53. Die Nacht

Nachdem Natasha gegangen war, drehte sich Steve um und sah, dass Stella bereits schlief. Er ging ins Bad und machte sich bettfertig. Als er zurückkam, schaltete er das Licht aus und legte sich auf seinen provisorischen Schlafplatz auf dem Boden.

Steve hatte keine Ahnung, wie er die Fenster verdunkeln konnte, weswegen jetzt die Lichter der Stadt und der Mond ungehindert in das Zimmer eindringen konnten. Von seinem Platz aus konnte er Stellas Silhouette auf dem Bett erkennen.

Er versuchte, es sich bequem zu machen und die Augen zu schließen, aber er konnte nicht davon ablassen nach Stellas Atemgeräusch zu lauschen und dadurch sicherzugehen, dass noch alles in Ordnung war.

Stella drehte sich nach einer Weile unruhig umher und fiel plötzlich mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Steve richtete sich sofort auf und sah nach ihr. Es schien alles in Ordnung mit ihr zu sein, denn sie brummte einfach nur müde und kroch zurück ins Bett. Das wiederholte sich noch einmal.

Wenig später schreckte sie aus dem Schlaf auf und rief: „Steve!" Gleich darauf rollte sie erneut aus dem Bett und landete unsanft auf ihrer Schulter. „Autsch!", sagte sie und sah sich suchend um.

Steve war aufgesprungen und kniete sich neben sie. „Ist alles in Ordnung?"

„Steve?"

„Ja, hier bin ich."

„Das ist gut", sagte sie und klammerte sich an ihn.

Er nahm sie sanft in den Arm. „Hast du dir weh getan?"

„Nicht schlimm", sagte sie, doch gleich darauf fing sie an zu weinen.

„Hey, was ist denn los?", fragte er leise.

Nach ein paar tiefen Atemzügen hob sie den Kopf von seiner Schulter und sah ihm ins Gesicht.

„Versprich mir, dass du so bleibst wie du bist!", forderte sie.

„Warum sollte ich mich ändern?"

„Du darfst dich nicht von deinem Zorn beherrschen lassen. Egal was passiert. Du könntest sonst einen schlimmen Fehler machen. Einen, den man nicht wieder gut machen kann."

Was mag sie geträumt haben, dass sie jetzt auf so etwas kommt?

„Was glaubst du, was passieren wird?"

„Dein Zorn könnte dich dazu treiben, einen Mann zu erschlagen. Einen der bereits am Boden liegt. Und ich weiß, dass du eigentlich viel besser bist als das."

„Interessierst du dich deswegen immer so sehr für mein Wohlbefinden? Weil du glaubst, dass ich so etwas tun könnte?"

„Deswegen und weil ich dich sehr lieb habe", sagte sie und schmiegte sich wieder an seine Schulter an.

„Ich kann mir nicht vorstellen, was mich dazu treiben könnte ..."

„Versprich mir einfach, dass du nichts in dich hinein frisst. Rede mit jemanden, wenn dich etwas belastet. Ich bin für dich da und höre zu."

„Ich verspreche dir, dass alles in Ordnung ist, okay?"

Sie nickte und beruhigte sich allmählich. Langsam wurde sie wieder schläfrig.

Steve überlegte, was er jetzt machen sollte. Er befürchtete, dass sie immer wieder aus dem Bett fallen könnte, wenn er sie weiter alleine darin schlafen ließ. Gleichzeitig war ihm der Gedanke daran, direkt neben ihr zu schlafen, unangenehm. Er mochte zwar ihre Gesellschaft, aber er befürchtete, damit zu weit zu gehen.

Seufzend hob er sie vorsichtig hoch, legte sie auf dem Bett ab und deckte sie zu. Er holte sich die zweite Decke vom Boden und legte sich damit neben Stella. Er lag auf der Seite und sah sie an. Sie drehte sich zu ihm und kuschelte sich an.

„Hast du vorhin eigentlich schlecht geträumt?", fragte er sie.

„Ja. Den gleichen Traum hatte ich schon einmal, bevor wir uns kennengelernt haben. Damals dachte ich, dass es ein Traum war. Aber er hat sich wiederholt. Grandma Inola deutet so etwas immer als ein Zeichen für eine Vision." Sie kicherte: „Ich weiß, dass es verrückt klingt. Lach mich bitte trotzdem nicht aus! Und er erzähle es nicht Michael. Er versteht das nicht."

„Nein, mache ich nicht."

Steve erinnerte sich daran, dass Antony ihm von einer Vision erzählt hatte, die Stella hatte und die den Angriff auf New York gezeigt hatte.

„War der Traum von dem Angriff auf New York auch eine Vision?", hakte er jetzt nach.

„Hmm ... vielleicht ... Loki war da. Und Clint auch. Loki hatte ihn irgendwie verzaubert."

Also eine Vision. Man sagt, dass Kinder und Betrunkene die Wahrheit sagen. Ist dann eine Geschichte, die man sowohl von einem Kind als auch von einer Betrunkenen gehört hat, erst recht wahr? Sie wird sich wahrscheinlich morgen nicht mal mehr an dieses Gespräch erinnern. Ob es dann noch eine Chance gibt, sie darauf anzusprechen?

„Und immer wenn du diese Visionen hast bekommst du auch Kopfschmerzen und Nasenbluten?", folgerte er.

„Nein, nicht immer. Nur bei den ganz schlimmen. Ich will diese Sachen einfach nicht sehen."

„Also gibt es auch schöne Visionen?"

„Na klar. Das Leben hält doch auch schöne Dinge für uns bereit!"

„Was zum Beispiel?"

„Ich träume seit meiner Jugend immer wieder von einem Tier. Grandma hat es auch in ihren Träumen gesehen und glaubt, dass es ein Hinweis auf den einen Mann für mich ist."

„Ein Tier?"

„Ja."

„Was für eins?"

„Ein weißer Wolf. Mit leuchtend blauen Augen."

„Und was macht er?"

„Hmm ... unterschiedlich. Manchmal steht er einfach nur da und starrt mich an, bis es mir auf die Nerven geht und ich ihn verscheuchen will. Andere Male wirkt er ganz verängstigt und verletzt, so dass ich ihn einfach nur knuddeln und versorgen möchte. Und es kommt vor, dass er sich an mich ankuschelt, um mich zu trösten. Oder sich einfach schützend neben mich legt, so als ob er nichts Böses an mich heranlässt. Manchmal verliere ich mich in seinem Blick - er kann so treu gucken", schwärmte sie.

„Wie oft träumst du von ihm?"

„Unregelmäßig. Es können Wochen, Monate oder Jahre dazwischen liegen. Vielleicht zu den Zeitpunkten, an denen der eine den anderen gebraucht hätte? Ich weiß es nicht. Seit ich mit Michael zusammen bin, habe ich eigentlich nicht mehr von ihm geträumt. Vielleicht weil wir uns gefunden haben."

„Du glaubst, dass Michael der Wolf ist?"

„Ja klar. Er hat blaue Augen. Er kümmert sich um mich und Antony und passt auf uns auf. Wer sollte es sonst sein?"

Steve ließ das eben Gehörte einen Augenblick sacken.

Sie glaubt, dass dieser Traum ihren Mann fürs Leben zeigt. Und sie ist überzeugt, dass es sich um Michael handelt. Während alle anderen an ihm zu zweifeln scheinen.

Er beschloss die Frage, die ihm auf der Zunge lag, auszusprechen. „Und du bist sicher, dass es Michael ist?"

Statt einer Antwort hörte Steve sie nur gleichmäßig und ruhig atmen. Sie war wieder eingeschlafen und schmiegte sich vertrauensvoll an ihn.

So wie Michael sich in letzter Zeit gegeben hat, wirkt er nicht wie der Wolf, den sie beschrieben hat. Er mag zwar blaue Augen haben. Aber er ist nicht treu. Und er passt nicht wirklich auf sie auf.

Steve ließ sich dazu hinreißen, sie sanft auf die Stirn zu küssen und einen Arm um sie zu legen. Sie kuschelte sich noch ein wenig fester an ihn an.

Aber wer könnte ihr Wolf sein? Ich habe blaue Augen, aber sie haben einen leichten Grünstich, behaupten manche – würde das trotzdem zählen? Zumindest bin ich im Moment derjenige, der schützend neben ihr liegt.

So eng, wie sie sich an ihn gekuschelt hatte, umhüllte der Duft ihrer Haare seine Nase. Ihr Körper fühlte sich angenehm warm an. In seinem Halsausschnitt spürte er ihren Atem. Er hörte ihren ruhigen Herzschlag. Sein eigenes Herz wollte nicht aufhören, zu pochen, denn diese Nähe verunsicherte ihn. Noch nie zuvor hatte er sich mit einer Frau ein Bett geteilt. Vielleicht mal als kleiner Junge mit seiner Mutter, aber dies hier war etwas anderes. Es fühlte sich zur gleichen Zeit richtig und falsch an.

Es fühlte sich gut an, weil er auch tagsüber ihre Umarmungen mochte. Sie hatten etwas Heilsames an sich. Außerdem konnte er sich so ganz sicher sein, dass ihr nichts passiert. Würde sich daran etwas ändern, würde er es sofort merken. Es war ihm wichtig, sie in Sicherheit zu wissen. Er wollte, dass es ihr gut ging.

Es fühlte sich falsch an, weil sie eigentlich nur gute Freunde waren. Er hatte Angst, dass er hiermit eine Grenze überschritt. Er befürchtete, dass er ihre Situation gerade zu schamlos ausnutzte und sie ihm dies möglicherweise nicht verzeihen würde, wenn sie wieder nüchtern war. Und dass er dadurch letztlich auch ihre Freundschaft gefährdete. Außerdem beschlich ihn das Gefühl, dass er dabei auch einen guten Freund betrügen würde. Aber er war nicht davon überzeugt, dass Michael dieser Freund war.

Wer ist der Wolf? Oder ist es doch nur ein Traum?

Trotz aller Zweifel begann er sich ein wenig zu entspannen. Doch seine Gedanken kreisten immer noch weiter.

Darf sich ihre Nähe so gut anfühlen? Mit Peggy hatte ich nie die Gelegenheit, so weit zu kommen ... Wie es sich mit ihr wohl angefühlt hätte? Wäre ich überhaupt so weit gekommen, auch wenn ich nicht im Eis gelandet wäre? Das wäre schön gewesen.

Er seufzte leise.

Und deswegen bin ich wohl nicht der Wolf. Ich könnte ihr nie gerecht werden, weil mir Peggy immer noch fehlt. Aber auch wenn der Wolf nur ein Traum sein sollte, ist die Vorstellung sehr romantisch, dass er den einen Mann für sie repräsentiert. Warum gibt Michael sich nicht einfach ein wenig mehr Mühe? Tanzen zum Beispiel ist nicht so schwer. Das kann man schnell lernen, wenn man es will. Und sie wirkte nicht so, als würde sie jeden Schritt kritisieren. Sie wusste allein schon die Geste zu schätzen.

Nach einem langen Atemzug hustete sie kurz, schlief dann aber friedlich weiter. Als Steve sich sicher war, dass alles gut war, entspannte er sich wieder.

Bucky hat genauso gerne getanzt wie sie. Er hätte sie gemocht, oder? Vielleicht auch nicht. Sie ist manchmal ein bisschen wie seine Freundin Dolores und die hat ihm ziemlich weh getan, als sie ihn verließ. Aber wir werden es nie herausfinden. Sie können sich nicht mehr begegnen – er ist vor Jahrzehnten gestorben.

Er versuchte, alle seine Gedanken beiseite zu wischen, und sich auf den Moment zu konzentrieren. Er begann ihre Nähe zu genießen und wollte sie am liebsten ewig in seinen Armen halten. Doch er wusste, dass schon in wenigen Stunden der Morgen anbrechen würde und er sie dann loslassen musste. Er hoffte, dass ihr Schreck beim Aufwachen nicht allzu groß sein würde.

Schließlich schloss er seine Augen und schlief ein. Für ein paar Stunden hatte er einen so erholsamen Schlaf, wie schon lange nicht mehr.

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