4. Der Familienabend

Steve war Michael mit seinem Motorrad hinterhergefahren. Sie kamen schließlich in einer ruhigen Straße, die parallel zum Strand verlief, an und hielten vor einem kleinen Mehrfamilienhaus.

Man konnte das Meer riechen und den Wellengang hören.

Steve stellte sein Motorrad vor dem Haus ab, während Michael seinen Wagen unter einem Dach parkte.

Michaels Frau kam mit ihrem Auto angefahren, als er schon im Begriff war in das Haus zu gehen. Sie stellte ihr Auto auch unter das Dach.

Steve hatte inzwischen sein Gepäck vom Motorrad genommen und sah nun, dass die Ärztin dabei war, zwei große Einkaufstaschen aus ihrem Kofferraum zu hieven. Ihr Mann musste sie glatt übersehen haben, denn er war bereits in der Haustür verschwunden. Steve ging zu ihr herüber.

„Hallo! Darf ich Ihnen das abnehmen?", sagte er und deutete auf den Einkauf.

Sie schien einen Moment abzuwägen, ob sie sich überhaupt helfen lassen wollte.

„Danke, aber das geht schon", wollte sie ihn abwehren.

„Aber ich habe noch eine Hand frei."

Sie griff in den Kofferraum und gab ihm die Tasche, die anscheinend leichter war. Sie nahm sich dann die andere Tasche.

„Ich bin noch ein wenig überrascht Sie hier wieder zu sehen..."

„Ihr Mann war so freundlich und hat mich eingeladen. Er ist schon im Haus."

„Na dann, folgen Sie mir!"

Die Wohnung der Chains befand sich im ersten Obergeschoss des Hauses. Michael hatte die Türen offengelassen und seine Frau schloss sie schließlich hinter Steve.

Als Steve in die Wohnung kam, fiel ihm auf, wie groß allein das Wohnzimmer war. Die komplette Junggesellenbude, in welcher er früher mit seinem besten Freund gewohnt hatte, hätte hier hineingepasst.

Das Wohnzimmer war jedoch so wohnlich eingerichtet, dass man sich hier nicht verloren, sondern willkommen fühlte. Im hinteren Teil des Wohnzimmers gab es eine große Glasfront, die auf eine Terrasse und in etwas weiterer Ferne auf das Meer zeigte. Links und rechts vom Wohnzimmer gab es kleine Flure, die in die restlichen Räume führten. Am Anfang des linken Flurs befand sich ein offener Durchgang in die Küche. Das Wohnzimmer selbst war umsäumt von Bücherregalen. Es gab eine gemütliche Sitzgruppe, die auf einen recht großen, flachen Fernseher ausgerichtet war. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Klavier und im hinteren Teil, nahe der Fensterfront gab es einen Esstisch.

Im Wohnzimmer stand ein älterer Mann, der seine langen, nicht mehr ganz schwarzen Haare zu einem Zopf zurückgebunden hatte. Seine Körperhaltung verriet, dass er noch ziemlich fit für sein Alter war. Neben ihm saß ein etwa sieben Jahre alter Junge, der gut sein Enkel sein konnte. Beide hatten einen dunkleren Hautton als die Ärztin, aber der Junge hatte die gleichen grünen Augen wie sie. Der Junge spielte mit etwas, was nach einem Roboter aussah.

Michael begrüßte die beiden und stellte sie Steve vor: „Willkommen bei uns zu Hause Steve! Der kleine Mann hier ist unser Sohn Antony und dies hier ist mein Schwiegervater Kenai Hammond."

Steve schüttelte beiden freundlich die Hände.

Die Frau begrüßte die beiden jeweils mit einer Umarmung.

„Danke fürs Aufpassen, Dad! Magst du mit uns essen?"

Ihr Vater nahm ihr die Einkaufstüte ab, die sie trug.

„Das klingt gut. Ich könnte noch was vertragen", freute er sich und brachte die Tüte in die Küche.

Steve folgte ihm mit dem Rest. Durch die offene Küchentür konnte er noch hören und sehen, was im Wohnzimmer besprochen wurde.

„Und, Antony, hast du schon deine Hausaufgaben gemacht?", fragte die Mutter.

„Nein noch nicht, Mom. Ich wollte Grandpa noch meinen Roboter zeigen!"

„Okay, dann mach sie aber jetzt, es gibt bald Essen!"

Antony gehorchte und verschwand in seinem Zimmer.

Michael umarmte seine Frau und sagte: „Hey Schatz, kannst du für Steve mitkochen? Ich habe ihn eingeladen, heute Nacht hierzubleiben."

Steve sah der Frau an, dass sich ihre Begeisterung über den unverhofften Besuch ziemlich in Grenzen hielt. Nach einem Moment des Zögerns stimmte sie schließlich ihrem Mann zu und begab sich in die Küche.

Michael bat seinen Schwiegervater, ihm dabei zu helfen den Duschkopf im Gästezimmer zu reparieren. Der ältere Mann stimmte zu und folgte ihm.

Nachdem Steve schließlich die Tüten abgestellt hatte, sah er sich in der Küche um. Es gab einen Durchgang zu einer Waschküche, eine U-förmige Küchenzeile die in einer Kochinsel abschloss und einen gemütlichen Esstisch. Auch von der Küche aus gab es eine Tür, die auf die Terrasse führte, daneben stand ein uriges Regal mit zahlreichen Dosen und Fläschchen. Am unteren Teil des Regals befanden sich Türen, die mit einem hübsch verzierten Vorhängeschloss abgesperrt waren. Alle Dosen und Fläschchen waren ordentlich beschriftet. Steve konnte nicht jedes einzelne Etikett erfassen, doch er roch, dass es sich um eine Sammlung an Kräutern und ätherischen Ölen handelte. An der angrenzenden Wand hingen einige Familien-Fotos und auf einem Regal-Brett standen ein paar kleine Pokale.

Während er um sich blickte, wurde Steve von der Frau aus seinen Gedanken gerissen.

„Danke fürs Tragen!"

„Oh, ja. Gerne!"

Er überlegte kurz und fragte schließlich: „Ist das wirklich in Ordnung für Sie?"

„Was?", fragte sie zurück.

„Das ich heute hier übernachte. Ich möchte Ihnen keine Umstände machen."

Sie unterbrach das Auspacken einen Moment und schaute ihn an. „Das ist schon okay."

„Wirklich? Ich habe vorhin Ihr Gespräch gehört", wollte er sich versichern.

„Ja, es ist in Ordnung", zuckte sie mit den Schultern. „Er hätte mich ein bisschen eher vorwarnen sollen, das ist alles. Aber er neigt dazu, so spontan zu sein, wenn er gerade vor Begeisterung übersprudelt." Sie lächelte Steve freundlich an. „Und wenn wir schon in einem Haushalt übernachten - ich bin Stella."

Er lächelte zurück und zeigte auf sich. „Steve."

„Setz dich doch! Machs dir gemütlich!"

Er gehorchte und setzte sich an den Esstisch.

Sein Blick ging zurück zu dem Kräuterregal.

„Ich beschäftige mich viel mit Naturheilkunde", sagte Stella plötzlich und riss ihn erneut aus seinen Gedanken.

Er schaute sie fragend an.

Sie zeigte auf das Regal. „Das ist meine Auswahl an Hausmittelchen", erklärte sie.

„Was ist in dem unteren Teil?", fragte er neugierig.

„Das sind die Sachen, bei denen man etwas Ahnung haben sollte, wenn man sie anwendet", zwinkerte sie.

Stella war inzwischen mit dem Auspacken fertig und begann nun mit dem Kochen. Sie setzte zuerst einen Topf mit Reis auf und fing dann an verschiedene Gemüsesorten zu putzen und zu schneiden.

Währenddessen kam Antony mit seinem Mathebuch herein und bat seine Mom um Hilfe. Sie wollte sich ihm gerade zuwenden, doch Steve dachte sich, dass sie mit dem Kochen noch genug um die Ohren hatte. Und vielleicht war ja Mathe noch etwas, was wie früher war und womit er sich noch halbwegs auskannte.

„Darf ich versuchen zu helfen?"

Stella sah Antony kurz an. „Ja, wenn das für euch beide okay ist."

Steve ging mit ihm geduldig alle Aufgaben durch. Er versuchte dem Jungen jedoch nicht sofort einfach alles zu erklären, sondern testete erst mal mit ein paar Fragen, was der Junge schon selber wusste. Das Kind konnte die Aufgaben gut erklären und machte sich dann daran, alles auszurechnen.

Als Steve zu Stella aufsah, bemerkte er, dass sie ihn und ihren Sohn beobachtet hatte. Sie lächelte zufrieden, schaute Steve an und formte mit ihren Lippen ein fast stummes Danke.

Steve blickte ab und zu zu Stella herüber, die sich nun wieder auf die Zubereitung des Essens konzentrierte. Sie goss den Reis ab und holte eine große, halbrunde Pfanne hervor. Diese erhitzte sie, um dann das Gemüse gekonnt ständig darin umher zu rühren. Gegen Ende des Kochvorgangs schüttete Sie den Reis dazu und würzte die Mischung mit unterschiedlichen Gewürzen und Soßen, deren Duft nun den Raum erfüllte.

Kurz bevor das Essen fertig wurde, waren auch die Mathehausaufgaben beendet.

Antony sagte freudig „Danke!" und brachte sein Buch zurück in sein Zimmer.

Stella füllte das Essen in eine Servierschüssel und deckte den Tisch. Anschließend rief sie die anderen in die Küche.

Als alle am Tisch saßen, servierte Stella zunächst Steve seine Portion, danach allen anderen und zuletzt sich selbst. Zum Trinken standen Gläser und eine Karaffe mit Wasser bereit.

Das Essen war süßsauer gewürzt, sodass aber noch die Geschmäcker der unterschiedlichen Gemüsesorten, wie z.B. Karotten und Kohl unterscheidbar waren.

Steve hatte so etwas noch nie zuvor gegessen, fand aber, dass es gut schmeckt, und nahm sich noch einen kleinen Nachschlag. Michael und Kenai taten es ihm gleich.

„Und was führt Sie in diese Stadt?", fragte Kenai Steve.

„Ich wollte mir ein paar Tage Urlaub nehmen und man hat mir diese Stadt dafür empfohlen."

„Gute Wahl!", sagte Kenai. "Haben Sie schon das Museum gesehen?"

„Hab ich ihm heute gezeigt", warf Michael mit vollem Mund ein.

Kenai musste grinsen. „Ah okay, dann haben Sie dort ja wahrscheinlich alles gesehen und vor allem auch gehört."

„Ja, ich glaube schon", sagte Steve freundlich.

„Willst du dir morgen den Start anschauen?", fragte Michael.

Als Steve ihn fragend ansah, fügte er hinzu: „Den Start des Space Shuttles am Nachmittag. Wäre ein Blick wert, wenn du schon hier bist. Die meisten kommen extra deswegen. Und es ist eine der letzten Gelegenheiten. Das ist einer der letzten Starts, bevor das Programm eingestellt wird."

„Antony und ich können ihn gemeinsam mit dir ansehen. Ich habe morgen am Nachmittag frei", schlug Stella vor.

„Ja gerne, wenn es euch keine Umstände macht."

„Nein macht es nicht. Es ist ja nicht weit von hier."

„Und du kommst nicht mit, Michael?", fragte Steve.

„Nein, ich bin für die Absicherung des Luftraums um den Startplatz herum eingeteilt", sagte Michael mit einem Grinsen. „Also ich werde wahrscheinlich sogar etwas näher dran sein als ihr."

„Das trifft sich gut!", sagte Kenai. „Ich kann morgen nicht auf Antony aufpassen, weil ich eine Besprechung habe, wegen der neuen Fabrik. Später hole ich deine Mutter vom Flughafen ab. Übermorgen stehen wir dann wieder beide zur Verfügung."

Als schließlich alle mit dem Essen fertig waren, rieb sich Kenai den flachen Bauch und sagte: „Stella, das war wieder mal sehr lecker! Brauchst du noch Hilfe beim Aufräumen?"

„Danke Dad! Ich mach das schon."

„Okay. Dann werde ich jetzt so langsam heimgehen."

***

Kenai verabschiedete sich von Steve, Michael und Antony und wurde von Stella zur Tür begleitet. Beim Hinausgehen sprach er seine Tochter in der Sprache ihres Stammes der Nocona an.

„Ist alles okay bei euch? Ich meine mit dem Fremden im Haus?"

Stella wusste selbst noch nicht so recht, was sie von der Situation halten sollte. Heute Nacht würde ein Mann hier übernachten, der neu in der Stadt war und den sie und ihr Mann erst heute kennengelernt hatten. Allerdings kam Steve ihr ungewöhnlich vertrauenswürdig vor.

Sie nickte. „Ja, alles gut. Ich habe ihn schon heute Morgen kennengelernt und denke, dass man ihm trauen kann."

Kenai blickte etwas besorgt und nahm seine Tochter in den Arm. „Na gut, du weißt, wie du mich erreichst, falls du etwas brauchst." Bevor er die Wohnung verließ, gab er ihr einen Kuss auf die Wange und wünschte ihr eine gute Nacht. Sie schloss die Tür hinter ihm, nachdem er gegangen war.

Michael hatte Antony inzwischen erlaubt, noch ein wenig spielen zu gehen, als sie in die Küche zurückkehrte. Während Michael den Tisch abräumte und das Geschirr in die Spülmaschine stellte, wusch Stella den zuvor benutzten Topf und den Wok ab.

Nach dem Abwasch ging Stella in das Gästezimmer, um das Bett frisch zu beziehen.

***

Michael bot Steve ein Bier an und ging mit ihm auf die Terrasse.

Auf der Terrasse gab es zwei Liegestühle und eine gemütliche Sitzgruppe. In einer Ecke gab es mehrere Pflanzkübel, in welchen verschiedene Gemüsesorten wie Paprikas und Tomaten wuchsen. Daneben standen ein paar Töpfe mit Kräutern. Auf dem Rest der Terrasse waren Kübel mit Palmen und Farnen verteilt.

Michael und Steve ließen sich auf der Sitzgruppe nieder. Stella kam nach kurzer Zeit hinzu und setzte sich neben ihren Mann, der den Arm um ihre Schultern legte.

Michael suchte wohl nach einem Gesprächsthema und fragte Steve: „Wo kommst du eigentlich her?"

„Ich bin in Brooklyn aufgewachsen."

„Ah, New York!", freute sich Michael. „Da habe ich Stella das erste Mal getroffen. Ich habe um die Jahrtausendwende für kurze Zeit in einem Rekrutierungsbüro gearbeitet. Das war in der Bleecker Street in Greenwich Village." Er drückte Stella ein wenig an sich. „Und eines Tages stand sie genau vor unserem Büro und hat das Gebäude gegenüber bestaunt. Keine Ahnung, was sie daran fand."

„Es hat mich halt auf merkwürdige Weise fasziniert", warf Stella ein.

Michael zuckte mit der Schulter und fuhr dann fort: „Da bin ich zu ihr rausgegangen und habe sie angesprochen." Michael lächelte Stella an und sie lächelte zurück. „Na ja und dann habe ich sie rekrutiert", grinste er. „Leider wollte sie keine Pilotin werden, aber Ärzte konnten wir auch gut gebrauchen."

„Und seitdem seid ihr zusammen?"

„Nee, zusammengekommen sind wir erst später. Aber sie war ab dem Zeitpunkt immerhin schon mal in meiner Nähe." Er küsste Stella auf die Schläfe und sie kuschelte sich leicht an ihn an.

„Wo bist du im Moment stationiert? Wirst du etwa hierher versetzt?", fragte Michael weiter.

„Ich habe noch keinen neuen Auftrag. Nein ich glaube nicht, dass ich hierher versetzt werde. Ich werde wahrscheinlich erst mal nach New York zurückgehen."

„Ah okay. Und wo warst du vorher?"

Steve überlegte kurz, was er dazu sagen sollte. Er wollte heute nicht zu viele Fragen beantworten müssen, aber es lag, ihm auch nicht zu lügen. Schließlich sagte er knapp: „Deutschland."

Michael guckte leicht enttäuscht, als hätte er etwas Spannenderes erwartet und sagte: „Okay."

Es war einen Moment lang still auf der Terrasse und Steve merkte nun, wie müde er vom Tag war. Sein Kopf fühlte sich mit der Flut an neuen Eindrücken gerade ziemlich überfüllt an und er sehnte sich nach ein wenig Ruhe. Als er gerade überlegte, wie er sich höflich ins Bett verabschieden kann, schaute Stella auf ihre Armbanduhr.

„Ich schicke jetzt Antony ins Bett und werde mich dann auf den Weg in unseres machen."

Michael nickte und stimmte zu: „Ist wohl eine gute Idee."

Stella schaute Steve an. „Soll ich dir kurz dein Zimmer zeigen?"

Steve nahm dies dankend an.

Stella führte Steve in ein gepflegt eingerichtetes Gästezimmer. Die Möbel waren einfach, aber gemütlich. Es gab ein großes Bett, einen kleinen Kleiderschrank und einen Schreibtisch. Eine Tür führte in ein eigenes Bad mit einer Dusche.

„Vielen Dank dafür, dass ich hier übernachten darf!"

„Keine Ursache! Schlaf gut!"

Steve wünschte auch ihr eine gute Nacht und sie verließ das Zimmer.

Er ging kurz in das Bad und machte sich fertig für die Nacht.

Das Bett war bequem und durch das leicht geöffnete Fenster kam ein angenehmer Luftstrom. Dennoch blieb er lange wach liegen. Die Erschöpfung nagte zwar an ihm, aber seine Gedanken wollten nicht aufhören, um das zu kreisen, was er zuletzt erlebt hatte.

Irgendwann stand er auf und ging leise durch die Wohnung hinaus auf die Terrasse. Er blieb eine Weile an der Brüstung stehen und schaute in Richtung Meer. Das Geräusch der Wellen strömte eine seltsame Ruhe aus und er ließ sich schließlich auf einem der Liegestühle nieder und schloss die Augen.

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