3. Der Rekord

Als Michael am Sammelplatz ankam, warteten seine Rekruten schon auf ihn.

Neben ihnen sollte heute einer von außerhalb mit am Lauf teilnehmen. Der Fremde hatte sich zusammen mit den Rekruten in Reih und Glied aufgestellt und wartete auf die Einweisung.

Michael stellte sich vor ihm auf „Sie sind Captain Rogers und Sie laufen heute hier mit?"

„Ja, das ist richtig", sagte der große Blonde.

„Okay, für alle Neuen hier: Sie steigen gleich in den Wagen hier...", er deutete auf einen Lkw, der bereitstand, „...und werden dann an den Startpunkt gebracht. Die Strecke führt Sie dann gerade aus wieder hierher. Sehen Sie zu, dass Sie den Lauf innerhalb der vorgegebenen Zeit beenden."

Michael blieb am Zielpunkt stehen, um die Zeiten der Läufer zu messen, als die Läufer mit dem Lkw an den Startpunkt gefahren wurden. Er hörte nach einer Weile den Startschuss und rechnete mit etwa 40 Minuten, bis der Erste wieder eintreffen sollte.

Nach 20 Minuten kam der Gast locker angelaufen und zeigte noch keine Anstrengung. Michael prüfte die Stoppuhr - sie schien richtig zu funktionieren. Er konnte dieses Ergebnis dennoch nicht glauben. Der Fremde hatte seinen Rekord um Längen geschlagen und das anscheinend auch noch ohne Anstrengung.

„Sie müssen unterwegs abgekürzt haben!"

„Nein, habe ich nicht", antwortete der Fremde geduldig. „Soll ich die Strecke noch mal laufen?"

Diese Frage fand Michael frech. Er hatte jetzt irgendwie das Bedürfnis seinen Stolz zu verteidigen. „Ja, aber mit mir zusammen, sobald alle anderen zurück sind."

Nach und nach trafen die Rekruten erschöpft am Ziel ein.

Danach machte Michael sich mit dem Fremden auf dem Weg zum Start und begann dann mit dem Lauf.

Michael hielt auf dieser Strecke bisher den Rekord und er wollte versuchen, diesen weiterhin zu halten. Bereits im ersten Viertel zeichnete sich ab, dass Rogers deutlich schneller unterwegs war als er selbst. Michael hatte sogar den Eindruck, dass er manchmal kurz zurückblickte und extra ein wenig langsamer lief, als er eigentlich konnte.

Als Michael endlich am Ziel ankam, hatte er zwar seine eigene Zeit von etwas mehr als 30 Minuten gehalten, aber spürte die Anstrengung schon deutlich. Der Fremde hingegen schwitzte bisher kein bisschen. Er hatte seine erste Zeit eingehalten und Michaels Rekord damit endgültig gebrochen.

Captain Rogers wollte sich verabschieden: „Es war nett, mit Ihnen zu laufen, aber die Ärztin hat gesagt, ich soll direkt noch einmal bei ihr vorbei schauen."

Michael unterbrach ihn: „Ja, da komme ich mit, das will ich sehen, was sie jetzt misst."

**

Stella hatte gerade einen Moment Pause und plauderte mit Estelle, als ihr seltsamer Patient und Michael hereinkamen. Michael war verschwitzt, so als wäre er mit seinen Rekruten mitgelaufen, und Mr. Rogers machte den Anschein, als käme er nur von einem Spaziergang.

Zur Begrüßung drückte Michael Stella einen dicken Kuss auf und sagte: „Hi, Schatz. Ich habe dir deinen Patienten zurückgebracht."

„Das sehe ich, danke!" Sie blickte zwischen den beiden Männern hin und her. „Und wie war der Lauf?"

Ihr Mann deutete auf ihren Patienten: „Er ist die Strecke zwei Mal gelaufen. Beides mal in Rekordzeit!"

„Tatsächlich?", staunte Stella. Michael hatte den Mann offenbar auf die lange Strecke gescheucht und dennoch sah er kein bisschen angestrengt aus. „Na dann schauen wir mal, was wir bei Ihnen jetzt messen können!"

Mit einer Handbewegung forderte sie ihren Patienten auf, ihr zu folgen.

Als sie sich in Bewegung setzten, musste sie ihren Ehemann davon abhalten, mitzukommen.

„Ich darf dich nicht mitgehen lassen. Wegen der Privatsphäre des Patienten."

Michael setzte eine leichte Schnute auf. „Also gut. Dann warte ich hier auf dich."

Im Behandlungszimmer maß Stella erneut Mr. Rogers Puls und seinen Blutdruck. Beide Werte hatten sich kaum verändert. Es war, als käme er von einem mäßigen Spaziergang.

„Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so fit ist, wie Sie. Wie machen Sie das?", staunte sie.

Sie blickte auf einen Zettel und suchte darauf nach einer Ausrede, ihm für morgen noch einen Termin zu geben. Tatsächlich befanden sich darauf seine Laborwerte, an welchen es anscheinend keine Auffälligkeiten gab. „Auch die Laborwerte sehen sehr gut aus", gab sie schließlich zu.

Sie wollte dennoch unbedingt herausfinden, was hier vor sich ging. Sie wollte wissen, was an diesem Mann anders war, dass er fitter sein konnte als alle anderen. Sie blickte ihn eine Weile an. Er schien darauf zu warten, dass sie ihn endlich gehen ließ, und blickte mit seinem freundlichen Gesicht zurück. Etwas an seiner Ausstrahlung ließ sie ihm vertrauen und seine Geschichte, zumindest die Bruchstücke, die sie bisher kannte, glauben. Auch wenn es wohl ein wenig verrückt war.

Endlich rang sie sich dazu durch ihre Frage zu stellen: „Ich würde Sie trotz allem gerne bitten morgen noch einmal zu kommen. Sind Sie da noch in der Stadt?"

Er schien etwas skeptisch zu sein, aber nickte. „Ja, ich habe mir vorgenommen, ein paar Tage zu bleiben."

Sie ging zum Schreibtisch und schaute in den Computer. „Wie wäre es, wenn wir uns wieder morgens um zehn Uhr treffen?"

„Ja, das ist gut."

„Okay, dann haben Sie anschließend noch den ganzen Tag vor sich", lächelte sie und notierte den Termin auf einen Zettel, den sie Mr. Rogers übergab.

Sie wünschte ihm einen schönen Nachmittag, verabschiedete sich von ihm und verließ mit ihm das Zimmer.

Im Eingangsbereich wurden die beiden von Michael abgefangen.

Michael schien bereits einen Narren an Mr. Rogers gefressen zu haben.

„Hey Captain Rogers. Auch wenn Sie sich gar nicht angestrengt haben - wollen Sie mit in die Cafeteria kommen und sich mit einem kleinen Snack stärken? Ich gebe einen aus."

Mr. Rogers zögerte kurz und rang sich schließlich durch. „Ja, gerne."

„Kommst du auch mit, Schatz?"

„Ich muss noch eine Kleinigkeit erledigen und bin dann in ein paar Minuten bei euch. Hältst du mir einen Platz frei?"

**

In der Cafeteria wusste Steve nicht so recht, was er nehmen sollte, und ließ sich dann von Captain Chain ein reichhaltig belegtes Sandwich empfehlen. Chain bezahlte wie versprochen das Essen und führte Steve an einen Tisch, an dem schon ein paar andere saßen. Steve wurde den Kameraden kurz vorgestellt.

„Er hat meinen Rekord heute gebrochen."

„Gleich zwei Mal hintereinander", bestätigte der Mann, der sich Steve als Stan Jefferson vorgestellt hatte.

Die anderen musterten Steve und bewunderten ihn. Sie verfielen danach wieder zurück in ihr ursprüngliches Gespräch. Steve konnte wegen der fallenden Fachausdrücke nicht so genau erkennen, worum es in dem Gespräch eigentlich ging.

Er aß still sein Sandwich und beobachtete seine Mitmenschen. Nach einer Weile sah er, wie Dr. Chain zur Tür hereinkam, sich einen Salat kaufte und dann auf die Gruppe am Tisch zusteuerte. Sie setzte sich neben ihren Mann, der ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange gab.

Als der Mann wieder zu Steve herübersah, machte er plötzlich große Augen.

„Jetzt weiß ich, woher ich ihr Gesicht kenne! Sie sehen aus wie Captain America!"

Steve lächelte wissend. „Tatsächlich?"

„Findest du?", fragte die Ärztin interessiert.

„Ja. Du kennst wahrscheinlich nur die Fotos, auf denen er mit seiner Maske zu sehen ist. Es gibt aber auch Fotos von ihm, auf denen man das ganze Gesicht sehen kann. Warst du noch nie in der Ausstellung im Smithsonian?"

„Nein, hat sich bisher noch nicht ergeben."

„Mein Dad ist mehrfach mit mir dort gewesen und wir haben uns jedes Mal die Ausstellung über Captain America und den Howling Commandos angesehen."

Chain begann in einem langen Monolog zuerst davon zu erzählen, dass im Smithsonian Original-Exponate von Captain America und seinen Männern ausgestellt waren. Anschließend erzählte er von den Heldentaten, von denen man doch wissen sollte und dass Captain America noch vor dem Ende des Krieges im Kampf gegen die Nazis fiel und seine Leiche nie gefunden wurde.

Steve versuchte, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren. Jede der Geschichten, die sein Gegenüber gerade erzählt hatte, kannte er besser. Er wusste zu genau, dass das ein oder andere Detail sogar falsch dargestellt war. Manche wichtige Namen hatte der Mann ausgelassen und dafür an anderen Stellen Übertreibungen hinzugefügt.

„Aber die Geschichten kennst du doch, oder?", fragte der Mann seine Frau.

„Ja, schon. Aber ich habe nicht mehr alle Gesichter dazu im Kopf."

Steve hatte noch jedes einzelne Gesicht sehr genau im Kopf. Er sah einen Augenblick betreten auf seinen Teller. Die Gruppe um ihn herum schien davon nichts zu merken.

„Tja, dann müssen wir den nächsten Urlaub wohl in Washington verbringen", scherzte der Mann.

„Ach komm, du willst uns doch nur in die Flugzeugausstellung schleifen!", lächelte sie.

Er grinste. „Mag sein, die ist aber auch sehr gut."

Es folgte ein weiterer, noch längerer, Monolog darüber, welche Flugzeuge dort ausgestellt sind und welche Bedeutung sie hatten.

Am Anfang des Monologs blickte die Ärztin Steve einen Moment lang an und schien sein Gesicht zu studieren.

Sie ließ schließlich zunächst von ihm ab und holte ein kleines Gerät aus ihrer Tasche, welches sie in einer Hand hielt und mit emsigen Wisch- und Tipp-Bewegungen ihres Daumens bearbeitete. Sie hielt einen Augenblick inne und sah das Gerät aufmerksam an. Es schien etwas anzuzeigen, was sie nun las. Ein paar Mal sah sie davon auf und musterte erneut Steves Gesicht.

Ihr Mann beendete währenddessen seinen Monolog und fragte: „Waren Sie schon in unserer Ausstellung hier?"

„Nein, ich bin erst gestern Abend hier in der Stadt angekommen und hatte noch keinen konkreten Plan, was ich hier unternehmen werde."

„Wunderbar! Ich habe heute Nachmittag frei und kann Sie durch die Ausstellung führen, wenn Sie wollen."

Steve war eigentlich nicht danach, sich heute noch ein Museum anzusehen. Er wollte jedoch auch nicht unhöflich sein und das freundliche Angebot einfach ablehnen. Er versuchte jetzt, den Vorteil darin zu sehen, dass er nun vielleicht zumindest erfahren würde, was diesen Ort so geschichtsträchtig machte und warum er heute noch wichtig war.

„Das wäre nett", antwortete er freundlich.

Sie hatten ihr Essen bald aufgegessen und machten sich dann auf den Weg zum Museum.

Am Eingang kaufte Captain Chain die Tickets und reichte Steve eines.

„Übrigens: Bevor wir loslegen, ich bin Michael."

„Steve."

„Am besten folgst du mir einfach und ich erzähle dir ein bisschen was", begann Michael freudig den Rundgang. „Wenn du Fragen hast, kannst du sie jederzeit stellen."

„Du hast die Ausstellung schon öfter gesehen?"

„Ja, wird aber nie langweilig. Ab und zu kommt ja auch was Neues dazu."

Michael bemühte sich, Steve so viel wie möglich von der Ausstellung zu zeigen. Er überschüttete Steve geradezu mit Informationen, sodass am Ende eigentlich gar nichts mehr davon zu Steve durchdrang. Was Steve aufschnappte, war, dass von hier aus seit Jahrzehnten Raketen in den Weltraum geschossen wurden. Von hier aus war unter anderem die erste Mission gestartet, die tatsächlich Menschen auf den Mond gebracht hat.

Die beiden wurden mit ihrem Rundgang gerade so fertig, als das Besucherzentrum schloss.

Die Sonne stand schon sehr tief, als sie auf den Parkplatz liefen und Michael Steve zu seinem Motorrad begleitete.

Er bewunderte kurz die Maschine und fragte schließlich: „Und was hast du heute Abend vor?"

„Na ja, ich musste heute Morgen aus dem ersten Motel auschecken, weil sie mir das Zimmer nur für eine Nacht geben konnten, und wollte jetzt schauen, ob ich im Roadside Motel einchecken kann."

Michael schüttelte den Kopf. „Die sind bestimmt ausgebucht wegen dem Start morgen. Da kommen immer einige Schaulustige. Wenn du magst, kannst du zu uns kommen. Stella kocht ganz ordentlich und wir haben ein nettes Gästezimmer."

Er schrieb die Adresse auf einen Notizblock und gab Steve den Zettel.

Steve war ein wenig überrascht über dieses unverhoffte Angebot. Er wollte sich nicht aufdrängen. Aber die Aussicht darauf, sich heute nicht mehr um ein Zimmer bemühen zu müssen, war sehr verlockend.

„Ist das wirklich okay?"

„Ja, klar! Kein Problem! Ich werde mit dem Auto vorfahren, wenn du magst, kannst du mir direkt folgen, dann findest du es leichter."

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