74. Das Verhör
Die Welt um Stella herum war noch schwarz, als sie in scheinbarer Ferne dumpfe Stimmen hörte. Sie konnte keine einzelnen Wörter heraushören, sondern nur anhand der unterschiedlichen Klanghöhen erraten, dass es sich um mehr als eine Person handeln musste.
Sie blinzelte, doch schloss sofort wieder die Augen, weil sie von einem hellen Licht geblendet wurde. Mit großer Mühe schaffte sie es, ihren Kopf zu Seite zu drehen. Jetzt konnte sie ihre Augen einen kleinen Spalt breit öffnen, doch sie konnte noch nichts von ihrer Umgebung erkennen. Sie öffnete ihre Augen ganz und sah jetzt einen weißen Fleck auf sie zukommen.
Der Fleck sagte irgendetwas, doch sie hörte alle Geräusche immer noch so dumpf, als wäre sie unter Wasser.
Sie lag auf einem kalten Untergrund und wollte sich aufsetzen, doch ihre Gliedmaßen wurden von etwas ebenso Kaltem festgehalten.
Der Fleck streckte seinen Arm aus und drückte ihre Schulter damit auf den Tisch, auf dem sie lag. Wieder sagte er etwas und Stella vermutete, dass er wollte, dass sie liegen bleibt.
Sie atmete tief ein- und aus und hoffte, dass sie so schneller wach werden würde. Ihr Herz schlug schnell und sie hörte jetzt ihren Puls.
Was ist passiert? Wo bin ich? Bin ich in einem Krankenhaus? Warum bin ich festgeschnallt?
„Es war äußerst dumm von Ihnen, ihr diese Dosis zu verabreichen! Die Dosis für Rogers ist um ein Vielfaches stärker bemessen als für normale Menschen. Sie hätte uns wegsterben können! Ein Glück für Sie, dass sie nun langsam aufwacht", hörte Stella den weißen Fleck poltern.
Allmählich konnte sie die Konturen ihrer Umgebung besser erkennen. Der weiße Fleck war ein Mann, der einen Arztkittel trug.
Ein schwarz gekleideter Mann trat gerade so in ihr Sichtfeld und sagte: „Das war nun mal der einfachste Weg, um sie unauffällig aus dem Gebäude und in den Wagen schaffen zu können. Sonst hätten die Nachbarn was von ihrem Gezeter mitbekommen."
Diese Stimme habe ich schonmal gehört! Ich wurde entführt!
„Was haben Sie mit mir vor?", versuchte sie zu sagen, doch es war wohl eher ein unverständliches Murmeln, was aus ihr heraus kam. Die beiden Männer gingen nicht darauf ein.
„Gehen Sie Bescheid sagen, dass wir bald mit der Befragung beginnen können", forderte der Mann im Kittel. Der andere nickte knapp und entfernte sich.
„Ich bin Dr. Gilbert. Wir werden in den nächsten Stunden das Vergnügen miteinander haben. Keine Angst, wenn Sie kooperieren, wird es nicht allzu unangenehm für Sie werden", stellte sich der Fremde mit einem kleinen Lächeln vor und betätigte einen Schalter neben dem Tisch.
Der Tisch fuhr in eine halbaufrechte Position. Stella fiel es noch schwer, den Kopf gerade zu halten und die Welt um sie herum drehte sich noch immer.
Als sich der Doktor kurz umdrehte, versuchte sie sich dennoch gegen ihre Fesseln zu stemmen.
„Sparen Sie sich Ihre Kraft. Diese Fesseln sind für Menschen konzipiert worden, die weitaus stärker sind als Sie", kommentierte er ihren Versuch.
Er steckte den Rüssel einer Schnabeltasse in ihren Mund und sagte: „Trinken Sie! Nach dem langen Schlaf müssen Sie Durst haben und mit trockenem Mund redet es sich so schwer."
Sie versuchte, den Becher von sich zu stoßen und mit dem Kopf zu schütteln.
„Es ist bloß Wasser", versicherte er ihr.
Ihr Mund fühlte sich tatsächlich trocken an, daher gehorchte sie und nahm ein paar Schlucke. An dem letzten verschluckte sie sich und hustete ihn aus. Sie wollte sich instinktiv die Hand vor den Mund halten, doch die Fesseln waren weiterhin fest verschlossen. Das Wasser landete auf ihrem Oberteil.
„Na na, nicht zu gierig!", tadelte der Doktor sie und tupfte ihr Gesicht mit einem Tuch trocken.
Sie schloss die Augen und atmete noch einmal tief durch.
„Wo bin ich und was wollen Sie von mir?"
„Das werden Sie gleich erfahren", sagte er und wendete sich einem Beistelltisch zu, auf dem er mit ein paar eigenartigen Geräten hantierte.
Inzwischen konnte Stella den kompletten Raum sehen. Gegenüber von dem Tisch, auf dem sie festgeschnallt war, gab es einen Stuhl, der ebenfalls mit Fesseln ausgestattet war und über dem eine Art Haube hing. Er erinnerte sie an ein Folterinstrument oder an einen elektrischen Stuhl.
Der Raum hatte keine Fenster und, so weit sie es sehen konnte, nur eine Tür.
Für einen Augenblick hoffte sie, dass Steve in seinem blauen Anzug und mit dem Schild in der Hand durch diese Tür angestürmt kommt, um sie aus dieser Lage zu befreien. Andererseits hoffte sie, dass Steve weit weg von hier und in Sicherheit war.
Die Leute hier werden nichts Gutes im Sinn haben.
Tatsächlich öffnete sich die Tür. Doch statt Steve kam zuerst der schwarz gekleidete Mann hindurch, der sie entführt hatte. Ihm folgte ein älterer, rötlich blonder Mann im Anzug, dessen Gesicht Stella kannte, aber erst noch nicht zuordnen konnte.
Als Letztes kam ein muskulöser Mann durch die Tür. Sein linker Arm war durch eine Prothese aus glänzendem Metall ersetzt worden. Auf dem Oberarm der Prothese prangte ein roter Stern. Das Gesicht des Mannes war bis zur Nase mit einer schwarzen Maske bedeckt. Seine Augen waren dunkel geschminkt. Seine schulterlangen Haare trugen den Rest dazu bei, dass man die Gesichtszüge des Metallarmigen kaum ausmachen konnte. Er stellte sich still in eine Ecke und sah seinen Begleitern aufmerksam zu.
Der Blonde trat an Stellas Tisch heran und musterte sie.
„Ich hätte ahnen sollen, dass Sie und Rogers sich kennen. Das könnte vielleicht für uns von nutzen sein."
„Secretary Pierce", presste Stella hervor, als sie den Mann erkannte. „Man hätte ahnen sollen, dass Sie in zwielichtige Geschäfte verwickelt sind."
Pierce ignorierte sie und wandte sich an Dr. Gilbert. „Beginnen Sie mit der Befragung. Denken Sie aber daran, dass sie danach noch von unserem Gast untersucht werden wird. Geben Sie Bescheid, wenn Sie fertig sind."
Dr. Gilbert nickte knapp und Pierce schaute jetzt den Mann mit dem Metallarm an.
„Soldat, Sie werden die Vorgänge hier überwachen und die Anweisungen von Dr. Gilbert befolgen bis wir näheres über den Verbleib Ihres Missionsziels wissen."
Jetzt drehte sich Pierce zu dem dunkel gekleideten Mann: „Agent Rumlow, Sie werden indes mit Ihrem Team weiter nach Rogers suchen."
Nachdem er alle Befehle erteilt hatte, verließ Pierce, gefolgt von Rumlow den Raum.
Dr. Gilbert holte aus seinem Kittel ein Diktiergerät hervor, schaltete es ein und legte es demonstrativ auf den Instrumententisch neben Stella.
„Gut, dann fangen wir mal an. Wo hält sich Rogers auf?"
„Ich weiß es nicht", antwortete Stella ehrlich.
„Nun, das ist das Problem, das wir mit Ihnen haben: Wir glauben Ihnen das nicht. Sie gehören zu Captain Americas Eingeweihten. Sie müssen etwas wissen. Und wenn Sie es uns nicht einfach sagen, werde ich es schon noch aus Ihnen herauskitzeln."
Er nahm eines der seltsamen Geräte vom Tisch und hielt es hoch.
„Dieses kleine Wunderwerk wird mir dabei helfen", sagte er amüsiert und befestige das Gerät an Stellas Kopf. Die Endpunkte lagen an ihren Schläfen auf und das Mittelstück umschloss ihre Stirn.
Er nahm einen Tablet-Computer in die Hand und tippte darauf herum. Stella spürte ein Ziehen in ihrem Kopf.
„Das, was Sie jetzt gerade spüren, ist noch das untere Ende der Skala. Also: Wo ist Rogers?"
„Ich weiß es nicht", wiederholte sie.
Dr. Gilbert tippte erneut auf seinem Tablet herum und aus dem Ziehen in Stellas Kopf wurden starke Kopfschmerzen.
„Wissen Sie es jetzt?"
„Nein."
Für einen kurzen Moment breiteten sich die Schmerzen in ihren Rücken aus.
„Sie sind nicht in der Position, uns etwas zu verheimlichen."
„Warum prüfen Sie meine Antworten nicht einfach mit einem Lügendetektor?", keuchte Stella. „Außerdem, wenn ich wusste, wo er ist, warum sollte ich ihn an einem Ort suchen, an dem er nicht ist?"
„Das sollen Sie uns beantworten. Er wird Sie geschickt haben. Was plant er?"
Nach der nächsten Schmerzwelle sammelten sich Tränen in Stellas Augenwinkeln.
Warum hört er nicht auf damit? Ich weiß wirklich nichts. Das muss er doch irgendwann einsehen! Werden sie mich überhaupt gehen lassen? Oder werden sie mich am Ende einfach entsorgen?
Der Doktor setzte das Verhör unbeirrt fort und stellte das Gerät mit jeder Runde auf eine immer höhere Stufe ein. Wie viel Zeit dabei verging, konnte Stella nicht schätzen. Es kam ihr vor, als wären es Stunden.
Bei der letzten Wiederholung konnte sie einen Schrei nicht mehr unterdrücken. Ihr Körper krampfte sich zusammen, ihre Haut und ihre Lungen brannten wie Feuer und sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen.
Endlich stellte Gilbert das Gerät ab. „Ich bin mit Ihnen fertig. Sie können uns tatsächlich nicht die Informationen bieten, die wir haben wollen."
Stella ließ erschöpft ihren Kopf hängen und atmete tief durch.
In der Zwischenzeit ging Dr. Gilbert zu einem Telefon, das an der Wand hing und telefonierte so leise, dass Stella nichts verstehen konnte. Er legte nach ein paar Wortwechseln auf und stellte sich ein paar Schritte entfernt vor Stella hin.
„Sie dürfen sich ausruhen. Unser Gast möchte sich erst morgen mit Ihnen befassen."
Er drehte sich zu dem stillen Mann in der Ecke und sagte: „Soldat, sperren Sie sie in Zelle Nummer zwei. Und warten Sie anschließend in Ihrem Raum auf weitere Befehle. Nutzen Sie die Zeit, um ein wenig zu ruhen."
Der Metallarmige nickte und stellte sich bereit. Sobald Dr. Gilbert einen Schalter betätigte und Stellas Fesseln aufsprangen, packte der Soldat sie und zwang sie, vor sich her zu gehen. Er führte sie aus dem Raum und durch einen langen Korridor.
Vor einer Metalltür blieb er stehen. Mit einem Arm hielt er sie immer noch fest genug, so dass sie gar nicht erst versuchen brauchte, sich loszureißen. Mit der anderen Hand öffnete er die Tür. Er schob Stella in den kleinen, kargen Raum dahinter und machte sogleich die Tür wieder zu.
Stella hörte, wie sich ein schweres Schloss drehte. Jetzt war sie eingesperrt.
Die Zelle bot gerade genug Platz für ein schmales Metallbett, auf dem eine dünne Matratze lag. Am hinteren Ende des Raumes gab es hoch oben ein kleines, vergittertes Fenster. Der hintere Teil war durch eine halbhohe Mauer vom Rest abgetrennt und beherbergte eine Toiletten-Waschbecken-Kombination aus Edelstahl. An der Wand gegenüber vom Bett waren ein kleiner Tisch und ein Hocker festgeschraubt.
Sie tigerte eine Zeit lang rastlos in dem engen Raum auf und ab und versuchte, die aufkommende Panik zu unterdrücken. Sie versuchte, durch das Fenster zu spähen, konnte dadurch aber nur auf eine graue Mauer blicken. Einen ähnlichen Ausblick bot der kleine Schlitz in der Tür.
Schließlich setzte sie sich auf das Bett und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie ließ ihre Tränen fließen.
Was haben sie denn noch mit mir vor? Ob mich überhaupt jemand sucht? Ich hoffe, zu Hause geht es allen gut. Ob ich sie noch einmal wiedersehen werde?
Langsam gewann ihre Müdigkeit die Oberhand. Nachdem sie noch einmal tief ein und ausgeatmet hatte, legte sie sich auf die Seite und ließ ihre Augen zufallen.
Was auch immer passiert, Schlafmangel wird mir nicht helfen. Ich sollte morgen nach einem Fluchtweg Ausschau halten.
Sie wurde von unterschiedlichen Träumen heimgesucht. Manche erinnerten sie an ihre Kriegsgefangenschaft und sie schreckte ein paar Mal auf.
In ihrem letzten Traum begegnete sie erneut dem Wolf. Dieses Mal waren sie jedoch nicht im Wald. Er führte sie durch ein Labyrinth aus grauen Wänden. Ohne seine Hilfe hätte sie sich hier nicht zurechtgefunden. Nach unzähligen Kreuzungen und Ecken blieb der Wolf vor einer Metalltür stehen und kratzte daran. Sie ähnelte der Tür ihrer Zelle, nur dass sie im Traum auf der Außenseite stand. Auf die Tür war eine kleine Eins aufgemalt.
Am Türgriff hing eine Erkennungsmarke, doch als Stella sie in die Hand nahm, konnte sie die Aufschrift nur verschwommen sehen. Sie konnte keinen Buchstaben entziffern.
Sie ließ die Erkennungsmarke los und verspürte den Drang, die Tür zu öffnen. Vorsichtig drehte sie am Türgriff. Die Tür war nicht abgesperrt.
Gerade als sie die Tür einen Spalt breit geöffnet hatte, wurde sie von einem metallischen Geräusch aufgeweckt.
Stella öffnete die Augen. Der Soldat war in die Zelle gekommen und stellte gerade ein Tablett auf dem Tischchen ab.
Er hatte nicht mehr seine volle Kampfmontur an und sein Gesicht war nicht mehr bedeckt. Die schwarze Farbe, die seine Augen verschleiert hatten, hatte er sich abgewaschen.
Sein Blick war ausdruckslos und er starrte Stella abwartend an. Sie blickte in seine blauen Augen und hatte plötzlich das Gefühl, dass er ihr vertraut vorkam.
Das kann nicht sein, ich bin ihm noch nie zuvor begegnet. Er wird einfach jemandem ähnlich sehen.
Sie musterte seine Gesichtszüge. Sein finsterer Gesichtsausdruck ließ eine Falte zwischen den Augenbrauen entstehen. Seine Mundwinkel waren heruntergezogen und sein kantiger Kiefer war von einem Dreitagebart bedeckt. Auf dem Kinn hatte er ein ausgeprägtes Grübchen.
Er sieht ein wenig aus, wie Mark Hamill in jüngeren Jahren. Vielleicht kommt er mir deswegen so bekannt vor. Ich habe die Filme einfach zu oft gesehen.
Ihr Blick wanderte zurück zu seinen Augen und sie verlor sich für einen Moment in dem Blau.
Soll ich versuchen, mit ihm zu reden? Es kann ja wohl meine Situation nicht noch schlimmer machen, oder?
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