57. Das Hammond-Building
Nat freute sich ein wenig auf den Besuch bei Stella. Nicht nur, weil die Frau ihr sympathisch war, sondern auch, weil sie so das erste Mal das Hammond-Building von innen sehen konnte.
Das Gebäude hatte nach dem Alien-Angriff einige Leute bei S.H.I.E.L.D erstaunt. Während des Angriffs war es den Mitarbeitern gelungen, alle Menschen in kürzester Zeit zu evakuieren. Niemand, der sich in dem Gebäude befunden hatte, ist verletzt worden, obwohl es recht dicht am Zentrum der Gefahrenzone gelegen war. Ermöglicht wurde dies durch verborgene Treppenhäuser, die in ein eigenes Tunnelsystem führten, welches wiederum mit dem U-Bahn-System der Stadt verbunden war. Das Penthouse verfügte über mehrere Geheimgänge, die entweder ebenfalls in eines der Treppenhäuser mündeten oder zu einem Qinjet führten, der sich über dem Penthouse in einem Funktionsgeschoss versteckte.
Kenai Hammond war unter S.H.I.E.L.D-Agenten berüchtigt dafür, ein extrem vorsichtiger Mensch zu sein. Einige Agenten schlossen sogar Wetten ab, wer paranoider war: Tony oder er.
Nat wusste, dass Mr. Hammond noch bis vor ein paar Jahren hin und wieder für S.H.I.E.L.D unterwegs war und auf seine eigene Weise Ermittlungen angestellt hatte. Erst kurz nachdem Tony öffentlich verkündet hatte, dass er Iron Man ist, hatte Hammond Fury mitgeteilt, dass er derartige Aufträge nicht mehr annehmen wird. Das war bisher die einzige Gelegenheit gewesen, bei der Nat Mr. Hammond persönlich über den Weg gelaufen war.
Als sie mit Steve im Foyer des Hammond-Buildings ankam, entdeckte Nat an mehreren Stellen Überwachungskameras. Ein paar von ihnen waren deutlich sichtbar angebracht, andere waren recht gut in der Holzvertäfelung an den Wänden und der Decke versteckt und konnten nur von geschulten Augen entdeckt werden.
Als die beiden an die Rezeption herantraten, konnte Nat erkennen, dass die Scheiben, hinter denen sich die zwei Sicherheitsmänner befanden, aus Panzerglas waren.
Entweder Mr. Hammond hat mal schlechte Erfahrungen gemacht oder er ist wirklich sehr vorsichtig.
„Wir würden gerne Stella Chain besuchen. Ist sie hier?", fragte Steve freundlich.
„Und wen darf ich anmelden?", fragte der Wachmann.
„Steve Rogers und ...", er guckte Nat fragend an.
„Natasha Romanoff", antwortete sie.
„Wir sind Freunde von ihr."
„In Ordnung. Bitte bleiben Sie einen Moment in dem gelben Feld stehen."
Nat blickte auf den Boden und sah, dass sie und Steve genau auf einer Markierung standen. Als sie wieder nach oben sah, entdeckte sie eine weitere Kamera.
Auf der Brille des Wachmanns spiegelte sich der Bildschirminhalt seines Computers. Er hatte die Gesichter von ihr und Steve überprüft und so ihre Identität verifiziert.
Der Mann nahm jetzt einen Telefonhörer in die Hand, wählte über die Kurzwahl eine Nummer und fragte die Person am anderen Ende, ob er die Besucher nach oben schicken durfte. Er verabschiedete sich höflich und legte auf.
Er drückte ein paar Tasten und blickte dann auf. „Aufzug 1 wird Sie nach oben bringen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag."
Die kleine Schranke neben der Rezeption ging auf und Nat stieg mit Steve in den Aufzug.
Oben angekommen öffnete sich die Kabine direkt in den großen Wohnbereich. Durch die Fensterfront am gegenüberliegenden Ende des Raumes hatte man einen guten Blick auf den Avengers-Tower.
Stella kam gerade aus dem offenen Durchgang, der in eine Küche führte. Sie begrüßte Nat und Steve mit einem freundlichen Lächeln.
„Hallo! Was führt euch hierher? Wollt ihr euch setzen?" Sie zeigte auf das große Ecksofa.
Die beiden suchten sich einen gemütlichen Platz.
„Wollt ihr was trinken? Tee? Kaffee?"
„Einen Kaffee würde ich nehmen", antwortete Nat. Steve nickte, um zu zeigen, dass er sich ihr anschloss.
Stella verschwand für ein paar Minuten in der Küche und brachte schließlich eine Schüssel mit Keksen, zwei Tassen Kaffee und eine Tasse Tee.
Steve holte aus seiner Hosentasche die Ohrringe hervor und sagte: „Eigentlich wollte ich dir nur kurz die hier vorbeibringen. Du hast sie heute morgen bei mir vergessen."
„Oh! Danke! Ich hatte schon befürchtet, dass ich sie verloren habe", sagte Stella freudig und nahm den Schmuck entgegen.
„Wie war es in New Jersey?", fragte Steve.
Stella verzog das Gesicht. „Ich habe es gar nicht hingeschafft. Es gab einen Stau im Tunnel. Michael ist jetzt ziemlich enttäuscht." Sie setzte ein zuversichtliches Lächeln auf, das jedoch nicht ihre Augen erreichte. „Aber das wird sich schon einrenken, wenn er wieder zu Hause ist und wir darüber reden können."
Steve nickte verständnisvoll. „Und was macht er dort?"
„Er versucht schon länger, einen neuen Posten zu bekommen, und hat sich jetzt dort beworben. Ich weiß nicht, worum es dabei geht, nur dass es ein recht strenges Auswahlverfahren gibt. Deswegen wünscht er sich, dass wir alle ihm die Daumen drücken."
„Will er etwa weg aus Cape Canaveral?"
„Ja, das muss er dabei in Kauf nehmen. Weißt du, er fühlt sich bei seinem aktuellen Posten nicht ausreichend gefordert. Sie lassen ihn, genauso wie seine Kameraden, die meiste Zeit nicht fliegen. Früher hat er ab und zu noch ein wenig Abwechselung durch die Luftraumüberwachung bei den Shuttle-Starts gehabt. Aber seit diese eingestellt wurden, wird der Luftraum nur noch mittels Radar überwacht."
„Wie geht es dir? Kommst du mit den Informationen von Bruce zurecht?"
„Ja, die sind sehr hilfreich. Ich werde erstmal darauf achten müssen, was ich esse. Wenn ihr diese Kekse hier komplett verschwinden lasst, wäre das völlig in Ordnung."
„Was kannst du denn dann überhaupt essen?"
„Na ja, zum Frühstück gibt es für mich morgens Rühreier statt Pancakes. Das ist auch okay."
„Und zum Abendessen kannst du dir ein Steak gönnen?", schlug Steve ahnungslos vor.
Nat musste schmunzeln, da sie merkte, dass Steve mit dem Vorschlag auf ein Fettnäpfchen zusteuerte. Wenn er nicht schon drin stand.
„Eher nicht", antwortete Stella geduldig.
„Warum nicht?"
„Wenn du bei uns übernachtet hast – habe ich dir da jemals Fleisch serviert?", versuchte sie jetzt einen Hinweis zu geben.
Steve grübelte einen Moment lang. „Ich habe mir da nie Gedanken drüber gemacht. Na ja, von früher bin ich es gewohnt die meiste Zeit über kein Fleisch zu bekommen. Es war damals ziemlich teuer und Bucky und ich hatten nicht so viel Geld." Er schaute sich im Wohnzimmer um. „Manchmal vergesse ich auch, dass das in deiner Familie wohl nicht das Problem ist. Und wenn ich mir jetzt so zuhöre, glaube ich, dass ich wie ein alter Mann klingen muss."
Stella lächelte. „Nein, du klingst nicht wie ein alter Mann."
„Doch ein bisschen schon", wandte Nat ein.
Steve ignorierte das und fragte: „Hat es dann religiöse Gründe?"
„Wenn ich das jetzt erkläre, klinge ich bestimmt wie ein Moralapostel", versuchte Stella sich heraus zu winden.
„Nein, das glaube ich nicht. Erzähl ruhig", beharrte Steve.
„Es passt eigentlich zu deiner Erzählung. In den 50ern, als die Leute immer wohlhabender wurden, wollten sie sich auch regelmäßig Fleisch leisten können. Die Massentierhaltung entwickelte sich und ermöglichte sinkende Preise. Aber in unserem Stamm lehren wir, alle Geschöpfe der Natur zu respektieren. Und Massentierhaltung hat damit nicht allzu viel zu tun. Und es ist nicht notwendig, schließlich gibt es in den Supermärkten auch ausreichend Gemüse."
Steve guckte reumütig. „Du verurteilst uns doch jetzt nicht, weil wir ab und zu Fleisch essen?"
Stella lachte. „Nein. Ihr habt erst vor kurzem die Welt gerettet, damit habt ihr schon mehr als genug getan. Und ich versuche eben mit kleinen Dingen meinen Beitrag zu leisten."
Steve musste jetzt lächeln und fragte dann: „Und wie läuft dein Tag heute sonst?"
„Eigentlich ziemlich ruhig. Antony ist mit Dad unten im neu eingerichteten Showroom und darf sich die Ausstellung ansehen. Das war ohnehin geplant. Und Mom ist mit Nicole unterwegs und trifft irgendwelche Stoffgroßhändler."
„Stimmt es, dass deine Mutter deine Kleider für solche Anlässe schneidert?", fragte Natasha.
„Nein, nicht immer. Oft macht das auch Nicole, meine Schwägerin. Das gestern war von ihr."
„Das muss wahnsinnig praktisch sein, das von jemanden aus der Familie machen lassen zu können."
„Ja, das ist es. So spare ich mir das lästige Einkaufen. Manchmal überreden sie mich aber auch, auf eine Party zu gehen, nur damit sie ihre Ideen endlich umsetzen können", lachte Stella.
„Und es passt sogar so gut, dass du genug Bewegungsfreiheit hast, um dich zu wehren", merkte Nat an.
Stella schaute sie fragend an.
„Na gestern hast du dich gut gegen Hanson gewehrt."
„Sie macht Judo zusammen mit ihrem Sohn", warf Steve unschuldig ein.
„Der Griff ist aber nicht aus dem Judo bekannt. Genauso wenig wie das, was sie bei dem Alienangriff mit dieser Stange gemacht hat. Das war erstaunlich gut, für eine Ärztin", erklärte Nat ihre Neugier.
Stella schaute etwas unsicher. „Ich weiß nicht, was ich gestern gemacht habe. Aber das bei dem Einsatz könnte aus dem Aikido stammen. Ich bin mir da selbst nicht sicher, schließlich waren das nicht gerade Wettkampfbedingungen, die da herrschten."
„Könnte?", hinterfragte Nat.
„Naja, ich habe mir in meiner Jugend neben Aikido und Okichitaw noch ein paar andere Techniken angesehen."
„Okichitaw?", fragte Nat neugierig.
„Ja, es basiert auf den traditionellen Kampftechniken der Cree und wurde mit Elementen aus den fernöstlichen Kampfkünsten angereichert. Es beinhaltet auch den Umgang mit dem Tomahawk und Langmessern."
„Das klingt spannend. Ich würde das gern mal sehen. Können wir das irgendwann einmal zusammen machen?"
„Ich glaube, da muss ich passen. Ich bin nicht wirklich gut in Form, weil ich schon lange nicht mehr regelmäßig trainiere. Du würdest vermutlich nur den Boden mit mir aufwischen", lachte Stella.
„Nein gar nicht. Zu dir wäre ich ganz lieb und vorsichtig!", beteuerte Nat.
„Ich wusste gar nicht, dass du früher schon so viel gemacht hast", stellte Steve fest.
„Nun ja, Dad wollte mich darauf vorbereiten, dass ich eines Tages vielleicht den Titel des Qaletaqa von ihm übernehme. Qaletaqa bedeutet >>Hüter des Stammes<< und Dad legt Wert darauf, dass derjenige, der diesen Titel trägt, ihn auch halbwegs glaubwürdig ausfüllt."
„Das heißt auch dein Dad beherrscht mehrere Kampfsportarten?"
„Ja. Das bedeutet aber nicht, dass er mit der Axt in der Hand durch die Gegend zieht, um unsere Landesgrenzen zu verteidigen", scherzte Stella.
Nat musste innerlich schmunzeln, da sie wusste, dass Kenai Hammond genau so etwas gemacht hat, wenn er für S.H.I.E.L.D gearbeitet hat. Offenbar hatte er seine Familie darüber aber im Dunkeln gelassen.
„Und wirst du diesen Titel übernehmen?", hakte Nat nach.
„Nein. Meine Großmutter hat ihn irgendwann davon überzeugt, dass ich nicht die richtige Person dafür bin. Sie findet, dass ich lieber ihren Titel übernehmen soll. Sie ist die Medizinfrau unseres Stammes."
„Ja, das passt wohl", bestätigte Natasha.
Es legte sich eine nachdenkliche Stille über den Raum.
Der nächste in der Erbfolge ist dann ihr Sohn, dachte Natasha. Das wird interessant zu beobachten, wie er heranwächst.
Nach einer Weile unterbrach Nat die Stille. „Wir müssen heute noch weiter und etwas erledigen. Es war nett, mit dir zu plaudern."
„Es war schön, dass ihr hier wart", sagte Stella, bevor sie Nat die Hand reichte und Steve zum Abschied umarmte.
Als Nat und Steve im Aufzug auf dem Weg nach unten waren, spürte Nat seinen fragenden Blick auf sich ruhen.
„Was denn?"
„Ich wundere mich über die Fragen, die du ihr gestellt hast", sagte Steve.
„Wunderst du dich nicht mehr über die Antworten?"
„Auch. Ich weiß nicht, was du vorhast, aber ich habe Kenai mein Wort gegeben, Stella aus dem heraus zu halten, was Fury und S.H.I.E.L.D tun. Sie ist in diese Sachen nicht eingeweiht."
„Tatsächlich?"
„Ja."
„Hat bei dem Alienangriff hervorragend geklappt."
„Das muss ein unglaublicher Zufall gewesen sein."
„Wenn du meinst."
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