54. Der Kater

Am Morgen war der Himmel über New York leicht bewölkt. Die Sonnenstrahlen kämpften sich einen Weg durch die Lücken in den Wolken, schienen durch das Fenster und begannen Stella langsam wach zu kitzeln.

Als Kopfkissen hatte sie einen muskulösen Oberarm missbraucht. An ihrem Rücken spürte sie die Vorderseite des zugehörigen Mannes und er hatte den anderen Arm vorsichtig um ihre Taille gelegt.

Sie ließ ihre Augen noch geschlossen und lächelte, während sie sich zurücklehnte und ein wenig fester an ihn schmiegte. Er atmete hörbar ein und entspannt wieder aus und drückte sie mit seinem Arm näher an sich.

Er hat schon lange nicht mehr so mit mir gekuschelt. Das ist schön. Hoffentlich geht es noch lang, bis der Wecker klingelt.

Durch das Sonnenlicht wurde sie allmählich wacher. Sie hörte hinter sich einen mechanischen Wecker ticken. Sie nahm das Geräusch mit jeder Sekunde bewusster wahr.

Seit wann haben wir so ein Ding bei uns im Schlafzimmer? Wer kann denn dabei schlafen?

Vorsichtig öffnete sie die Augen und blinzelte. Ihr Kopf dröhnte und sie wollte die Augen am liebsten wieder schließen, aber der Ausblick, den sie von ihrem Schlafplatz aus hatte, ließ sie wacher werden. Dies war nicht ihr Schlafzimmer im Penthouse ihrer Eltern.

Wo sind wir?

Sie drehte langsam ihren Kopf, um ein wenig mehr von ihrer Umgebung zu erfassen, ohne den Mann hinter ihr zu wecken. Sie versuchte einen Hinweis darauf zu finden, was passiert war, denn in ihrer Erinnerung klaffte ein großes Loch.

Ich hatte Michael aus den Augen verloren. Aber wann haben wir uns wieder gefunden? Und warum sind wir hier? Ist dies ein Hotel?

Sie erhaschte einen Blick auf seine Arme.

Das sind nicht Michaels Arme! Sie sind muskulöser und weniger braun als seine. Bin ich etwa mit einem Fremden mitgegangen?

In ihrem Blickfeld konnte sie keinerlei persönliche Gegenstände sehen. Sie tastete vorsichtig nach ihrer Kleidung.

Was auch immer ich da anhabe, wenigstens bin ich vollständig angezogen. Auch wenn ich nicht weiß, wann und wie ich mich umgezogen habe. Wie konnte das passieren?

Sie versuchte ein paar Mal tief ein- und auszuatmen, um ruhig zu bleiben. Plötzlich fiel ihr auf, zu wem sowohl diese Muskeln als auch der altmodische Wecker passen könnten.

„Steve?"

„Hmm ... ja? Ist alles in Ordnung?", antwortete er leicht verschlafen.

Oh je! Was habe ich bloß mit ihm angestellt?

Ihr wurde schlagartig warm und sie überlegte, welche Frage sie zuerst stellen sollte.

„Was ist gestern Abend passiert? Eigentlich ist es nicht meine Art, mich zu betrinken, aber ich muss es gestern trotzdem getan haben ...", stammelte sie.

Er richtete sich ein wenig auf.

„Du hast nur ein halbes Glas Champagner getrunken", erklärte er ruhig. „Jemand hat dir etwas ins Glas geschüttet, damit du schneller betrunken wirst."

„Was?", fragte sie entsetzt.

„Bruce hat dich deswegen noch letzte Nacht untersucht. Er meint, dass es bewirkt hat, dass du Kohlenhydrate zu Alkohol verdaust. Ich kann das leider nicht so genau erklären wie er. Aber er wollte dir die Details in eine E-Mail schreiben."

„Okay. Aber wer hat das getan?"

„Tony verdächtigt Clark Hanson, weil der sich später an dich herangemacht hat."

Bei dem Gedanken daran, dass sie sich auf diesen Mann eingelassen haben könnte, stieg Galle ihre Speiseröhre hinauf. Sie schluckte, um das widerliche Gefühl zu unterdrücken.

„Tony ist dazwischen gegangen und hat dich zu uns gebracht."

Stella atmete erleichtert aus. „Gut, dass ich auf einer Party mit Freunden war. Ich hoffe ich habe nichts angestellt und euch irgendwie in Verlegenheit gebracht."

„Nein, du hast dich einfach nur friedlich mit uns unterhalten. Später fanden wir es dann besser, dich hier im Tower übernachten zu lassen. Na ja, weil man betrunkene Freunde einfach nicht allein lässt. Ich habe deine Eltern angerufen und ihnen Bescheid gegeben. Sie kümmern sich um Antony."

Sie drehte sich zu ihm um, sah ihm in die Augen und verlor sich für einen Moment in seinem Blick. Er war aufrichtig und besorgt.

„Dann hast du auf mich aufgepasst? Danke!", sagte sie erleichtert. „Ich hoffe, dass ich auch dich nicht in Verlegenheit gebracht habe."

„Nein, hast du nicht." Seine Wangen röteten sich leicht. „Und ich versichere dir, dass ich dir auch nicht näher als jetzt gekommen bin. Nat hat dir in den Schlafanzug geholfen. Eigentlich wollte ich auf dem Boden schlafen, aber du bist immer wieder aus dem Bett gepurzelt. Ich wollte nicht, dass du dir noch mehr weh tust."

„Deswegen tut meine Schulter weh", folgerte sie.

„Ja, leider konnte ich das nicht ganz verhindern. Soll Bruce nachher nochmal nach dir sehen?"

Sie lächelte milde. „Nein es geht schon. Es ist alles gut." Sie rieb sich den letzten Schlaf aus dem Gesicht.

„Aber wo ist Michael?", fragte sie.

Er zuckte mit der Schulter. „Wir haben ihn auf der Party nicht mehr gefunden. Über sein Handy war er auch nicht erreichbar, aber ich habe ihm eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen. Du hast uns erzählt, dass er einen Termin auf einer Air Base hat und vielleicht deswegen früh gegangen ist."

Ihre Augen weiteten sich, jetzt war sie hellwach. „Ja, das ist wahr. Wir wollten heute früh zusammen nach New Jersey fahren. Ich hatte ihm versprochen, mich dort von ihm zu verabschieden, weil er ein paar Tage unterwegs sein wird. Wie spät ist es?"

Sie sah sich nach dem Wecker um und erschrak, als sie die Uhrzeit sah. „Oh je! Ich muss schon in zwei Stunden dort sein!"

Sie sprang auf und sah sich suchend um.

„Dein Kleid ist im Bad. Ich habe dir dort auch eine Zahnbürste hingelegt."

„Danke!", sagte sie eilig und verschwand im Bad.

**

Steve guckte die Badezimmertür an, hinter der Stella soeben verschwunden war. Er hoffte immer noch, dass er ihr nicht zu nahe getreten war. Doch im Moment hatte sie es extrem eilig, hier wegzukommen. Damit hatte sich erstmal auch die Frage erledigt, ob er sie auf das Gespräch von letzter Nacht ansprechen könnte, denn dies wäre auch ohne ihre Eile schon schwer genug.

Nach wenigen Minuten kam sie aus dem Bad wieder heraus. Sie hatte die Reste ihres Make-ups entfernt und ihre Haare ordentlich frisiert. Den grauen Anzug hatte sie gegen ihr Kleid getauscht, welches sie an der Vorderseite festhielt.

Mit einem verschämten Blick fragte sie: „Kannst du mir helfen, den Reißverschluss zuzumachen? Ich komme nicht ran."

„Okay", sagte er und spürte, wie seine Wangen wärmer wurden, während sie sich umdrehte.

Er hatte jetzt einen freien Blick auf ihren Rücken. Nur ein kleines Stück davon wurde durch ihren BH verdeckt.

Der Anblick ließ ihn leise schlucken. Die glatte, zarte Haut ihres Rückens war mit langen Narben, die von oben nach unten gingen, durchzogen. Was auch immer ihr passiert war – es musste schmerzhaft gewesen sein. Er war versucht vorsichtig mit dem Finger eine der Narben entlang zu fahren, so als könnte die Berührung sie heilen. Er unterdrückte den Impuls.

Er merkte, wie sie sich anspannte. Er hatte schon viel zu lang gestarrt und suchte schnell eine Ausrede hierfür, bevor er den Zipper nahm und vorsichtig nach oben zog.

An ihrem linken Schulterblatt entdeckte er dabei ein Tattoo – die perfekte Erklärung für die unangenehm langen Sekunden.

Er räusperte sich und fragte: „Du bist tätowiert? Ich meine außer deinem Ehering. Ist das ein Sternbild?"

„Ja, es ist das Sternbild Lupus."

„Der Wolf?"

„Ja, ich mag Wölfe irgendwie."

Sie merkte, dass er fertig war, und drehte sich wieder um. Sie ging zum Schreibtisch und zog sich ihre Schuhe an, die sie dort abgestellt hatte.

Steve war aufgestanden und sah jetzt zu, wie sie sich noch ihre Handtasche schnappte, bevor sie noch einmal auf ihn zu kam, um ihn herzlich zu umarmen.

„Danke dafür, dass du auf mich aufgepasst hast!"

Er erwiderte die Umarmung und sagte: „Das war selbstverständlich. Ich bin froh, dass es dir gut geht."

Sie lächelte ihn noch einmal kurz an, bevor sie sagte: „Ich muss jetzt wirklich los, wenn ich noch rechtzeitig da sein will."

„Die Straßen sind um die Uhrzeit immer recht verstopft – bist du sicher, dass du das noch schaffen kannst?"

„Nein, eigentlich nicht. Aber ich muss es versuchen. Michael wird enttäuscht sein, wenn ich nicht da bin."

Sie eilte zur Tür, öffnete sie und stürmte hindurch. Steve trat hinaus auf den Flur und sah ihr hinterher. Sie rannte fast in Clint hinein, der gerade um die Ecke gebogen war, und verschwand schließlich hinter der gleichen Ecke.

Eigentlich hatte Steve ihr noch ein Frühstück anbieten wollen, doch jetzt war er einfach nur erstaunt, wie sie in diesen Schuhen so schnell flitzen konnte.

Clint zog die Augenbrauen nach oben und fragte: „Was ist denn da passiert?"

„Sie will in weniger als zwei Stunden in der Air Base in New Jersey sein."

„Sie weiß aber schon, dass gerade Rushhour ist? Das ist ein extrem sportliches Vorhaben."

„Wie war die Mission?", fragte Steve, bevor Clint zu weiteren Fragen ansetzen konnte.

Clint verzog missmutig das Gesicht. „Besprechen wir nachher. Ich gehe mich jetzt erstmal umziehen und dann frühstücken", sagte er und verschwand in seinem Zimmer.

Steve ging zurück in sein Zimmer, zog sich dort für den Tag an und wollte dann auch frühstücken gehen, als er etwas auf seinem Schreibtisch glitzern sah. Stella hatte in der Eile ihre Ohrringe dort vergessen.

**

Auf der Straße vor dem Tower angekommen, war Stella froh, schnell ein freies Taxi zu erwischen.

Sie stieg ein und nannte dem Fahrer ihr Ziel.

„Da werden wir aber fast zwei Stunden fahren", bemerkte der Mann am Steuer.

„Das ist mir bewusst. Aber ich habe es recht eilig und einen schnelleren Weg gibt es nicht."

„Wie Sie wollen. Einmal nach New Jersey, geht sofort los", sagte der Fahrer, fädelte den Wagen in den Verkehr ein und drehte seine indische Musik etwas lauter.

Er fuhr so schnell, wie es die Straßen zuließen, und nutzte jede Lücke, um voranzukommen. Stella musste sich in den Kurven festhalten, um nicht unkontrolliert in ihrem Sicherheitsgurt umhergeworfen zu werden.

Vor der Einfahrt in den Lincoln-Tunnel kam der Verkehr schließlich zum Stillstand. Der Fahrer fluchte kurz und nahm dann über sein Funkgerät Kontakt mit seiner Zentrale auf. Es gab einen kurzen Wortwechsel, den Stella nicht verstand.

Schließlich schüttelte der Fahrer resigniert den Kopf. „Es gab einen Unfall im Tunnel. Jetzt lassen sie nur wenige Autos auf einmal durch. Das wird noch ewig gehen. Alle anderen Routen sind leider auch verstopft."

Stella holte ihr Smartphone aus der Handtasche und seufzte, als sie die Uhrzeit sah. „Ich telefoniere kurz, dann sehen wir was wir machen", schlug sie vor.

Der Taxifahrer nickte und machte es sich bequem, während das Taxameter weiter zählte.

Stella hatte Michaels Nummer gewählt. Es klingelte ein paar Mal, bevor er abhob.

„Stella, wo steckst du?", fragte er gehetzt.

„Es tut mir leid, ich bin im Taxi. Wir stecken gerade vor dem Lincoln-Tunnel fest ..."

„Du bist noch in Manhattan? Was soll das? Warum bist du nicht hier? Verdammt! Du hattest versprochen hier zu sein! Interessiert dich das hier gar nicht?"

„Michael, bitte entschuldige, ich habe es versucht. Ich ..."

Bevor sie zu einer Erklärung ansetzen konnte, unterbrach er sie und sagte in einem kalten Tonfall. „Versuchen reicht einfach nicht. Weißt du was? Bleib doch einfach, wo du bist!" Ohne ein weiteres Wort legte er auf.

Ein Kribbeln stieg ihre Nase hoch und drückte Tränen in ihre Augen. Sie blinzelte und atmete kurz durch, um das Gefühl zu unterdrücken. Dies hier war nicht der richtige Ort dafür.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass der Fahrer fragend in den Rückspiegel blickte.

„Können Sie wenden und stattdessen zum Hammond-Building in Midtown fahren?"

Jetzt drehte er sich um und schaute sich ihr Gesicht genauer an. „Zum Hammond-Building? Sind Sie ...?"

Sie lächelte freundlich und nickte. „Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn dieser Ausflug unter uns bleibt."

„Okay, einmal zurück nach Midtown. Sie wissen schon, dass Sie auch auf einem schnelleren Weg vom Avengers Tower zum Hammond-Building gekommen wären?"

„Manchmal läuft der Tag eben anders als geplant."

Der Fahrer nickte und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Verkehr. Als sie am Hammond-Building ankamen, dirigierte Stella ihn in eine Seitenstraße neben dem Gebäude, da sie nicht zum Haupteingang hinein gehen wollte. Sie gab ihm das Geld für die Fahrt und schlug ein großzügiges Trinkgeld auf. Bevor sie die Autotür zuschlug, wünschte sie dem Mann einen schönen Tag.

Durch den Seiteneingang kam sie fast direkt auf die verglaste Rezeption im Foyer zu. Einer der diensthabenden Wachmänner blickte auf, erkannte sie, nickte freundlich und ließ sie durch die kleine Schranke gehen, die den hinteren Teil mit den Aufzügen vom Rest abtrennte.

Sie stieg in den Aufzug und fuhr damit in das Penthouse. Auf dem Weg nach oben schloss sie kurz die Augen. Sie freute sich auf eine warme Dusche und darauf, sich bequeme Kleidung anzuziehen.

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