73. Der spontane Besuch

Stella saß auf einer Waldlichtung und spürte die sanfte Wärme eines Frühlingstages. Sie atmete die frische Luft tief ein und lauschte dem Rascheln der Blätter in den Bäumen. In der Nähe plätscherte ein Bach und in nicht allzu großer Ferne verrichtete ein Specht seine Arbeit.

Hinter sich hörte sie das Rascheln eines größeren Tieres und sie drehte sich danach um.

Sie hatte ihn in der Vergangenheit schon häufiger in ihren Träumen gesehen und jetzt stand der Wolf mit seinem weißen Fell erneut vor ihr. Seine Haltung war leicht geduckt und er fixierte sie mit seinen blauen Augen.

„Hey, dich habe ich aber lange nicht mehr gesehen", sagte sie sanft.

Vorsichtig schlich sie ein paar Schritte auf ihn zu und ging in die Hocke. Sie streckte ihre Hand langsam aus, damit er sie beschnuppern konnte.

Er kam ihr zuerst mit der Nase näher und machte dann einen Schritt nach dem anderen auf sie zu. Mit einem leisen Winseln schmiegte er sich an sie an und ließ sich am Kopf und am Rücken streicheln.

Sanft fuhr sie ihm mit ihren Händen durch das weiche Fell und fragte leise: „Was hat dich nur so verängstigt?"

Etwas raschelte einige Meter entfernt. Er hob den Kopf und spitzte die Ohren. Das Rascheln entpuppte sich als ein Eichhörnchen, das gerade von Baum zu Baum huschte.

Der Wolf entspannte sich und legte sich neben Stella auf den Boden.

Was wohl gerade in ihm vorgeht?, fragte sie sich und lehnte sich mit dem Rücken an den Baum hinter ihr. Sie genoss die Nähe des Wolfes und schloss entspannt die Augen. Bis ein unerwartetes Geräusch sie aufschreckte.

Als sie die Augen öffnete, war sie nicht mehr im Wald und auch der Wolf war fort. Stattdessen war sie wieder in ihrem Hotelzimmer und wurde von der Realität eingeholt.

Nachdem sie einen weiteren Tag auf dem Medizinkongress verbracht hatte und dabei Dr. Strange erfolgreich aus dem Weg gehen konnte, war es heute an der Zeit nach Hause zu fliegen.

Das Geräusch, das sie geweckt hatte, war der Beatles-Song, den sie an ihrem Handy als Weckton eingestellt hatte. Sie hatte sich den Song „Here Comes the Sun" bewusst ausgesucht, in der Hoffnung sich morgens in eine positive Stimmung versetzen zu können. Jetzt rieb sie sich den Schlaf aus den Augen und nahm das Handy vom Nachttisch, um den Wecker abzustellen.

Sie streckte sich kurz und ging dann duschen. Während ihre Haare danach trockneten, räumte sie schon einmal ihre Sachen zusammen, um gleich nach dem Frühstück auschecken zu können.

Im Frühstückssaal hing ein Fernseher, auf dem stumm ein Nachrichtenkanal lief. Während Stella aß, betrachtete sie die Bilder von einer wilden Verfolgungsjagd durch Washington, die der Sender gerade zeigte. Ein schwarzer SUV wurde von mehreren anderen Fahrzeugen verfolgt und es gab einen Schusswechsel ohne Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer. Der Fahrer des schwarzen SUVs war danach verschwunden und ließ seinen demolierten Wagen zurück.

Ob Steve etwas damit zu tun hat?, fragte sie sich unwillkürlich. Nein, vermutlich nicht. Er ist ja nicht überall, wo etwas passiert. Es wird ihm gut gehen, oder?

Sie nahm sich vor, ihn später anzurufen, allein schon, um ihn zu fragen, ob er gestern seine Vorhaben umsetzen konnte.

Nach dem Frühstück checkte Stella aus und nahm sich ein Taxi, welches sie zum Flughafen nahe Baltimore brachte.

Im Flughafen ging sie direkt zum Check-in-Schalter und wollte dort ihre Bordkarte abholen.

„Es tut mir leid, Mrs. Chain, aber Ihr Flug wurde gestrichen", sagte die Frau am Schalter.

„Gibt es heute noch einen anderen Flug in die gleiche Richtung?"

„Leider nein. Es gibt hier heute einen Pilotenstreik, weswegen so gut wie alle Flüge gestrichen werden mussten."

„Und morgen?"

„Kann ich Ihnen nicht versprechen. Als Ersatz für den ausgefallenen Flug können Sie sich aber die Kosten für einen Mietwagen von unserer Gesellschaft zurückerstatten lassen. Sie könnten damit zum Washington-Dulles-Airport weiterfahren und von dort aus ihr Glück versuchen."

Stella nickte: „Gut, dann werde ich das versuchen." Sie verabschiedete sich höflich von der Frau am Schalter.

Wie vorgeschlagen besorgte sie sich einen Mietwagen und fuhr damit zum Washington-Dulles-Airport weiter. Doch auch an diesem Flughafen kam sie nicht weiter. Es gab zwar einen planmäßigen Flug nach Orlando, aber auch dieser war gestrichen worden. Die Gründe hierfür konnte man Stella nicht sagen. Aber sie konnte sich einen Flug am nächsten Tag buchen lassen.

Zurück am Auto überlegte sie, was sie den Rest des Tages noch in Washington unternehmen könnte.

Als Erstes werde ich mir ein Hotelzimmer nehmen. Mein Lieblingshotel ist in der Nähe von Steves neuer Adresse. Vielleicht würde er sich über einen Besuch freuen? Und dann sollte ich irgendwann noch Dad anrufen und ihm von meinem Versagen bei der Präsentation berichten. Vielleicht hat er ja auch inzwischen was von Hank gehört.

Sie fuhr zunächst zu ihrem Lieblingshotel in Washington und konnte dort ein Zimmer ergattern.

Im Zimmer stand sie eine Weile mit dem Smartphone in der Hand da und zögerte.

Ich weiß immer noch nicht, wie ich Dad das sagen soll. Vielleicht mache ich das besser, wenn ich wieder zu Hause bin, von Angesicht zu Angesicht.

Mit einem Seufzer ließ sie das Handy in ihrer Handtasche verschwinden und machte sich auf dem Weg zu Steves Wohnung.

Aus dem Appartementhaus kam gerade ein älterer Herr, der ihr die Tür aufhielt.

„Zu wem wollen Sie?", fragte er sie.

„Zu Mr. Rogers", antwortete sie.

„Da müssen Sie ein paar Treppen laufen. Er wohnt im vorletzten Stock."

„Danke sehr. Einen schönen Tag noch."

Der Mann nickte freundlich und Stella ging die Treppen hoch.

Als sie an Steves Tür anklopfen wollte, ging diese von alleine einen Spalt breit auf, so als ob sie nicht richtig ins Schloss gefallen war.

Stella klopfte noch einmal am Türrahmen.

Vielleicht hätte ich vorher anrufen sollen?, dachte sie. Doch etwas bewegte sie dazu, noch nicht aufzugeben.

Sie schob die Tür ein Stück weiter auf und rief: „Steve? Bist du zuhause?"

Steve antwortete weiterhin nicht. Stella schlüpfte jetzt durch die Tür in die Wohnung und sah sich vorsichtig um.

Die Wohnung war großzügiger geschnitten, als die, die er in Brooklyn hatte. Die Wohnungstür hatte Stella direkt in das Wohnzimmer geführt, an dem eine halboffene Küche und ein kleiner Flur angrenzten. Wäre es nicht so gespenstisch still in der Wohnung gewesen, hätte Stella es hier recht gemütlich gefunden.

Aus einer Ecke im Wohnzimmer hörte sie ein Rauschen. Sie sah nach dem Geräusch und fand einen Plattenspieler, dessen Plattenteller sich noch drehte. Die Nadel hatte jedoch schon längst das Ende der Tonspur erreicht und glitt nun ab und an über ein Staubkorn. Vorsichtig hob Stella den Tonarm an, legte ihn zurück in die Ausgangsposition und schaltete dann das Gerät ab.

Neben dem Plattenspieler stand ein brauner Sessel, auf dem ein paar dunkle Flecken waren. Sie strich mit dem Finger darüber.

Das ist Blut!, stellte sie erschrocken fest. Steve muss in Schwierigkeiten sein!

Jetzt fielen ihr die Einschusslöcher in der Wand neben dem Sessel auf. Sie spürte einen Luftzug und merkte dadurch, dass die Fenster zerbrochen waren. Eines war nur teilweise zersplittert und die Scherben lagen auf dem Boden davor. Das andere Fenster war komplett zertrümmert.

Was ist hier nur passiert?

Sie sah, dass eine Blutspur vom Wohnzimmer in die Küche führte und folgte ihr vorsichtig. Doch auch in der Küche war sonst keine Spur von Steve. Hier gab es ein Fenster, das zwar unbeschädigt war, aber offen stand.

Wo ist er hin? Ist er geflohen oder wurde er entführt?

Jetzt wünschte sie sich, seine Handynummer zu haben. Er hatte vor kurzem erwähnt, dass seine Kollegen ihm ein Smartphone angedreht haben, um ihn besser erreichen zu können. Aber er wollte es nur für dienstliche Zwecke nutzen und Stella hatte dies akzeptiert.

Dass ich mir Sorgen mache, wäre aber auch ein ausreichend guter Grund, um ihn anzurufen, oder? Aber vielleicht liegt er noch hier irgendwo und braucht Hilfe. Ich habe noch nicht alle Räume gesehen, dachte sie, obwohl ein Teil von ihr sich unsicher fühlte und die Wohnung lieber verlassen wollte.

Sie suchte sich den Weg ins Badezimmer und sah dort hinein. Gerade, als sie den menschenleeren Raum wieder verlassen wollte, hörte sie irgendwo in der Wohnung ein Knarzen. Sie blieb stehen und versuchte, möglichst leise zu atmen. Das Knarzen wiederholte sich.

Jemand ist hier. Ist es Steve? Aber er hätte mich vorhin gehört und sich zu erkennen gegeben oder nicht? Sind es etwa die Leute, die ihn hier angegriffen haben? Ich sollte hier weg. Aber Steve könnte auch noch im Schlafzimmer liegen und Hilfe brauchen.

Ihr Herz begann immer schneller zu schlagen, als sie sich langsam durchs Wohnzimmer zur Schlafzimmertür bewegte.

Aus dem Augenwinkel sah sie plötzlich, wie sich ein Schatten auf sie zubewegte. Zwei starke Arme packten sie von hinten. Sie versuchte, sich herauszuwinden, doch der Angreifer hielt sie wie eine Schraubzwinge fest. Mit einer Hand bedeckte er ihren Mund, so dass sie nur noch dumpfe Geräusche von sich geben konnte.

Ein schwarz gekleideter Mann, mit einem Knopf im Ohr kam aus dem Schlafzimmer und musterte sie. Sein stoppeliges, kantiges Gesicht verzog sich zu einem amüsierten Lächeln.

„Wen haben wir denn da?", fragte er und wartete die Antwort nicht ab. Er blickte seinen Kollegen an und sagte ernst: „Wir nehmen sie mit. Vielleicht hat sie ein paar Antworten für uns. Ansonsten sind wir hier fertig."

Sie versuchte weiterhin mit aller Kraft, sich aus dem Griff zu befreien. Es gelang ihr, ihren Angreifer ins Taumeln zu bringen und sie stürzten beide in ein Regal.

„Wenn du dich so wehrst, müssen wir dich eben für die Fahrt betäuben", sagte der Mann mit den dunklen Haaren und zog eine Waffe aus seinem Holster. Er richtete die Waffe auf Stella und schoss damit einen Betäubungspfeil auf sie ab.

„Die Dosis war eigentlich für Rogers bestimmt. Damit dürftest du eine Weile ruhig bleiben", hörte sie den Fremden noch sagen, während die Welt um sie herum verschwamm.

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