39. Das Armband
Peggy sah von dem schwarzen Stofffetzen auf und blickte in Kenais Gesicht. Sie hatte ihn noch nie zuvor so zornig gesehen und befürchtete, dass er nun unüberlegt handeln könnte.
„Ich werde meinen Leuten sagen, dass sie in der ganzen Nachbarschaft Wachposten aufstellen sollen. Und wir werden nach dem Angreifer suchen", sagte sie schnell, um ihn zu beruhigen.
Doch Kenai konnte dies noch nicht beschwichtigen.
„Noch diese Nacht werden sie hier sein", fügte sie hinzu.
„Wie kann ich sicher sein, dass keiner von denen in Wirklichkeit für DIE arbeitet?", knurrte er.
„Ich habe volles Vertrauen in meine Leute."
„Ich nicht. Hör zu, der, den sie heute geschickt haben, war wohl eher noch ein Anfänger."
Sie deutete auf das Messer in seinem Bein. „Dafür hat er dir aber ganz schön zugesetzt."
„Nächstes Mal schicken sie vielleicht jemanden, der noch mehr drauf hat. Das Risiko werde ich nicht eingehen. Ich werde Stella auf die Farm zurück bringen!"
Peggy schüttelte den Kopf.
„Du willst die Kleine mitten in der Nacht wecken? Um ihr dann zu erklären, dass jemand hinter ihr her ist? Ich halte das für keine gute Idee. Du solltest jetzt erst mal heim zu deiner Frau fahren und das noch einmal in Ruhe überdenken. Wir können morgen reden. Bis dahin werden mein Mann und ich gut achtgeben."
„Ihr habt ja nicht mal gemerkt, dass sie nicht mehr in ihrem Bett liegt", sagte er vorwurfsvoll.
„Doch, haben wir bemerkt. Aber ihr liegt so viel an dem Kätzchen, dass wir sie einfach dort liegen gelassen haben. Und wenn ich jetzt gleich wieder reingehe, werde ich ins Wohnzimmer gehen und die ganze Nacht bei ihr bleiben."
Sie hatte jetzt den Eindruck, dass er allmählich anfing, über ihren Vorschlag nachzudenken.
„Du bekommst ohnehin keinen Flieger vor morgen Nachmittag. Lass die Kleine die Zeit noch möglichst unbehelligt verbringen."
Er setzte erneut an, zu protestieren.
„Ich verspreche dir, dass ihr nichts passieren wird."
„Woher wissen sie von ihr? Woher wissen sie, dass sie bei dir ist?"
„Woher wissen wir, dass sie tatsächlich das Ziel war? Hat er dir irgendwas erzählt?"
„Nein. Aber alles andere wäre schon ein komischer Zufall, finde ich."
„Ich werde das aufklären."
„Du solltest in deiner Organisation aufräumen, denn ich glaube ihr habt einen Maulwurf."
„Das mag sein. Aber das werden wir hier und jetzt nicht klären können. Fahr heim zu deiner Frau!"
Sie bedachte ihn mit einem prüfenden Blick. Er knickte anscheinend immer noch nicht ein.
„Möglicherweise haben sie auch eure Wohnung ins Visier genommen. Du solltest jetzt wirklich bei Susan sein", gab sie zu bedenken. „Hier sind mein Mann und ich für deine Tochter da."
Peggy sah, wie er nachdenklich den Unterkiefer hin und her schob.
„Also gut", sagte er schließlich leise. „Ich verlasse mich auf euch. Und wir reden morgen!"
Sie entdeckte jetzt die Axt am Boden und wunderte sich einen Moment lang über den zerbrochenen Stiel. Doch dann hob sie beide Teile auf und verstaute sie kindersicher im Gartenhäuschen.
Kenai zog währenddessen sein Tomahawk aus der Wand und hängte es zurück an seinen Gürtel.
„Für die Schäden werde ich aufkommen", brummte er.
„Ist nicht nötig", sagte Peggy und beobachtete ihn dabei, wie er versuchte das Messer aus seinem Bein zu ziehen.
„Warte ich helfe dir", sagte sie, packte das Heft und stützte sich mit dem Bein gut ab.
Mit einem Ruck war es draußen. Es kamen jedoch auch ein paar Drähte, in welchen sich die Zähnchen des Messers verfangen hatten, mit heraus.
„Kommst du damit heim?"
Er prüfte kurz, wie beweglich das Bein noch war.
„Ja, das geht noch. Ich sollte dieses Mal nur auf dem Fußweg bleiben."
Er blickte noch einen Moment durch die Terrassentür in das schwach erleuchtete Wohnzimmer, nickte Peggy zu und hinkte dann durch das Gartentor auf den Fußweg.
Peggy ging leise zurück in das Haus. Dort ging sie zunächst ins Schlafzimmer, wo ihr Mann hellwach auf dem Bett saß und sie mit einem fragenden Blick ansah.
„Was ist los?", fragte er besorgt.
Sie wollte einerseits nicht, dass er zu sehr in derartige Dinge mit hineingezogen wurde, denn er hatte bereits mehr als genug für die Welt getan. Doch andererseits brauchte sie jetzt seine Unterstützung. Daher ging sie auf ihn zu und reichte ihm mit einem sorgenvollen Seufzer den schwarzen Fetzen.
Auch ihm fiel direkt die Anstecknadel auf und sein Blick verfinsterte sich.
„Woher hast du das?"
„Kenai hat vorhin einen von ihnen ertappt und ihm dabei diesen Kragen abgerissen."
„Was habt ihr jetzt vor?"
„Ich werde Wachposten aufstellen lassen. Und ich habe Kenai versprochen, dass wir beide gut auf seine Tochter aufpassen."
Steve nickte.
„Könntest du, während ich telefoniere, ins Wohnzimmer gehen und nach ihr sehen?"
„Ja, klar."
„Danke!"
Sie küsste ihn auf die Wange und lief in ihr Arbeitszimmer. Sie schloss die Tür hinter sich und telefonierte mit ihren Leuten.
**
Steve ging leise in das Wohnzimmer. Stella lag noch immer friedlich schlafend auf dem Boden neben dem Kätzchen. Er überprüfte, ob sie es dort auch warm genug hatte, und deckte sie ein wenig fester zu.
Danach sah er nach, ob es dem kleinen Tier gut ging. Es wirkte schon lebendiger als noch am Nachmittag und es schlief friedlich zusammengerollt.
Er setzte sich so geräuschlos wie möglich auf das Sofa und blickte hinaus in den Garten.
Es vergingen einige Minuten, bis Peggy in das Wohnzimmer geschlichen kam und ihn ablösen wollte.
„Geh du ins Bett und schlafe", sagte er leise. „Ich bleibe hier und gebe Acht."
Sie schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht von dir verlangen."
„War ja auch mein eigener Vorschlag", lächelte er. „Ruh dich aus. Ich schätze du wirst morgen noch einen anstrengenden Tag haben."
Er umarmte sie sanft und küsste sie, um ihr eine gute Nacht zu wünschen.
Sie gab zögernd nach und schlich sich zurück ins Schlafzimmer.
Steve saß da und blickte durch die Terrassentür in den Garten. Dort rührte sich nichts. Er lauschte in die Nacht, um zu hören, ob sich irgendwas anderes am Haus tat. Es blieb alles friedlich, bis die Sonne aufging und die Nachbarschaft allmählich zu ihrem alltäglichen Leben erwachte.
Er hing eine Weile seinen Gedanken nach und fragte sich, wie weit HYDRA wohl gehen würde, um an Stella heranzukommen. Er überlegte, was sie mit ihr vorhaben könnten und alles, was ihm einfiel, behagte ihm nicht.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er die Stimme des kleinen Mädchens neben sich hörte.
„Hallo!", sagte sie mit einem freudigen Lächeln.
„Guten Morgen!"
Sie nahm seine Hand und zog sie in Richtung des Kartons.
„Schau mal!", sagte sie.
Das Kätzchen war wach und auf den Beinen. Es erkundete gerade munter den ganzen Karton.
„Hm, so langsam sollten wir uns einen Namen für ihn ausdenken", sagte Steve.
„Ist er ein Junge?"
„Ja, das hat der Tierarzt gesagt."
„Felix."
„Du findest er soll Felix heißen? Gut, dann nennen wir ihn so."
Er streichelte Felix vorsichtig.
„Wir könnten mal probieren, ob er schon alleine essen kann", schlug Steve vor.
„Machst du ihm Frühstück?"
„Ich mache uns allen Frühstück. Hast du Hunger?"
„Ja."
Beim Frühstück gesellte sich Peggy zu ihnen. Gleich danach verschwand sie erst in ihrem Arbeitszimmer, um zu telefonieren, und sagte dann, dass sie kurz ins Büro fahren müsse.
„Ist das okay für dich, wenn ich euch zwei alleine lasse?", fragte sie ihren Mann vorsichtig.
„Ja sicher, wir kommen klar."
Steve verbrachte den verregneten Vormittag mit Stella im Haus.
Sie hatte ihr Spielzeugauto hervorgeholt. Dazu gab es eine kleine Fernbedienung und sie führte Steve begeistert vor, wie das Auto durchs Wohnzimmer flitzen konnte. Bald waren die Batterien des Spielzeugs leer und es blieb unter dem Sofa stehen. Das Mädchen versuchte, sich vor das Sofa zu legen und mit seinen Armen danach zu angeln. Doch so sehr sie ihre Arme auch streckte, sie kam nicht ran.
Steve half ihr, indem er das Sofa an einer Seite hochhob. Als sie ihr Spielzeug wieder hatte, stellte er das Sofa wieder ab und wurde von zwei großen Augen angesehen.
„Warum bist du so stark?"
„Ich habe meinen Spinat immer aufgegessen", flunkerte er, denn er wollte dem Kind nicht erklären, dass er durch ein besonderes Experiment in einen Supersoldaten verwandelt worden und seitdem kräftiger als normale Menschen war.
Sie stellte das Auto in ihre Kiste zurück und holte nun ihre Malsachen hervor. Steve ließ sie damit am Küchentisch Platz nehmen, während er Sandwiches zubereitete.
Als Peggy endlich heimkam, legte Steve sich für eine Weile ins Schlafzimmer, um ein wenig Schlaf nachzuholen.
Peggy passte in der Zeit auf Stella auf. Es hatte aufgehört, zu regnen, und sie beschloss, das Kind mit in den Garten zu nehmen, um dort ein paar Arbeiten zu erledigen.
Sie hatte sich nur einen Moment umgedreht, als sie ein verdächtiges Rascheln hörte und dann sah, dass das Kind aus einem Baum geplumpst war. Sie ging hin und schaute sich das Kind an.
„Ist alles gut? Hast du dir wehgetan?"
„Alles gut! War nicht hoch."
„Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht nochmal auf den Baum klettern sollst!"
„Das war ein anderer Baum", versuchte sich das Kind herauszureden.
„Gut, dann gilt das jetzt für alle Bäume."
Peggy sah jetzt, dass das Mädchen sich den Arm leicht aufgeschrammt hatte.
„Herrje, dass sollten wir uns drinnen mal ansehen."
Sie ging mit dem Kind ins Bad und wusch ihm erst mal den Arm. Als der Dreck weg war, sah es schon nicht mehr ganz so schlimm aus. Doch Stella schaute plötzlich traurig.
„Mein Armband ist weg!"
Peggy sah sich den Arm an und fragte sich, wie das Kind das Armband hatte verlieren können. Vermutlich war es ein Stück zu groß für das schmale Handgelenk gewesen.
„Ich klebe dir erst mal ein Pflaster auf und dann gehen wir suchen."
Die beiden gingen den ganzen Garten ab und fanden das Armband nicht. Als Steve wach war, kam er hinzu und versuchte ebenfalls sein Glück. Doch selbst er mit seiner verbesserten Sehfähigkeit entdeckte nichts von dem silbernen Armbändchen.
Das Kind saß schließlich mit einem traurigen Gesicht am Küchentisch, während Peggy das Abendessen auf dem Herd köcheln ließ.
„Ich halte in den nächsten Tagen weiter Ausschau nach dem Armband", versprach Steve und setzte sich mit an den Tisch.
„Es war von Tony. Er mag mich bestimmt nicht mehr", sagte das Kind leise.
„Warum sollte er dich nicht mehr mögen?"
„Er hat wegen mir Ärger gekriegt."
„Warum hat er wegen dir Ärger gekriegt?"
„Weil ich ihn genervt habe."
„Da muss aber noch mehr passiert sein."
„Ich habe genervt. Er hat mich geschubst. Und dann war ich in der großen Kiste", begann das Mädchen zu erzählen.
Peggy drehte sich zu den beiden um und hörte aufmerksam mit.
„Und dann?", fragte Steve.
„Etwas hat mich gepikst."
Sie nahm ihren kleinen Zeigefinger und pikste Steve damit demonstrativ in den Arm.
„Das muss eine große Brennnessel gewesen sein! Es hat überall ganz doll weggetan. Und die Tür war zu. Dann ging ein ganz helles Licht an!"
Peggy sah einen Augenblick in Steves Augen und ahnte, worauf diese Beschreibung hinauslief.
„Was ist dann passiert?", fragte sie, um die eingetretene Stille zu durchbrechen.
„Mr. Stark hat die Tür aufgemacht. Dann kam Dad ganz schnell. Jetzt mag Dad Mr. Stark nicht mehr. Mr. Stark mag Tony nicht mehr. Tony mag mich nicht mehr."
„Ich bin mir sicher, dass ihr alle euch bald wieder vertragen werdet", tröstete Steve das Kind.
Er holte kurz Luft, stand dann auf und begann den Tisch für das Abendessen zu decken.
Für Stella legten sie später die Matratze aus dem Gästezimmer auf den Schlafzimmerboden. Dies war der beste Weg, um ganz in der Nähe des Kindes zu sein und gleichzeitig auch ein wenig Schlaf zu bekommen. Auf ihrem neuen Schlafplatz schlummerte das Kind bereits eine Weile friedlich, während Steve und Peggy im Bad noch leise miteinander sprachen.
„Howard hat dir nicht sagen wollen, um was für eine Maschine es sich gehandelt hat?"
„Nein. Er hat viel um den heißen Brei geredet und nichts verraten. Du hast einen Verdacht, oder?"
Er nickte. „Ja."
„Ich könnte Kenai fragen. Er arbeitete mit Howard in diesem Labor. Er muss irgendetwas darüber mitbekommen haben", nahm sie sich vor. „Wenn es diese Maschine war, an die wir beide gerade denken - es fehlte doch das Serum, oder?"
Er zuckte mit den Schultern. „Möglicherweise hat Howard inzwischen doch einen Weg gefunden es herzustellen."
„Ich werde mit Kenai morgen sprechen, wenn ich ihm Stella zurückbringe."
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