36. Die Überzeugungsarbeit
An einem Donnerstagabend im Herbst 1977 kam Peggy Carter nach einer langwierigen Besprechung heim.
Bevor sie die Haustür aufschloss, hielt sie kurz inne. Drinnen war ihr Ehemann Steve, den sie heute von einer Idee überzeugen musste.
Mit ihm hatte sie nach seiner Rückkehr zu ihr vereinbart, dass er sich von allen Menschen, die er früher schon einmal getroffen hat oder die ihn später wieder erkennen könnten, fern hielt. Er hatte dies für das Beste gehalten. Heute musste sie ihn davon überzeugen, diese Idee auszuweiten. Wenn sie ihren Vorschlag umsetzen würden, wäre eine Bekannte von ihm für das ganze Wochenende in seiner Nähe.
Doch sie hatte auch gute Argumente für ihr Vorhaben parat, weswegen sie daran glaubte, dass er ihr letztlich zustimmen wird. Es gefiel ihr nur nicht, ihn in eine Situation zu bringen, die ihm nicht behagte.
Endlich schloss Peggy die Tür auf, ging hindurch und zog sie gleich wieder hinter sich zu.
Noch während sie ihre Jacke aufhängte, kam Steve aus der Küchentür, lächelte sie an und begrüßte sie mit einem Kuss.
Ihm fiel direkt ihr nachdenklicher Blick auf.
„Kommst du mit in die Küche und erzählst mir von deinem Tag? Ich bin gerade dabei zu kochen und muss ab und zu umrühren", fragte er, während sie ihre hohen Schuhe gegen bequeme Hausschuhe austauschte.
„Ja."
In der Küche schaute Peggy aus Neugier in die Töpfe, während Steve eine Soße umrührte. Nachdem er den Topf wieder mit einem Deckel versehen hatte, drehte er sich zu ihr um.
„Was ist los?"
Sie seufzte: „Wir hatten heute eine lange Besprechung, weil es in einem von Howards Laboren einen Vorfall gegeben hat."
„Fangen so nicht die meisten deiner Aufträge an?"
Sie schmunzelte leicht. „Viele, ja."
„Was ist dieses Mal anders?", fragte er und wandte sich den Töpfen auf dem Herd zu.
Sie rieb sich mit einer Hand die Stirn.
„Dieses Mal war ein kleines Mädchen darin verwickelt."
Er drehte sich jetzt wieder zu ihr um.
„Wer?"
„Stella Hammond."
Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Die erwachsene Stella hatte ihm nie von einem Vorfall erzählt.
„Was ist passiert?"
„Sie ist in eine Maschine geraten. Kenai hat sie wohl einen Moment alleine mit Howard und seinem Sohn gelassen. Und der Moment hat wohl ausgereicht, damit es passieren konnte. Mehr habe ich aus Howard nicht herausbekommen. Er hat sie mehrfach untersucht und sagt, dass es keine Auswirkungen auf sie hatte."
„Glaubst du ihm das?"
„Du weißt, was sie später einmal können wird. Wir können nicht ausschließen, dass sich tatsächlich schon etwas an ihr verändert hat. Aber solange es nicht offensichtlich ist, würde ich gerne erstmal daran glauben, dass sie einfach nur ein kleines Mädchen ist."
„Das ist sie auch."
„Ja, aber davon sind leider nicht alle überzeugt. Die vorherrschende Meinung bei S.H.I.E.L.D ist im Moment, dass man sie in einem Labor aufwachsen lassen sollte. Sie haben schon damit angefangen eines herzurichten!"
„Das wäre nicht richtig. Sie sollte bei ihrer Familie aufwachsen."
„Ja, das wäre es nicht! Deswegen habe ich vorgeschlagen, dass sie zunächst für ein Wochenende unter Beobachtung durch einen S.H.I.E.L.D-Agent gestellt werden sollte. Derjenige soll einfach mit ihr spielen und sprechen - was man mit Kindern eben macht. Und dabei nach Auffälligkeiten Ausschau halten."
„Wer wird derjenige sein?"
„Wer sollte deiner Meinung nach derjenige sein?"
„Jemand, der die Auffälligkeiten getrost übersieht, wenn es welche gibt?"
Sie nickte zustimmend und lächelte. Ihr Mann hatte schon längst verstanden, worauf sie hinaus wollte.
„Jemand der sich traut, sich Susan und Kenai zu stellen und sie von der Idee zu überzeugen", fügte sie hinzu.
„Du willst Stella also hierher holen? Und ich soll dabei sein?"
„Ja."
„Sie wird mich dann viel zu früh kennenlernen..."
„Sie ist noch klein genug, dass sie sicher die Begegnung vergessen wird. Wer erinnert sich schon daran, was er erlebt hat, als er vier war?"
„Jemand, der als kleines Kind in eine von Howards Erfindungen geraten ist?"
Peggy wollte gerade dazu ansetzen weitere Argumente für ihre Idee aufzuführen, als Steve sie unterbrach und sie liebevoll anlächelte.
„Du hast mich trotzdem überzeugt."
Sie lächelte jetzt zufrieden.
„Gut. Von ihren Eltern halte ich dich aber fern. Die Herausforderung die Beiden zu überzeugen, wartet morgen auf mich. Sie sind immerhin seit heute schon in der Stadt. Ich werde sie dann gleich morgen früh in ihrem Appartement besuchen."
Steve schaute noch einmal in die Töpfe und stellte fest, dass das Essen fertig ist.
„Dann solltest du dich jetzt erstmal mit einem Abendessen stärken!"
**
Am nächsten Morgen fuhr Peggy zum Appartement der Hammonds. Als sie klingelte, öffnete Susan ihr die Tür. Die Sorge war ihr ins Gesicht geschrieben.
„Guten Morgen, Peggy. Was führt dich so früh hierher?"
„Guten Morgen, Susan. Ich glaube du ahnst es schon."
„Howard hat sie jetzt schon mehrfach untersucht. Was wollt ihr denn noch?", fragte Susan ungeduldig.
„Darf ich erstmal reinkommen?"
„Ja, komm mit in die Küche. Wir sind gerade dabei Frühstück zu machen."
Susan bedeute Peggy, ihr zu folgen.
In der Küche war bereits Eilis Hammond, Susans Mutter. Sie war gerade dabei Pancakes zuzubereiten.
„Guten Morgen Peggy!", sagte Eilis und musterte Peggy.
„Setz dich!", forderte Susan sie auf.
Peggy suchte sich einen Stuhl aus und ließ sich darauf nieder.
„Ist Kenai auch in der Nähe?"
Gerade in dem Moment kam Kenai in die Küche und blieb einen Augenblick stehen, als er Peggy entdeckte.
„Guten Morgen!", seufzte er und nahm auch am Tisch Platz. „Weswegen bist du hier?", fragte er und beobachtete sie aufmerksam.
„Nach dem Vorfall mit Howards Maschine sind ein paar Menschen bei S.H.I.E.L.D der Meinung, dass man Stella weiter beobachten und dazu in einem Labor dauerhaft unter Aufsicht stellen sollte", erklärte sie.
„In einem Labor?", fragte Susan entsetzt und setzte sich neben ihren Mann. „Und du glaubst jetzt, dass wir das so einfach zulassen?"
„Nein, das glaube ich nicht. Howard hat ja mehrfach..."
„Howard hat gezeigt, dass man ihm kein Kind anvertrauen sollte. Er soll froh sein, dass ich nicht dabei war!", fauchte Susan.
Kenai legte seine Hand auf den Oberarm seiner Frau und sagte ruhig: „Wir sollten sie erstmal ausreden lassen."
„Danke! Er hat sie ja schon untersucht und uns versichert, dass es an ihr keine Veränderung gab. Nur sind bei S.H.I.E.L.D noch nicht alle davon überzeugt."
„Ach?", entgegnete Susan und hob eine Augenbraue.
„Mein Ziel ist es auch diese Zweifler zu überzeugen. Daher komme ich mit einem Vorschlag zu euch: Ich biete euch an, Stella über das Wochenende zu mir mit nach Hause zu nehmen. Mein Mann und ich werden gut auf sie Acht geben und dann am Montag bestätigen, dass sie weiterhin ein normales Kind ist."
„Das soll ich zulassen?", regte Susan sich auf. „Sie ist erst vier! Sie ist bisher immer in der Nähe eines Familienmitgliedes..."
„Ihr seid doch auch weiterhin in der Nähe, schließlich bleibt ihr ja hier in der Stadt! Wenn es ein Problem gäbe, würden wir euch anrufen und ihr könntet sie abholen."
„Ich kenne deinen Mann noch nicht einmal! Wir wissen nichts über ihn!"
Peggy überlegte kurz.
„Eilis ist ihm schonmal begegnet", erinnerte sie sich.
Eilis stellte die fertigen Pancakes auf dem Tisch ab und versuchte, sich zu erinnern.
„Ja, vor einigen Jahren ist er mal mit einem aufgeplatzten Jacket zu mir ins Geschäft gekommen und wollte es nähen lassen. Ist das noch der gleiche Mann? Groß, Blond und zu breite Schultern für das Jacket?"
Peggy nickte. „Ja."
Susan sah ihre Mutter fragend an. Eilis blickte zurück und wechselte ins Gälische, als sie mit ihrer Tochter sprach.
„Du kannst dich an den Mann vielleicht nicht mehr erinnern - du warst damals noch in der Grundschule. Aber ich habe den Eindruck, dass man ihm trauen kann."
„Du findest, also ich soll meine Tochter einfach so hergeben?"
„Nein. Ich finde aber, dass ein Wochenende bei den Carters die bessere Alternative ist, wenn man bedenkt, dass sie sie eigentlich in ein Labor sperren wollen."
„Was ist, wenn sie eben nicht bestätigen, dass sie normal ist? Du weißt, dass sie ein paar Eigenschaften von Kenais Mutter geerbt hat."
„Das ist mir bewusst. Aber sie werden denken, dass die Kleine einfach nur Albträume hat."
Susan wandte sich nun ihrem Mann zu, der das vorherige Gespräch geduldig abgewartet hatte. Susan wechselte jetzt in die Sprache der Nocona.
„Mom, findet dass wir ihnen trauen können und dass wir ihren Vorschlag in Erwägung ziehen sollten."
Er nickte ruhig. „Was denkst du?"
„Kann Peggy überhaupt mit Kindern?", brachte sie weitere Zweifel hervor.
„Ja, sollte sie. Sie hat zwei eigene. Die sind zwar beide schon aus dem Haus, aber irgendwie hat sie sie ja großgezogen bekommen. Und du musst bedenken, dass unsere Tochter ein ziemlich selbstständiges und meistens auch braves Kind ist. Im Allgemeinen zumindest."
„Ich will dass sich die beiden vorher kennen lernen, bevor wir endgültig entscheiden."
„Gut. Dann machen wir das so." Kenai wechselte jetzt zurück ins Englische. „Was hast du dir vorgestellt, wann du sie mitnehmen kannst?"
„Ich würde sie noch heute mitnehmen und am Montagnachmittag wieder zurückbringen. Wenn einer von euch zwischendurch ein ungutes Gefühl hat auch früher."
Kenai nickte und sagte dann: „Frühstücke mit uns!"
„Danke, eigentlich habe ich schon..."
„Ein Pancake wird noch reinpassen. Mir geht es außerdem nicht darum, dass du satt wirst. Ich möchte, dass unsere Tochter dich erstmal ein wenig kennenlernt!"
Peggy nickte. Susan stand jetzt auf und verließ die Küche. Eine kurze Zeit später kam sie mit ihrer Tochter zurück.
„Stella, das ist Mrs. Carter. Sie frühstückt heute mit uns."
Das Mädchen wirkte noch etwas verschlafen, sah Peggy aber neugierig an und sagte dann leicht schüchtern: „Hallo!"
Susan half der Kleinen auf ihren Kinderstuhl und als alle saßen, wurde das Essen verteilt.
Peggy überlegte, was sie das Kind fragen könnte, schließlich wollte sie den Hammonds zeigen, dass sie durchaus bereit war, auf ihre Bedingungen einzugehen. Sie beschloss, mit den Fragen anzufangen, die man üblicherweise kleinen Kindern stellt.
„Na Stella, wie alt bist du denn?"
„Vier!", sagte das Kind und hob vier Finger hoch.
„Dann gehst du bestimmt in den Kindergarten?"
„Es sind Ferien."
„Und wenn keine Ferien sind?"
„Ja."
„Was magst du dort am liebsten?"
„Hmm... Alles!", strahlte das Kind und schob sich ein etwas übergroßes Stück Pancake in den Mund.
Sie musste jetzt eine ganze Weile kauen, um den Mund wieder leer zu bekommen.
„Sie geht in den Kindergarten bei uns im Dorf. Dort gehen sie, wann immer das Wetter mitmacht, draußen spielen und bringen ihnen ein bisschen was über die Natur bei", erklärte Kenai.
Peggy nickte und überlegte, was sie noch fragen könnte. Dies hier sollte schließlich nicht wie ein Verhör wirken.
Susan brach schließlich die Stille.
„Kleines, Mrs. Carter hat vorgeschlagen, dass du sie in ihrem Haus besuchen könntest."
Das Kind schaute jetzt etwas skeptisch seine Mutter an.
„Wo ist das?"
„In einem hübschen Vorort, hier ganz in der Nähe", antwortete Peggy.
„Kommt ihr auch mit?"
„Nein, du würdest allein mit ihr mitgehen."
„Warum?"
In dem Moment klingelte das Telefon. Kenai ging dran, sprach einen Moment mit dem Anrufer und wandte sich dann der Gruppe am Tisch zu.
„Es kommt heute Abend jemand zu uns zu Besuch und wir müssen über ein paar langweilige Dinge reden. Peggy wird auf dich aufpassen", erklärte er.
„Hmm...", überlegte die Kleine. „Und Grandma?"
„Ich muss heute schon nach Hause fahren. Du weißt doch, dass ich deinem Grandpa versprochen habe, bald zurück zu kommen", erklärte Eilis mit einem milden Lächeln.
„Stimmt."
„Traust du dir zu, dich gut bei ihr zu benehmen?", fragte Susan ihre Tochter.
„Ja."
„Schaffst da das auch das ganze Wochenende? Drei Mal Schlafen?", hakte Susan nach.
„Ihr langweilt euch nicht zu sehr?"
„Nein, Kleines, wir kommen zurecht", antwortete Susan.
„Wer ist da noch?"
„Bei mir zu Hause wohnt noch Mr. Carter. Du wirst ihn mögen."
Das Kind sah zwischen seinen Eltern hin und her.
„Vielleicht kannst du uns zusammen mit Mrs. Carter zwischendurch anrufen?", schlug Kenai vor und schaute dabei Peggy an.
„Ja, das machen wir", sagte sie.
„Hmmm... Na gut", sagte das Kind schließlich.
„Also gut, wenn du aufgegessen hast, gehen wir in dein Zimmer und packen für dich einen Koffer", sagte Susan, nachdem sie und Kenai sich einen Moment in die Augen gesehen haben.
Unmittelbar nach dem Frühstück packte Susan für Stella einen Koffer. Zusätzlich gab sie ihr eine kleine Kiste mit Spielsachen und Kinderbüchern mit, sowie ihr Lieblingsstofftier.
Bevor sie alles Peggy in die Hand drückte, erklärte sie ausführlich, an welche Regeln ihre Tochter sich halten sollte.
„Sie ist in den meisten Dingen schon ziemlich selbstständig für ihr Alter. Beim Essen müsst ihr drauf achten, dass sie keinen zu vollen Teller bekommt. Sie soll lieber noch einen Nachschlag nehmen, als etwas liegen zu lassen."
„Wir werden darauf achten."
„Und da ist noch etwas, was ihr wissen solltet: Sie hat manchmal schlimme Albträume und wacht daran auf. Es kann dann sehr schwer sein, sie zu beruhigen. Ruft uns in dem Fall an. Egal zu welcher Uhrzeit."
„Ja, das machen wir so."
Susan reichte ihr einen Autoschlüssel.
„Nimm unseren Wagen. Dann müssen wir den Kindersitz nicht umbauen."
Susan, Kenai und Eilis verabschiedeten sich von dem Kind. Als Peggy mit Stella fortfuhr, winkten sie dem Auto hinterher. Im Rückspiegel konnte Peggy Susans besorgten Gesichtsausdruck erkennen.
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