63. Das Museum

Am zweiten Workshop-Tag saßen Stella und Sam wieder nebeneinander. Sie lauschten den Vorträgen, welche jedoch für beide keine neuen Erkenntnisse brachten.

„Sie haben uns mit dem Versprechen lehrreicher Vorträge hergelockt, nur um darin ihre Hilfsmittel-Reform zu verpacken", beschwerte sich Sam nach dem letzten Vortrag am Vormittag. Die Veranstaltung war damit abgeschlossen und konnte daher nicht mehr besser werden.

„Ja und die Zeit, die wir künftig brauchen, um den Patienten mit den Anträgen zu helfen, geht dann von der Zeit ab, die wir für ihre eigentlichen Probleme bräuchten. Die machen sich das ziemlich leicht", stimmte Stella mit ein.

„Hast du denn alles davon verstanden?"

„Bei weitem nicht. Ich bin eigentlich Ärztin und keine Juristin."

„Tja, da haben wir uns wohl beide den falschen Job ausgesucht", scherzte der Dunkelhäutige mit dem gepflegten Bart.

Stella lachte leise und sagte dann: „Also gut, ich mache mich dann mal auf den Weg ins Museum."

„Weißt du, wie du hinfindest? Es ist eigentlich ganz einfach: Wenn du hier aus dem Gebäude kommst, läufst du vor bis zur National Mall. Ab da ist es ausgeschildert. Es ist zwar ein gutes Stück zum Laufen, aber auch eine schöne Strecke für einen Spaziergang."

„Danke."

„Kein Problem. Ich hole dich dann da so in drei Stunden ab, ist das okay?"

„Ja, natürlich."

Für den Weg zum Museum brauchte Stella einige Minuten, denn es war, wie Sam ihr gesagt hatte, ein gutes Stück weit entfernt. Das störte sie aber nicht, sondern sie genoss den Spaziergang. Sie ließ die Umgebung auf sich wirken und beobachtete die anderen Passanten, die hier entweder ebenfalls einen Spaziergang machten, oder auf einer der Wiesen in der Sonne badeten.

Im Museum brauchten ihre Augen einen Moment, um sich auf das dunklere, künstliche Licht einzustellen.

Die Wände der Ausstellungsräume waren in dunklen Farben gehalten. Das meiste Licht kam von den Spots, die die einzelnen Exponate anstrahlten.

Auf dem Rundgang hielt Stella zunächst an einem Motorrad. Steve ist es damals in den 40ern gefahren. Es ähnelte dem, welches er heute besaß, nur dass hier vorne Halterungen für Waffen und Steves Schild vorhanden waren. Der Sitz war mit echtem, braunen Leder überzogen, welches nach Jahrzehnten ein wenig spröde aussah.

Als Nächstes fiel ihr eine Reihe grauer, lebensgroßer Puppen auf, die Nachbildungen der Einsatzkleidung des Howling Commandos trugen. An der Wand dahinter gab es ein großes Banner, auf welchem die Gesichter zu den einzelnen Puppen abgebildet waren. Ganz vorne in der V-förmig aufgestellten Gruppe stand Steves Puppe. Der Anzug ähnelte dem, den er bei dem Angriff in New York getragen hatte.

Tony lässt es sich bestimmt nicht nehmen, den zu überarbeiten. Aber ob Steve das will?

Zu Steves Linken stand die Puppe, die Bucky darstellte. Er war nicht ganz so groß wie Steve, aber auch kein Zwerg und ein gutes Stück größer als Stella. Seine Kleidung bestand aus einer dunkelblauen Jacke mit zwei Knopfreihen und einer dunkelbraunen Hose.

Stella fiel auf, dass die Kleidung jedes einzelnen Mitglieds des Howling Commandos sehr individuell gestaltet war, so als ob sie auf die jeweiligen Vorlieben und Fähigkeiten der Männer abgestimmt wurden, ohne sich an die strengen Vorschriften der Army halten zu müssen.

Sie ging weiter und kam in einen Raum, in dem in Dauerschleife Interviews mit Zeitzeugen auf eine Wand projiziert wurden. Gegenüber der Leinwand befanden sich Stufen, auf denen man sitzen und der Vorführung in Ruhe folgen konnte.

Als Stella sich auf eine der Stufen setzte, sah sie noch die letzte Einstellung des aktuellen Interviews. Das Bild zeigte Peggy Carter, bevor die Vorführung zum nächsten Interview wechselte.

Moment mal, war das Mrs. Carter, die ab und zu auf Mr. Starks Feiern aufgetaucht ist? Warum ist mir vorher nicht aufgefallen, dass Steves Peggy und Mrs. Carter ein und dieselbe Person sind? Ich bin schon ein richtiger Schnellmerker. Ob ich ihm davon erzählen sollte, wie ich sie kennengelernt habe? Sie war schlagfertig, aber immer höflich. Ich mochte die Gespräche mit ihr. Auch wenn sie zu mir und Tony manchmal recht streng war. Aber im Nachhinein kann ich es ihr nicht verübeln. Sie hat uns oft genug bei unseren Abenteuern ertappt.

Es liefen ein paar Interviews mit Menschen, die Stella nicht bekannt vorkamen. Schließlich war die Schleife wieder bei dem Interview mit Mrs. Carter angelangt.

Mrs. Carter erzählte von Steves Heldentaten und davon, dass sie ihm viel zu verdanken hatte. In ihrer Stimme lag mehr als Bewunderung. Sie schien ihn zu dem Zeitpunkt immer noch sehr zu vermissen.

Sie hat ihn genauso geliebt, wie er sie liebt. Das ist so romantisch und gleichzeitig traurig. Sie hätten das Glück miteinander verdient gehabt, nur das Schicksal hat es verhindert. Wenn Steve nicht verschollen gewesen wäre, ob sie dann eine Familie gegründet hätten? Vielleicht hätte Steve jetzt Enkelkinder.

Dann regte sich in ihr die wissenschaftliche Neugier. Steve hatte es ihr zwar bei ihrer ersten Begegnung noch nicht sagen wollen, aber spätestens durch die Infotafeln hier im Museum wusste sie, dass seine Veränderung in einem Projekt namens „Rebirth" bewirkt wurde. Dazu hatte man ihm ein besonderes Serum verabreicht. Das Experiment war einzigartig, weil der Erfinder des Serums kurz danach ermordet worden war.

Ob sich seine Veränderung auch auf seine Kinder ausgewirkt hätte? Oder gab es neben dem Serum eine zweite Komponente, die auch erfüllt sein musste?

Sie musste ein wenig lächeln.

So wie er mit Antony umgeht, wäre er bestimmt ein toller Vater gewesen, ganz egal, welche Eigenschaften seine Kinder von ihm geerbt hätten.

Stellas Handy vibrierte. Sie zog es aus der Tasche und sah auf dem Display, dass Michael ihr eine Kurznachricht gesendet hatte. Sie öffnete die App, um sie zu lesen, und in ihrem Hals bildete sich ein kleiner Kloß. Vor ein paar Wochen noch hätte sie die vier kleinen Worte, die Michael geschrieben hatte, als Bekundung seines Interesses an ihr interpretiert. Heute kam es ihr vor, als wolle er nur sichergehen, dass sie nichts anstellte, weil er diese Nachrichten viel zu häufig schrieb.

Michael: Was machst du gerade?

Stella: Ich bin im Smithsonian, in der Captain America-Austellung.

Michael: Bist du allein?

Stella: Ja.

Michael: Ruf mich nachher an!

Sie schluckte und brauchte einen Moment, bevor sie das Handy wieder in ihrer Tasche verschwinden ließ. Eine ganze Schulklasse kam gerade in den Raum und Stella beschloss, ihren Platz frei zugeben, damit die Neuankömmlinge sich den Film ansehen konnten.

Zum Ende ihres Rundganges stand Stella vor einer riesigen Tafel, die Steves Freund Bucky gewidmet war. Auf der linken Seite war ein großes Porträt des jungen Mannes abgebildet. Der Text nebendran gab ein paar Einzelheiten zu ihm bekannt. Sie passten sehr zu Steves Erzählungen. James Buchanan Barnes war ein intelligenter und ebenso mutiger Mann gewesen, der Steve nicht mehr von der Seite wich, nachdem dieser ihm aus einer mehrmonatigen Gefangenschaft befreit hatte. Bucky war der Einzige des Howling Commandos gewesen, der im Einsatz ums Leben kam. Er ist in den Alpen in eine Schlucht gestürzt und sein Leichnam wurde nie gefunden.

Stella fragte sich einen Augenblick, ob es möglich wäre, dass Bucky ähnlich wie Steve durch irgendein Wunder wieder auftauchen würde.

Steve würde sich sehr freuen, ihn wieder zu haben. Aber das ist wohl leider unmöglich. Steve hatte nur durch das Serum im Eis überleben können. Diese Chance hat Bucky nicht. Wenn man ihn jetzt noch findet, werden nur noch Knochen übrig sein.

Mit dieser Erkenntnis guckte sie einen Moment lang betreten auf den Boden. Ihr war, als wäre ihr kalt und sie verschränkte die Arme.

Ich kann ihm weder Peggy noch Bucky ersetzen. Er wird für immer traurig sein, dass er sein Leben nicht mit ihnen verbringen konnte. Bin ich ihm überhaupt eine Hilfe?

Sie atmete kurz durch und blickte wieder gerade aus. Ihre Augen waren jetzt wieder auf Buckys Porträt gerichtet. Sie studierte seinen Blick.

Seine Augen waren entschlossen nach vorne gerichtet. Wenn man genau hinsah, erkannte man aber auch eine leichte Unsicherheit darin.

Vielleicht ist es nach seiner Gefangenschaft aufgenommen worden und er hatte die ersten Schrecken des Krieges bereits kennen gelernt. Aber trotzdem ist es noch der gleiche Mann, dessen Foto Steve mir damals in dem Box-Club gezeigt hatte. Das spitzbübische Grinsen fehlt. Aber im Herzen ist er immer noch derselbe, oder?

Sie versuchte sich vorzustellen, wie Buckys Stimme wohl geklungen hat und wonach er gerochen haben mag. Ihr Blick blieb erneut an seinen Augen hängen. Etwas darin fühlte sich sehr vertraut an und ließ sie für einen Augenblick, trotz des Gewusels der anderen Besucher um sie herum, völlig ruhig werden. Sie vergaß für einen Moment jegliches Zeitgefühl.

„Wie oft schaffst du es, in zehn Minuten diesen Text zu lesen?", hörte sie plötzlich Sams vergnügte Stimme hinter sich. Sie drehte sich zu ihm um und schaute in sein grinsendes Gesicht.

„Oder bist du gar nicht bis zu dem Text gekommen und gleich an dem Bild hängen geblieben?"

Ihre Wangen wurden ein wenig wärmer. „Was? Ähm... natürlich habe ich den Text gelesen."

„Und das Bild gar nicht beachtet?"

„Ich habe beides betrachtet. Ich habe mir eben die Zeit genommen, mir die ganze Ausstellung aufmerksam anzusehen. Dazu gehört auch diese Tafel", versuchte sie ihr Verhalten zu erklären.

Sam trat näher an sie heran. „Du magst ihn, oder?"

„Das weiß ich nicht. Er ist vor Jahrzehnten gestorben."

„Aber wenn er dich jetzt um ein Date bitten würde, würdest du >>ja<< sagen?"

„Ich bin verheiratet", erinnerte sie ihn. Sie holte ihr Smartphone hervor und suchte ein Familienfoto heraus, auf dem sie mit Michael und Antony zu sehen war. Sie hatten es vor einer Weile bei einem Wochenendausflug aufgenommen.

Sam lächelte freundlich. „Du bist bestimmt stolz auf deinen Sohn."

„Ja, das bin ich."

„Und da ist ja auch der Ehemann, mit dem gerade alles so rund läuft, dass man glatt blaue Flecke davon bekommt", murmelte er.

Sie hatte dies gehört und warf ihrem Gegenüber einen strafenden Blick zu. Eigentlich hatte sie gehofft, dass er nicht erneut mit diesem Thema anfangen würde. Jetzt wollte sie, dass er sofort wieder damit aufhört.

„Also gut: Du hast mir gestern Nachmittag erzählt, dass du in der Highschool getanzt hast. Mr. Barnes hat das bestimmt auch drauf gehabt. Damals hatten die ja noch nicht so viel anderes, womit sie sich beschäftigen konnten. Ich verspreche dir, sollte ich ihm durch irgendein Wunder mal begegnen, überrede ich ihn zu einem Tanz mit dir. Dann kannst du ihn kennenlernen."

„Wie soll das denn bitte möglich sein?"

Er zuckte mit der Schulter. „Captain America galt auch als verschollen und ist jetzt wieder aufgetaucht. In dieser Welt scheint irgendwie alles möglich zu sein."

Sie schüttelte mit dem Kopf. „Es ist extrem unwahrscheinlich."

„Dennoch habe ich dir jetzt das Versprechen gegeben. Das gilt." Er lächelte bewundernd. „Aber allein Captain America zu begegnen wäre schon großartig. Ich hoffe, dass er mal herkommt. Irgendwie bin ich einfach neugierig, was für ein Mann sich hinter dem Helden verbirgt, weißt du?"

Stella lächelte einfach nur freundlich und nickte. Tatsächlich glaubte sie, dass Sam und Steve sich sicher gut verstehen würden. Sam sah zwar ganz anders aus und hatte ein deutlich loseres Mundwerk als Steve, doch in manchen Punkten schienen sie sich ähnlich zu sein. Eine der Gemeinsamkeiten war der Drang unbedingt helfen zu wollen.

Sam klatschte in die Hände und sagte: „Also, hast du hier alles gesehen? Wir können noch einen Moment bleiben, wenn du magst."

„Ich habe alles gesehen. Wir können von mir aus aufbrechen."

Gemeinsam verließen sie das Museum und gingen zu Sams Auto, welches er in der Nähe geparkt hatte. Damit fuhren sie in das Krankenhaus, in dem sich Sams Schützling gerade befand.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top