52. Die Untersuchung

„Verdammt, wo bekommt man denn so was zu Gesicht?", stieß Clint leicht entsetzt hervor, als Tony gerade zur Sitzecke zurückkehrte. Gleich darauf stellte der Blonde resigniert seinen Teller mit Häppchen auf dem Couchtisch ab und rümpfte die Nase, so als ob er einen kleinen Kampf mit seinem Magen führte.

„Was ist denn los?", wollte Tony wissen und setzte sich dazu.

Natasha musste immer noch über Clints Reaktion lachen. „Er ist selbst schuld. Er hat in die Runde gefragt, was die fieseste Verletzung war, die man gesehen hat. Und na ja, Stella hat wohl gewonnen."

Clint schob seinen Teller jetzt zu Stella herüber. „Und der Hauptpreis ist dieser Teller mit Pastetchen."

„Wir hätten ihm vielleicht vorher sagen sollen, dass Stella eine Ärztin ist und im Kriegseinsatz war ...", grinste Tony.

„Oh, danke! Das habe ich jetzt mal aus dem Kontext geschlossen!", beklagte sich Clint.

„Aber damals war ich noch keine Ärztin", wandte Stella unschuldig ein.

„Nicht?", fragte Tony.

„Nein, da war ich nur als Helferin unterwegs. In den Sommerferien, Mitte der 90er."

„Ich dachte immer, dass du bei diesen Einsätzen einfach nur Reissäcke verteilt hast ..."

„Was hätte ich denn dabei gelernt?"

Tony zuckte mit der Schulter. „Keine Ahnung. Wieviel Reis ein Mensch braucht, um satt zu werden, vielleicht. Bist du dann etwa für die Nummer mit den Tretminen verantwortlich?"

„Nein, aber meine Erzählungen haben meinen Dad vielleicht inspiriert."

„Klingt nach einer Geschichte, die wir jetzt hören wollen!", forderte Natasha.

„Also gut", sagte Stella. „Damals hat Tony meinen Dad immer wieder genervt. Er wollte unbedingt so ein ... naja ...", sie überlegte einen Augenblick. „Na ein Dingsda halt haben ..."

„Dingsda?!", wiederholte Tony amüsiert.

„Ja genau. Immer wieder hast du ihn gefragt, warum du denn das Dingsda nicht haben kannst. Zur gleichen Zeit hatte Dad gerade ein Projekt gestartet, um Krisengebiete von Tretminen zu befreien. Er hatte dadurch einen ganzen Haufen entschärfter Exemplare. Und jetzt ratet mal wessen Firma die Dinger hergestellt hatte ..."

„Das ist längst Geschichte und ich hatte das auch nicht selbst entschieden!", verteidigte Tony sich.

Stella fuhr fort: „Eines Tages hat Dad dann einen Container voll mit den leeren Gehäusen vor Tonys Hauptquartier abgeladen. Und ein Begleitschreiben dazu gepackt. Die einzige Zeile darin war: >>Darum nicht.<<. Unser lieber Tony hier hat das sofort richtig verstanden und die Produktion der Minen eingestellt", beendete sie ihre Erzählung.

„Du hast die Geschichte nicht vollständig erzählt", wandte Tony ein. „Nachdem ich die Einstellung der Produktion verkündet habe, hatte ich deinem Dad einen Brief zurückgeschickt. Drin stand: >>Und jetzt?<<. Und weißt du was? Er hat mir bis heute keine vernünftige Antwort gegeben!"

„Willst du etwa immer noch das Dingsda?"

„Nein, ich weiß, dass er inzwischen ein Dingsbums entwickelt hat ... das will ich jetzt haben!", lachte Tony.

„Werde ich ihm ausrichten!"

Stella zeigte auf den Teller mit den Häppchen und schaute Clint an. „Willst du das wirklich nicht mehr essen?"

Clints Gesicht hatte inzwischen wieder eine normale Farbe angenommen und er wägte kurz ab. „Wir teilen uns die Portion und danach hole ich vielleicht noch eine neue", schlug er vor.

„Das ist lieb, danke!", freute sich Stella und nahm sich eines der Pastetchen.

Tony beobachtete sie einen Augenblick lang. Ihm fiel auf, dass sie jetzt betrunkener wirkte als zu dem Zeitpunkt, an dem er sie hier abgesetzt hatte. Er beugte sich hinter ihr zu Steve. „Sie hat doch nur noch Wasser getrunken, seit sie hier sitzt?"

„Ja, das Glas, das ich ihr vorhin gebracht habe", bestätigte Steve. „Clint und ich haben sie überredet, ein paar von den Häppchen zu essen, damit sie auch was Festes im Magen hat."

Tony bekam den leisen Verdacht, dass Stellas Zustand vielleicht nicht nur mit ihrem Champagnerglas zusammenhing. Er wandte sich jetzt an sie: „Sag mal, hast du vorher auch schon was von den Häppchen gegessen? Bevor ich dich hierhergebracht habe?"

„Nein. Ich habe sie alle von Clint stibitzt", antwortete sie. „Findest du etwa, ich esse zu viel?"

Er hob verteidigend die Hände. „Nein, auf keinen Fall. Ich wollte nur wissen, wie du sie findest ..."

„Sie sind gut."

Tony beobachtete seine Freundin weiter. Am Anfang des Abends hatte er sich noch gewünscht, dass sie heute ein wenig entspannen konnte und sich vielleicht lockerer verhalten würde, als er es in den letzten Jahren bei ihr gesehen hatte. Jetzt war sie zwar gut gelaunt, aber sie tat ihm leid, weil sie ungewollt betrunken war. Es ärgerte ihn, dass so etwas passieren konnte, und er nahm sich vor, Clark Hanson für alle seine Veranstaltungen Hausverbot zu erteilen.

Happys Stimme riss Tony aus seinen Gedanken. Er hatte sich hinter das Sofa gestellt, um Tony etwas zuflüstern zu können. „Nachdem ich vorhin den Müll rausgebracht habe, habe ich mich nach ihrem Mann umgesehen. Er ist hier nirgends. Inzwischen sind auch viele Gäste nach Hause gegangen und es wird hier langsam echt überschaubar."

Stella hatte ihn gehört. „Vielleicht ist er schon nach Hause gefahren. Er muss morgen ganz früh in der Air Base sein, weil er da so eine wichtige Sache hat", überlegte sie.

Tony seufzte. „Das wäre eine Erklärung ... Aber er hätte sich ja zumindest verabschieden können."

„Ich gehe dann wieder nach vorne und schaue, ob da alles in Ordnung ist", sagte Happy und ging in Richtung Eingangsbereich.

Als sich der Abend dem Ende näherte, wurde Stella müde und lehnte sich an Steves Schulter an.

Pepper gesellte sich zu der Gruppe dazu und setzte sich neben Tony.

„Die letzten Gäste sind gerade gegangen", sagte sie. „Jetzt sehnen sich meine Füße danach, diese Schuhe loszuwerden."

Tony sah Pepper mit seinem treuesten Blick an. „Bevor ich mit dir mitkommen kann, muss ich noch eine Kleinigkeit erledigen. Jemand hat etwas in Stellas Glas geschüttet und ich möchte wissen, was das ist."

Pepper sah Stella skeptisch an und schaute danach Tony in die Augen.

„Es dauert auch nicht lang", versprach er.

„Also gut. Ich gehe schon mal ins Bett. Mach nicht zu lange", lenkte Pepper ein.

Die Gruppe ging zum Aufzug und stiegen in der Etage mit den Laboren aus, während Pepper und Clint weiter in die Wohnetagen fuhren. Bruce nahm Stella und Natasha mit in das Labor und bat die anderen, draußen zu warten.

**

Steve verbrachte die Wartezeit zusammen mit Tony in einem Besprechungsraum gegenüber von Bruces Labor. Dort nutzte er ein Telefon, um Michael anzurufen. Doch statt Michael antwortete nur der Anrufbeantworter. Steve hinterließ eine Nachricht.

Anschließend versuchte er es bei Stellas Eltern und erreichte Susan.

Kurz nachdem Steve seine Telefonate beendet hatte, kam Bruce und holte die beiden in sein Labor.

Stella war im Moment munter und saß auf der Kante eines Untersuchungstischs. Bruce winkte Steve und Tony zu einem Mikroskop und wollte gerade zu einer ausführlichen Erklärung ansetzen, als Natasha ihn unterbrach.

„Die Kurzfassung bitte, es ist spät!"

Bruce wandte sich wieder vom Mikroskop ab. Als er anfing zu erklären, nahm er seine Brille ab und putzte sie. „Gut, dann die vereinfachte Fassung: In dem Champagnerglas befand sich tatsächlich eine Substanz, die dazu beigetragen hat, dass Stella betrunken wurde." Er setzte seine Brille wieder auf und sah abwartend in die Runde.

„Ein bisschen ausführlicher geht es dann doch", bemerkte Tony.

Bruce freute sich, dass er weiter ausholen durfte. „Jetzt der eigentlich interessante Teil: Es handelt sich um ein mir völlig unbekanntes Bakterium. Auch J.A.R.V.I.S hat dazu nichts gefunden. Ich kann nicht mal sagen, ob es eine natürliche Mutation oder eine spezielle Züchtung ist. Ich würde jedoch letzteres vermuten. Was ich aber mit Sicherheit sagen kann ist, dass es in kürzester Zeit ein Chaos in ihrem Darm ausgelöst hat, was dazu führt, dass Kohlenhydrate in Alkohol umgewandelt werden. Wer auch immer dafür verantwortlich ist – er wollte dass sie in kürzester Zeit betrunken wird. Sie hat Glück, dass sie nur das halbe Glas getrunken hat, sonst wären die Auswirkungen natürlich entsprechend extremer ausgefallen." Er ließ die Information einen Moment sacken.

„Also kann sie sich mit einer Tüte Chips betrinken ...", folgerte Tony.

„Bruce, willst du etwa sagen, dass das Zeug so'ne Art Eigenbrauer-Syndrom bei mir in ... indu ... ähm ... ausgelöst hat?", lallte Stella.

Bruce guckte überrascht. „Ja, so wirkt es sich aus. Nur dass es hier deutlich schneller ging, als bei den allgemein bekannten Verläufen."

Stella grinste breit. „Siehst du, für eine gute Diagnose bin ich doch noch nicht betrunken genug ...", sie hielt inne und überlegte: „... halt warte, da stimmt was nicht ..." Jetzt schien sie den letzten Satz noch mal durchzugehen, seufzte dann aber resigniert. „Ich glaube, ich brauche ne Mütze voll Schlaf."

Tony lachte: „Die bekommst du bald."

Steve verstand nicht, wie Tony sich darüber amüsieren konnte, und warf ihm einen strengen Blick zu. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil ihm erst jetzt klar wurde, dass er zu Stellas Zustand beigetragen hatte. „Und ich dachte es würde ihr guttun etwas zu essen ... Wie betrunken kann sie auf die Weise noch werden? Reicht es, sie schlafen zu lassen, oder müssen wir besser auf sie aufpassen?"

„Das hängt von mehreren Faktoren ab. Aber ich glaube, dass wir sie nicht hier im Labor überwachen müssen. Es wäre nur gut, wenn jemand bei ihr bleibt."

Bruce sah Natasha an.

„Clint und ich sind leider raus. Wir müssen diese Nacht auf eine Mission. Ich kann aber noch dabei helfen, sie ins Bett zu verfrachten."

„Wenn sie bei keiner Frau übernachten kann ... dann sollte sie vielleicht bei jemandem schlafen, den sie gut kennt. Ich weiß nicht, an wie viel sie sich beim Aufwachen noch erinnern wird. Sie könnte einen Schreck bekommen", sagte Bruce und sah zwischen Tony und Steve hin und her.

Tony senkte seinen Blick und kratzte sich am Hinterkopf. „Ich habe Pepper heute schon genug Geduld abverlangt, fürchte ich", sagte er leise. „Ich schätze dann bleibst nur noch du übrig, Cap."

Steve fühlte sich ein wenig unwohl bei dem Gedanken, aber er nickte schließlich. „Gut, dann machen wir das so."

„Dann ist das ja geklärt. Wenn mir einer von euch ihre E-Mail-Adresse gibt, werde ich ihr alle Details noch einmal aufschreiben. Sie wird dann schon wissen, wie sie weiter vorgehen muss, sobald sie wieder nüchtern ist", sagte Bruce.

Steve sah Stella an und fragte: „Bist du denn auch damit einverstanden?"

„Yap!", sagte sie, stand vom Untersuchungstisch auf und hakte sich bei ihm ein.

Er machte sich mit ihr auf den Weg zum Fahrstuhl. Natasha und Tony folgten ihnen, nachdem Tony Bruce noch schnell Stellas Kontaktdaten gegeben hatte.

Als Steve mit Stella und Natasha aus dem Fahrstuhl wieder ausstieg, wünschte Tony ihnen noch eine gute Nacht.

„Aber bleib anständig", grinste er. „Oder warte zumindest, bis sie wieder nüchtern ist und auch was davon hat", fügte er noch schnell hinzu, bevor die Aufzugtür sich schloss.

Im Flur bog Natasha ab und sagte: „Ich bin gleich bei euch. Ich besorge nur noch schnell was."

Stella blieb ein paar Schritte weiter plötzlich stehen und zog sich die Schuhe aus. Steve wartete geduldig, bis sie fertig war und sich wieder bei ihm einhakte.

In Steves Zimmer stellte Stella ihre Schuhe neben den Schreibtisch. Ihre Handtasche legte sie auf die Tischplatte. Sie nahm sich ihre Ohrringe ab und legte sie daneben. Dann lehnte sie sich an die Kante und rieb sich erschöpft das Gesicht.

Steve holte sich aus dem Kleiderschrank inzwischen eine zweite Decke und ein Kopfkissen, um sich auf dem Boden einen Schlafplatz damit einzurichten.

**

Bevor Natasha in Steves Zimmer ging, machte sie einen Abstecher in eine der unzähligen Vorratskammern im Tower. Dort hatte sie, als sie sich umgesehen hatte, kistenweise Trainingsanzüge entdeckt, die mal als Werbegeschenk verteilt werden sollten. Die Dinger waren potthässlich, so dass sich niemand auf der Straße damit blicken lassen würde. Natasha war sich sicher, dass der Marketing-Mensch, der sich das ausgedacht hatte, inzwischen einen neuen Job hatte. Aber jetzt kamen die grauen Dinger mit dem Stark-Logo sehr gelegen, denn sie eigneten sich zumindest als Notfallschlafanzug. Sie suchte einen in Stellas Größe heraus.

Mit dem Stoffbündel ging sie schließlich zu Steves Zimmer, klopfte und trat sofort ein, als Steve die Tür aufmachte.

„Ich habe ihr noch einen Schlafanzug besorgt", erklärte sie und musterte Stella, die sich mit Mühe noch auf den Beinen hielt. Sie nahm Stella am Arm und führte sie ins Bad. „Komm, ich helfe dir beim Umziehen."

Im Bad half Natasha Stella dabei, den langen Reißverschluss am Rücken des Kleides zu öffnen.

„Ich kann das eigentlich alleine", murmelte Stella.

Natasha nahm ihre Hände weg und sagte: „Gut, dann sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst."

Stella streifte ihr Kleid ab und legte es auf das kleine Regal neben dem Waschbecken. Als Natasha sie dabei beobachtete, fiel ihr auf, dass das Leben ein paar Narben an Stellas Körper hinterlassen hatte. Sie wusste, dass Stella vor Jahren in Kriegsgefangenschaft geraten war. Der Anblick ihres Körpers führte ihr jetzt vor Augen, was sie dort vermutlich durchgemacht hat. Natasha hatte zwar selbst in ihrer Ausbildung gelernt, dass Schmerzen einen Menschen auch stärker machen konnten. Allerdings war Stella keine vom Red Room ausgebildete Agentin wie sie.

„Mir ist nicht gut", sagte Stella plötzlich und schaffte es gerade noch, sich zur Toilette umzudrehen und darüber zu beugen.

Als Natasha glaubte, dass nichts mehr aus Stella herauskommen konnte, machte sie einen Waschlappen nass und wusch damit ihr Gesicht.

„Besser?", fragte Natasha knapp.

Stella nickte und nahm sich jetzt den Trainingsanzug. Sie schlüpfte erst in das Oberteil. Als sie dazu die Arme hochnahm, sah Natasha, dass Stella nicht nur am Schulterblatt und über dem Steißbein tätowiert war, sondern auch tief im Dekolleté und weit unterhalb des Bauchnabels. Es waren Stellen, die Steve nicht zu Gesicht bekommen würde, wenn er anständig blieb. Als Stella sich auch die Hose angezogen hatte, führte Natasha sie wieder aus dem Bad heraus und half ihr ins Bett.

„Sie hatte eben eine ausführliche Unterhaltung mit deiner Toilette. Wenn jetzt noch etwas aus ihr herauskommt, weiß ich nicht, wo sie es herholt. Das Gute daran ist, dass sie das was jetzt draußen ist, nicht mehr zu Alkohol verdauen kann", erklärte Natasha Steve.

Sie deckte Stella zu und wünschte ihr und Steve eine gute Nacht. Als sie bereits aus der Tür heraus war, drehte sie sich noch einmal zu Steve um und blickte ihn mit einer mütterlichen Strenge an. „Sei lieb zu ihr und pass gut auf sie auf."

„Das mache ich. Kommt ihr beiden auf der Mission klar?"

Natasha lächelte schief. „Das wird ein Kinderspiel. Ein entspannter Ausflug zu zweit."

Steve schaute besorgt, aber nickte. „Passt trotzdem auf euch auf!"

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