirkung, die der Zwischenfall auf dich hatte? Du bleibst länger ansehnlich. Wie dem auch sei. Ich werde dich jetzt unterschiedlichen Reizen aussetzen und genau beobachten, was mit dir dabei passiert. Auch wenn ich glaube, dass es sinnlos ist."

Auf ähnliche Weise redete Moritz weiter auf Stella ein, während er in den nächsten Stunden seine Experimente an ihr durchführte. Bis er endlich seine Geräte abschaltete.

„Wie ich schon sagte. Das hier war Zeitverschwendung", schloss er. „Das Team von Dr. List macht in Sokovia indes bereits einige Fortschritte. HYDRA sollte darauf setzen und sie hier entsorgen."

„Wer entsorgt wird, haben Sie nicht zu entscheiden. Ich werde mit Mr. Pierce abstimmen, wie wir weiter verfahren."

„Wie Sie meinen. Ich bin mit ihr jedenfalls fertig", sagte Moritz und wandte sich an den Soldaten, der die ganze Zeit über still in der Ecke stand.

„Bringen Sie sie zurück in die Zelle", befahl er und ließ Stellas Fesseln mit einem Knopfdruck aufschnappen.

Sie war nach den Experimenten so kraftlos, dass sie nur noch auf dem Boden zusammensacken konnte. Sie zitterte am ganzen Körper und konnte sich nicht mehr rühren. Die Umgebung um sie herum begann zu verschwimmen.

Der Soldat nahm aus einem Regal an der Wand eine grüne OP-Decke und hüllte Stella darin ein, bevor er sie hochhob und in ihre Zelle brachte.

In der Zelle legte er sie auf das Bett. Als er sich gerade wieder aufrichten wollte, legte sie eine Hand auf seine Brust und flüsterte: „Du hast ja doch noch ein Herz. Bitte lerne, wieder mehr darauf zu hören."

Er blickte sie einen Augenblick still an, richtete sich dann auf und verließ wortlos den Raum.

In den nächsten Stunden dämmerte Stella vor sich hin. Sie glaubte, irgendwann Stimmen auf dem Flur zu hören.

„Soldat, Agent Rumlow hat Ihre Unterstützung angefordert. Machen Sie sich sofort auf den Weg!"

Sie schicken ihn, um Steve weh zu tun, oder?, dachte sie bevor ihre Müdigkeit sich über sie ausbreitete und in eine Reihe wirrer Albträume drängte.

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