37. Der Nachtschreck

Als Peggy mit Stella in ihrem Haus ankam, war Steve gerade unterwegs, um ein paar Einkäufe zu erledigen. Peggy zeigte dem Mädchen das kleine Gästezimmer, in welchem sie übernachten sollte und wo alles Andere in dem Haus war.

Die Führung durch das Haus endete im Wohnzimmer. Das Kind kletterte auf einen der Sessel und nahm dort Platz. Peggy saß ihr fast gegenüber. Das Mädchen sah sich schüchtern um, während Peggy überlegte, wie sie das Kind nun sinnvoll beschäftigen könnte. Sie hatte zwar selbst zusammen mit ihrem Mann zwei Kinder großgezogen, aber mit fremden Kindern umzugehen war sie nicht sehr gewohnt.

Endlich kam Steve heim. Als er durch das Wohnzimmer kam, stand Peggy auf und begrüßte ihn.

„Stella, das ist mein Mann, Mr. Carter."

Steve lief mit einem freundlichen Lächeln zu Stella herüber und gab ihr vorsichtig die Hand.

„Hallo Stella."

„Hallo", sagte das Kind schüchtern und schwieg dann wieder.

„Ich bringe kurz den Einkauf in die Küche und setze mich dann zu euch", kündigte er an.

Als Steve ins Wohnzimmer zurückkam, herrschte dort immer noch Stille. Er sah seine Frau an und sie lächelte etwas unsicher zurück. Er beschloss, zu versuchen das Eis zu brechen, und zeigte auf die Spielzeugkiste, die Peggy im Wohnzimmer abgestellt hatte.

„Magst du uns erzählen, was du alles dabei hast?"

„Spielzeug."

„Und was genau?"

„Weiß nicht."

„Magst du mal schauen?"

Das Kind nickte, rutschte vom Sessel herunter und ging zu der Kiste. Sie kramte ein wenig darin herum. Zum Vorschein kamen zwei Bilderbücher, ein Buch zum Vorlesen, ein Spielzeugauto, ein paar Bausteine, ein Malbuch, ein Zeichenblock, Stifte, eine Zaubertafel und eine kleine Puppe mit Kleidern.

Steve zeigte auf die Zaubertafel und fragte neugierig: „Was ist das?"

Sie nahm die Tafel und ging vorsichtig zu ihm herüber.

„Damit kann man malen."

Sie zeichnete eine einfache Sonne und ließ sie mit einem Kichern wieder verschwinden. Steve beschäftigte sich jetzt eine ganze Weile mit dem Kind und der Zaubertafel. Sie zeichneten abwechselnd kleine Bilder und Stella fing an, sich langsam an die neue Umgebung zu gewöhnen.

Am Abend kochte Peggy das Essen. Stella saß auf dem Boden im Wohnzimmer und spielte mit den Bausteinen. Steve ging durch die Terrassentür heraus in Richtung des kleinen Gartenhäuschens, um Brennholz für den Kamin zu holen.

„Du Stella?", fragte Peggy durch die Küchentür.

Das Mädchen sah sie an.

„Kannst du rausgehen und Mr. Carter hereinholen. Das Essen ist gleich fertig."

Peggy ging davon aus, dass das Kind den Weg direkt finden würde. Der Garten war nicht riesig und nach allen Seiten durch einen hohen Holzzaun abgesperrt. Das Gartenhäuschen konnte man direkt von der Terrasse aus sehen. Sie müsste also auch Steve direkt sehen, wenn er sich nicht gerade in dem Häuschen befand.

Es verging mehr Zeit als erwartet und als Steve mit Stella hereinkam, hatte sie eine blutige Oberlippe. Steve setzte das Kind auf einen Küchenstuhl und machte sich daran, die Lippe zu versorgen.

Ich hätte sie doch nicht allein rausschicken sollen. Wie soll ich Susan erklären, dass sie sich gleich am ersten Abend eine blutige Lippe geholt hat?

„Herrjemine! Was ist denn passiert?"

„Bin runtergefallen."

„Runtergefallen? Wovon?"

„Vom Baum."

Peggy konnte im Moment nicht verstehen, warum Steve gerade schmunzelte. Sie bedachte ihn mit einem strengen Blick.

„Warum warst du auf dem Baum?"

„Jemand hat einen Frisbee reingeworfen."

Peggy seufzte und hockte sich vor dem Kind hin, um ihm in die Augen sehen zu können.

„Hör zu Stella! Ich möchte nicht, dass du noch einmal alleine auf den Baum kletterst. Wenn sich darin etwas befindet, sagst du Mr. Carter Bescheid. Der ist groß genug, um die meisten Sachen einfach so heraus zu holen."

Stella nickte. „Okay"

„Gut. Magst du Spaghetti?"

Das Mädchen lächelte jetzt freudig und es kam eine Zahnlücke zum Vorschein, die da vorher noch nicht war.

„Wo ist dein Zahn?", fragte Peggy.

Das Kind zuckte mit der Schulter. „Im Garten."

„Wie?"

„Ist rausgefallen."

„Einfach so?"

„Beim Hinfallen. Hat schon ganz doll gewackelt."

Das kann ja heiter werden!, dachte Peggy.

Das Abendessen schmeckte allen sehr. Als alle satt waren, durfte Stella aufstehen und noch ein wenig im Wohnzimmer spielen, bis sie schließlich von Peggy ins Bett gebracht wurde.

Vor dem Einschlafen las Peggy ihr noch ein paar Seiten aus der Ausgabe von „Pu der Bär", die das Kind dabei hatte, vor. Nachdem das Kind die Augen geschlossen hatte und friedlich schlummerte, ging Peggy ins Schlafzimmer. Sie ließ die Türen beider Räume offen, um es hören zu können, wenn mit dem Kind irgendetwas ist.

Sie machte sich für die Nacht zurecht und legte sich zu ihrem Mann ins Bett.

„Warum musstest du eigentlich so sehr schmunzeln, als sie mit der blutigen Lippe hereinkam", fragte sie leise.

Das Schmunzeln kehrte auf seine Lippen zurück.

„Du weißt doch noch, wie unsere in dem Alter waren. Und außerdem erinnert sie mich an ihren Sohn."

Peggy musste nun ebenfalls schmunzeln. „Also, das klingt ein wenig verrückt. Aber ich weiß, wie du das meinst."

„Wie hältst du eigentlich Kenai davon ab, dir nachzuspionieren, um sicherzugehen, dass du dich gut um seine Tochter kümmerst?"

„Wir wissen, dass er gerade ein Stück Land sucht. Howard hat jemanden aufgetan, der ihm heute eins anbieten wollte und ihn zu diesem Zweck besucht hat."

„Und den Rest der Zeit?"

Sie verzog das Gesicht. „Wird sich jemand darum kümmern."

Die beiden wünschte sich eine gute Nacht und schlossen die Augen.

Sie schliefen inzwischen schon eine Weile, als sie von Stellas Kreischen aufgeschreckt wurden. Peggy machte an ihrer Nachttischlampe das Licht an, während Steve bereits aufgestanden war, um nach dem Kind zu sehen. Peggy folgte ihm und blieb in der Tür stehen.

Stella lief wie angestochen durch das Zimmer und rief nach ihren Eltern und Großeltern. Sie konnte die Namen vor Weinen irgendwann nicht mehr deutlich aussprechen und zitterte vor Panik. Sie schien Steve gar nicht wahrzunehmen. Er hörte jedoch, wie schnell und stark ihr kleines Herz schlug. Das Kind hatte Schwierigkeiten noch richtig Luft zu bekommen.

Steve hockte sich vor dem Kind hin und hielt es vorsichtig an den Oberarmen fest.

„Hey Stella hörst, du mich?"

Sie reagierte nicht.

Er legte jetzt vorsichtig seine Hand auf ihre Wange.

„Sieh mich an!"

Sie richtete ihre großen ängstlichen Augen auf sein Gesicht und schnappte nach Luft.

„So, jetzt holst du mal tief Luft, ja?"

Das Mädchen versuchte, sich zu beruhigen, zitterte aber noch immer.

„Magst du mir erzählen, was los ist?"

„Alle... alle sind ... weg!", weinte sie.

„Aber wieso sollten alle weg sein?", fragte er geduldig.

„Er... er hat... hat sie weggezaubert!"

„Wer hat sie weggezaubert?"

„Der Mann."

„Welcher Mann?"

„Er ist ganz groß und ... irgendwie lila."

In Steves Hals bildete sich ein Kloß. Diese kindliche Beschreibung war zwar sehr vereinfacht, aber sie passte sehr zu einem Ereignis, welches er in seinem Leben bereits erlebt hatte und der Rest der Welt noch erleben wird. Ein wahnsinniger Titan namens Thanos wird in der Zukunft mit Hilfe der Macht der Infinity Steine die Hälfte der Lebewesen im Universum mit einem Schnipp auslöschen. Die Avengers hatten alles versucht, um ihn daran zu hindern. Steve erinnerte sich nun an das Gefühl versagt zu haben. Er dachte daran, wie es seinen Freunden und dem Rest der Welt in der Zeit danach ging. Jeder hatte mindestens einen geliebten Menschen verloren. Einfach so durch einen Schnipp, von einer Sekunde auf die nächste.

Das Einzige, was Steve in diesem Moment einfiel, war das Kind in den Arm zu nehmen. Er nahm sie hoch und wollte sie ins Wohnzimmer tragen.

„Peggy, kannst du mir Taschentücher und einen kalten Lappen bringen?", fragte er seine Frau leise.

Peggy ging in die Küche, um beides zu holen. Steve setzte sich in der Zeit mit dem Kind auf den Sessel neben dem Telefon. Die Atmung der Kleinen hatte sich etwas beruhigt, doch sie zitterte noch immer.

„Das vorhin war bestimmt nur ein Traum", sagte er sanft zu dem Kind. „Wir sind doch noch da."

„Und Mom und Dad?"

„Die sind auch noch da."

„Wo?"

„In eurer Wohnung. Wir können sie gleich anrufen, wenn du magst."

Das Kind nickte.

Peggy kam mit den Taschentüchern und dem kalten Lappen aus der Küche. Stella sah auf und schaute sie an. Ihre Nase fing an zu bluten.

Peggy sah Steve einen Augenblick fragend an und gab den beiden dann die Taschentücher und den Lappen. Er versorgte das Kind jetzt damit, sodass das Nasenbluten nach ein paar Minuten gestoppt war.

„So wird es langsam besser, oder?", fragte er sie.

„Ja", sagte Stella leise. „Hab dein Shirt dreckig gemacht", stellte sie fest.

„Ist nicht schlimm."

Er sah jetzt seine Frau an. „Wir sollten ihre Eltern anrufen, damit sie ihre Stimmen hören kann."

Seine Frau holte jetzt ihr Adressbuch hervor und wählte dann die Nummer. Es klingelte ein paar Mal, bis Susan am anderen Ende abhob.

„Hallo Susan... ", begann Peggy.

„Was ist passiert?", fragte die Mutter, als sie Peggys Stimme hörte.

„Stella hatte einen schlimmen Traum und wir dachten, es wäre gut, wenn ihr kurz mit ihr sprechen könntet."

„Ja, dann gib sie mir!", sagte Susan ungeduldig.

„Hallo Kleines! Ist alles in Ordnung bei euch?"

„Ich hab schlimm geträumt."

„Aber die Carters kümmern sich doch gut um dich."

„Ja. Du bist noch da?"

„Ja, ich bin noch da. Und bald sehen wir uns auch wieder, versprochen."

„Ist Dad auch da?"

„Ja, soll er dir mal >>Hallo<< sagen?"

„Ja."

Kenai war jetzt am anderen Ende zu hören.

„Stella, was ist los?"

„Du bist auch noch da!", stellte das Kind fest.

„Ja, das bin ich. Und auch wir werden uns bald wiedersehen. Ist sonst alles in Ordnung?"

„Ja."

„Das ist gut. Versuch, bald weiter zu schlafen, hörst du?"

„Ja."

„Mom und ich, wir haben dich lieb."

„Hab euch auch lieb."

Stella reichte Peggy den Hörer zurück.

Susan erklärte Peggy noch, dass sich in Stellas Kulturbeutel ein Kräuterbalsam befand, welches bei Kopfschmerzen wohltun sollte.

„Mutet ihr Morgen nicht zu viel zu. Sie wird müde und weinerlich sein. Versucht sie aber trotzdem dazu zu bringen, einen Bissen zu essen."

„Sie wird morgen so viel Ruhe haben, wie sie braucht und das mit dem Essen bekommen wir schon hin", versicherte Peggy.

Nachdem sie aufgelegt hatte, nahm sie ihrem Mann die dreckigen Taschentücher ab. Das Kind hatte sich beruhigt und hatte sich in seine Arme gekuschelt.

Steve blieb noch eine Weile so mit ihr sitzen, bis sie schließlich wieder einschlafen konnte. Er trug sie dann zurück zu ihrem Bett und wollte sie darin ablegen. Sie klammerte sich an ihm fest.

„Du solltest jetzt weiterschlafen."

„Hab Angst."

„Das musst du nicht. Wir sind ganz in der Nähe. Wir hören dich, wenn du uns brauchst."

„Kannst du ein Licht anlassen?"

„Ich lasse das kleine Licht im Flur an, ja?"

Das Mädchen nickte.

Er lächelte sie freundlich an, bevor er das Zimmer verließ.

„Schlaf gut!"

„Nacht!"

Im Schlafzimmer legte sich Steve zu seiner Frau zurück ins Bett. Sie kuschelte sich an ihn an. Er schloss sie in seine Arme und küsste sie.

„Worüber denkst du gerade nach?", fragte sie schließlich.

Er lächelte sie liebevoll an. „Es ist nichts."

„Dich hat ihr Albtraum irgendwie auch mitgenommen. Und ich verstehe das. Wen nimmt es nicht mit, wenn ein Kind so furchtbare Angst hat?"

Er seufzte: „Es ist nicht nur das. Es war kein Traum."

Peggy schaute überrascht. „Was denn dann?"

„Du kennst doch auch Inola schon recht lang..."

„Du glaubst, es war eine Vision?"

„Ich weiß, das es eine Vision war."

Sie nickte nachdenklich und schien jetzt zu verstehen.

„Du hast das Ereignis erlebt..."

An seinem Blick erkannte sie jetzt, dass er sich hierfür verantwortlich fühlte.

„Ich habe damals versagt und konnte es nicht verhindern", gestand er. „Letztlich war es dann nur ein Zufall, der uns die nötige Idee gebracht hat, um es wieder gut zu machen. Und es hat viel zu viele Opfer gekostet."

„Du hast mit Sicherheit nicht versagt. Aber manchmal können die Dinge einfach nicht verhindert werden. Und es ist erstaunlich oft nur ein Zufall, der die rettende Idee bringt. Ich weiß, dass du die Opfer nicht vergessen kannst. Aber kannst du auch was Gutes entdecken, was daraus entstanden ist?"

Sein Blick hellte sich deutlich auf. „Ja. Ohne diese Ereignisse hätte ich nicht zu dir zurückgefunden. Und das ist das Beste, was mir passieren konnte."

Er schloss sie jetzt ein bisschen fester in die Arme und küsste sie erneut.

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