40. Der Profi

Samstagnacht kehrte Kenai von Peggys Haus zurück, nachdem sie ihn überredet hatte heimzugehen. Von seiner Wohnung aus kontaktierte er seine eigenen Leute. Diese bezogen noch in derselben Nacht unauffällig in Peggys Nachbarschaft ihre Wachtposten, um zusätzliche Sicherheit zu bieten, ohne von S.H.I.E.L.D gesehen zu werden. Eine zweite Gruppe sollte das Gebäude, in dem die Hammonds wohnten, im Blick behalten.

Nachdem Kenai am Sonntagmorgen schließlich ein paar Stunden geschlafen hatte, machte er sich daran, sein Bein zu reparieren. Er tüftelte eine Weile herum und konnte es dann soweit wiederherstellen, dass es sich voll bewegen ließ. Nur die Außenhaut war noch an der Einstichstelle beschädigt.

Susan rief zwischendurch bei Peggy an, um sich nach Stella zu erkundigen. Es schien alles friedlich zu sein.

Am Abend schlich sich Kenai wieder selbst in Peggys Nachbarschaft, um sicherzugehen, dass weiterhin alles gut war. Er sah, dass seine Tochter jetzt mit im Schlafzimmer der Carters übernachtete. Mögliche Angreifer mussten also erst an dem Ehepaar vorbei. Kenai wusste, dass Peggy sich sehr gut wehren konnte, und ihr Mann hatte den Körperbau eines Profiboxers. Diese Tatsachen beruhigten Kenai ein wenig und er machte sich bald auf den Rückweg in seine Wohnung.

Als Kenai dort aus seinem Auto ausstieg und zur Wohnung hinaufsah, überkam ihn jedoch ein komisches Gefühl. Irgendetwas stimmte da oben nicht.

Seine Leute hatten tagsüber eine Pause gemacht, da die Straße ohnehin zu belebt war, als dass hier jemand heimlich in das Gebäude hätte eindringen können. Nachts war es in diesem Teil von Manhattan eher ruhig, da alle Geschäfte und Büros geschlossen waren und sich das Nachtleben eher an anderen Ecken abspielte. Kenais Leute trafen schließlich fast zeitgleich mit ihm an dem Gebäude ein, um ihre Nachtwache anzutreten.

Er ging zu ihnen hinüber und begrüßte die Frau, die die Gruppe anführte.

„Elane, gut, dass ihr hier seid. Ich glaube oben geht etwas Ungutes vor sich. Folge mir in fünf Minuten, wenn ihr nichts von mir hört. Ein Teil von euch sollte hier unten bleiben und weiter beobachten."

Die Frau mit dem alterslosen Gesicht und den blonden, fast weißen Haaren nickte.

„Mit wem rechnest du?"

Er seufzte: „Ich weiß es nicht. Das kommt wohl drauf an, was HYDRA sich erhofft zu finden."

„Gut, dann machen wir uns auf alles gefasst."

Kenai ging durch den Haupteingang in das Haus. Im Empfangsbereich lagen die beiden Sicherheitsleute, die hier jede Nacht Dienst schoben, am Boden. Beide waren mit einem sauberen Kopfschuss niedergestreckt worden. Einer hatte offenbar noch versucht zu entkommen.

Kenai war jetzt alarmiert und angespannt.

Er fuhr mit dem Fahrstuhl in das oberste Stockwerk und spähte vorsichtig durch die Tür, als sie sich automatisch öffnete.

Im großen Wohnbereich war niemand zu sehen. Jemand hatte die Schränke und Bücherregale umgeworfen. Kenai vermutete, dass der Eindringling noch irgendwo in der Nähe war. Die Wohnung wurde nur von einzelnen Lampen erleuchtet. Er lauschte aufmerksam, hörte aber keine ungewöhnlichen Geräusche. Vorsichtig schlich er zu dem kleinen Flur, der zu den Schlafräumen führte. Der hintere Teil des Flures lag im Dunkeln. Kenai spähte durch die Tür des Elternschlafzimmers.

Der Raum wurde vom Mondlicht, das durch die Fenster schien, schwach erleuchtet. Kenai blieb lautlos stehen und sah sich jeden einzelnen Schatten genau an. Auch hier hatte der Unbekannte die Möbel umgeworfen. Es gab keine Spur von Susan.

Hoffentlich versteckt sie sich im Panikraum und er findet den Eingang nicht.

Kenai wollte sich gerade umdrehen und durch den Flur in das Kinderzimmer gehen, als er hinter sich ein leises Klirren vernahm. Jemand war auf ein Stück Glas getreten.

Kenai nahm sich sein Tomahawk vom Gürtel und wirbelte herum. Der Fremde schnellte auf ihn zu und attackierte ihn mit einem Messer. Er verpasste ihm einen kleinen Schnitt in den Oberarm. Den nächsten Angriff konnte Kenai blocken. Er wollte den Arm des Angreifers festhalten und ihn entwaffnen, doch dieser hielt standhaft sein Messer fest.

Mit einem kräftigen Ruck riss sich sein Gegner aus Kenais Griff los und stieß ihn mit einem Tritt nach hinten. Kenai flog ein Stück weit und fiel rücklings auf den Boden. Er versuchte, sich aufzurichten, und taumelte kurz. Das Messer blitzte im Mondlicht auf und er ahnte, dass der Fremde dazu ausholte, es nach ihm zu werfen. Er täuschte eine Rolle nach rechts vor und warf sich tatsächlich nach links. Das Messer landete in seinem rechten Unterschenkel und bohrte sich tief in die Mechanik hinein. Der Fremde hatte erstaunliche Reflexe und konnte in der Dunkelheit offenbar ziemlich gut zielen.

Kenai rappelte sich auf, um gleich darauf von einer Faust getroffen zu werden. Durch den Treffer wurde er hart an die nächste Wand gestoßen. Sämtliche Luft wich aus seinen Lungen. Er hörte mehrere Rippen verdächtig knacken.

Er sah gerade noch, dass der Angreifer mit seinem linken Arm ausholte, und konnte knapp ausweichen, so dass die Faust statt seines Gesichts die Wandverkleidung durchschlug.

Der nun festsitzende Arm glänzte silbrig im Mondlicht und Kenai hatte erstmals das Gesicht des Fremden nahe genug vor sich, um ansatzweise etwas davon zu erkennen. Der untere Teil war durch eine Maske verdeckt. Darüber blitzten ausdruckslose blaue Augen hervor.

Mit einem leisen Knurren wollte der Fremde gerade seinen Arm wieder aus der Wand herausziehen. Kenai ergriff die Chance und rammte sein Tomahawk in den silbrigen Arm. Die Klinge hinterließ eine deutliche Kerbe und der Fremde betrachtete einen Augenblick lang den Schaden.

Die Mechanik im Inneren des Armes schien bereits in Mitleidenschaft gezogen zu sein, denn die nächsten Bewegungen konnte der Angreifer schon nicht mehr so präzise ausführen wie zuvor. Doch er schaffte es, Kenai mit dem Arm am Hals zu packen, und drückte langsam zu.

Die Welt um Kenai herum begann bereits zu verschwimmen, als sich plötzlich in der Nähe ein Schuss löste.

Elane stand mit einer Pistole in der Tür und hatte den Angreifer eben in der Seite getroffen. Der Fremde wirbelte zu ihr herum und griff nun sie an. Sie konnte seinen Schlägen ein paar Mal ausweichen, bis er sie schließlich doch traf und sie durch die Tür hinaus in den Flur flog.

Der Eindringling drehte sich zurück zu Kenai, der inzwischen sein Tomahawk wieder fest in den Händen hielt und sich aufgerichtet hatte. Kenai stand jedoch weiterhin mit dem Rücken zur Wand. Der Metallarmige versuchte, auf ihn einzuschlagen. Der Indianer konnte die meisten seiner Schläge mit dem Stiel des Kriegsbeils abblocken.

Elane hatte sich wieder aufgerappelt und schoss erneut. Der Fremde erlitt einen zweiten Treffer. Dadurch war er einen Augenblick abgelenkt. Kenai nutzte die Chance und griff ihn mit dem Tomahawk an.

Der Fremde blockte die Attacken mit seinem künstlichen Arm ab, doch die Klinge grub sich von Mal zu Mal tiefer in das glänzende Metall.

Mit einem letzten entschlossenen Hieb gelang es Kenai schließlich, ihm die Metallhand abzuhacken. Sie landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Teppich. Ihr Besitzer starrte einen Moment den Rest seines Armes an.

Elane schoss erneut auf den Mann und traf ein weiteres Mal.

Endlich ließ er von Kenai ab und rannte auf die Fensterfront zu.

Elane wollte wieder auf ihn schießen, doch Kenai hielt sie dieses Mal davon ab.

„Lass ihn fliehen. Er muss leben."

„Was?", fragte sie ungläubig.

Der Metallarmige sprang durch das geschlossene Fenster und rollte sich auf der dahinter liegenden Dachterrasse ab. Er sprintete weiter, nahm Anlauf und sprang auf das gegenüberliegende Dach. Von dort aus verschwand er in die Nacht.

„Warum haben wir ihn jetzt laufen lassen?"

„Er hat noch eine Prophezeiung zu erfüllen", antwortete Kenai knapp.

Elane schaltete das Licht im Raum an und musterte ihren Chef. Sie hatte zu dem für sie typischen neutralen Gesichtsausdruck zurückgefunden und sagte: „Er hat dir ziemlich zugesetzt. Du musst zu einem Arzt."

„Ich muss erstmal Susan finden. Und dann Peggy anrufen."

Er humpelte durch das Zimmer und ging in den Wandschrank. Dort schob er die Kleidung zur Seite und betätigte einen versteckten Schalter. Aus dem sich öffnenden Gang kam ihm seine Frau sofort entgegen.

Er umarmte sie erleichtert. Ihm tat zwar gerade fast alles weh, doch er genoss das Gefühl, seine unversehrte Frau in die Arme schließen zu können.

„Du bist rechtzeitig in den Panikraum gekommen", sagte er.

„Ja, einer der Wachmänner hat den Alarm ausgelöst, bevor der Angreifer hier oben ankam. Du siehst schlimm aus. Ich bringe dich besser in ein Krankenhaus."

„Ach was, das sind nur ein paar Kratzer." Er setzte ein schiefes Lächeln auf.

„Und eine Schnittwunde, die blutet, dein Bein ist wieder kaputt und wer weiß, wie viele Knochen er dir gebrochen hat."

„Ich gehe nicht ins Krankenhaus. Ich werde erstmal Peggy anrufen."

„Kenai Jonathan Hammond, du bist ein sturer Bock!", meckerte Susan mit einem strengen Blick los.

„Schatz, mir geht es gut genug. Ich verspreche dir, dass ich, wenn wir morgen Abend hoffentlich wieder auf der Farm sind, meine Mutter das mal ansehen lasse. Aber bis dahin gibt es einfach noch zu viel zu tun."

Susan schien einzusehen, dass ihr Mann sich immer noch große Sorgen um ihre Tochter machte. Sie empfand im Grunde das Gleiche. Sie strich sanft mit ihrer Hand über seine Wange und küsste ihn.

„Also gut, tu was du tun musst."

Kenai nickte. „Elane - könnt ihr in die Nachbarschaft gehen und dort zusätzliche Wachposten einrichten? Ich glaube nicht, dass sie diese Nacht nochmal in dieses Gebäude zurückkehren." Er sah sich das Chaos um ihn herum an. „Wenn ihr weg seid, werde ich wegen den beiden Wachmännern die Polizei rufen. Es wäre den beiden gegenüber nicht gerecht, ihren Tod einfach unter den Teppich zu kehren."

Elane nickte. „Wir machen uns sofort auf den Weg. Melde dich, wenn du etwas brauchst." Sie drehte sich um und verließ die Wohnung.

Kenai humpelte zum Telefon, ließ sich auf der Bettkante nieder und wählte Peggys Nummer. Als sie abnahm, berichtete er ihr von dem Angriff. Er erwähnte dabei noch nicht, dass der Angreifer der Wintersoldier war. Er wollte diese Nacht nicht noch erklären müssen, wie er diesen Angriff hat überleben können.

„Ich schicke ein paar meiner Leute zu euch", sagte Peggy. „Sie werden auch den Mord an deinen Wachmännern aufnehmen. Du musst dich dann um nichts weiter kümmern. Braucht ihr für die Nacht eine Unterkunft?"

„Nein, wir ziehen in das Gästeappartement ein Stockwerk tiefer. Danke für deine Mühe."

Er stand jetzt wieder vom Bett auf und humpelte zu der abgehackten Hand, die noch am Boden lag. Er hob sie auf und versteckte sie zunächst in seiner Manteltasche.

Als er nun loslief, um die Wohnung zu verlassen, kam Susan ihm zur Hilfe und stützte ihn ab. Gemeinsam gingen sie in die Gästewohnung. Auch dort gab es einen Geheimgang, in welchem Kenai jetzt die Metallhand versteckte.

Er setzte sich ins Wohnzimmer und wartete auf die S.H.I.E.L.D-Agenten, die sich offiziell des Falls annehmen sollten. Susan versorgte währenddessen notdürftig seine Kratzer und Schnittwunden.

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