21. Der Auftrag

Alex saß am Schreibtisch im Empfangsbereich seines Box-Clubs. Vor sich hatte er eine Kiste mit einer Ansammlung alter Belege und er hatte den Computer eingeschaltet. Den Computer hatte sein Großvater bereits in den 90er Jahren angeschafft. Alex kämpfte jetzt mit der langsamen Geschwindigkeit des Geräts und der uralten Software, mit der sein Großvater die Buchhaltung gemacht hatte.

Er versuchte gerade, die alten Bücher zu überprüfen und die neueren auf Vordermann zu bringen, was jedoch recht schleppend voranging. Um die Zeit, die die Uhr an der Wand anzeigte, schliefen normale Leute bereits, aber Alex wollte hiermit so schnell wie möglich durch sein.

Er hatte sich irgendwann am Abend daran gesetzt. Vor ein paar Minuten hatte der Lieferdienst sein chinesisches Essen gebracht und er hatte nun zusätzlich eine Box gebratene Nudeln und eine weitere mit Frühlingsrollen vor sich. Das dampfende Essen erfüllte den Raum mit einem zusätzlichen Duft.

Alex hatte gerade einen der Belege eingetragen, die im System noch fehlten und sicherheitshalber auf „Speichern" geklickt, als auf dem Schwarz-Weiß-Bildschirm ein ewig andauernder Ladebalken erschien und die Festplatte munter drauf los ratterte.

Er bedachte den Computer mit einer ganzen Reihe italienischer Schimpfwörter um dann ein Stoßgebet hinterherzuschicken in der Hoffnung, dass die alte Kiste nicht abstürzen würde und alle Daten verloren wären.

„Du hast wieder herumgeflucht!", stellte Steve, der gerade leise zur Tür hereingekommen war, mit einem leicht tadelnden Ton fest. Steve hatte wohl schon am Klang der Aussprache erkannt, dass Alex seinen Computer nicht gerade gelobt hatte.

Alex sah von seinem Stuhl auf und grinste. „Hast mich wohl auf frischer Tat ertappt!" Er hielt die Box mit den Frühlingsrollen hoch. „Magst du eine?"

„Nein, danke. Ich wollte eigentlich nur kurz trainieren. Was machst du um die Zeit noch hier?"

„Buchhaltung. Die Bücher der letzten Jahre sind ein ziemliches Chaos. Ich will sichergehen, dass sich hier nicht noch irgendwo irgendwelche Steuerschulden verbergen. Und ich muss wissen, wie der Club in den letzten Jahren finanziell gelaufen ist, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können."

„Gibt es Probleme? Ich könnte auf meinen Lohn verzichten", bot Steve an.

Alex hatte vor kurzem den Betrieb des Clubs zumindest für den bisherigen Mitgliederstamm wieder aufgenommen. Dabei hatte ihm kurzfristig ein zusätzlicher Trainer gefehlt und Steve hatte angeboten auszuhelfen.

„Kommt nicht in Frage. Du bist eine große Hilfe und das soll auch entlohnt werden!"

Steve seufzte und verlagerte sein Gewicht auf ein Bein. Ihm war offensichtlich im Moment nicht nach einer Diskussion zumute. Eigentlich war er nur gekommen um, wie so oft in der Nacht, den Sandsack zu bearbeiten.

Alex sah Steves Anspannung und beschloss, ebenfalls die Diskussion jetzt nicht fortzuführen.

„Stört es dich, wenn ich jetzt an den Sandsack gehe?"

„Nein, kein Problem. Ich bin noch ein Weilchen hier vorne."

Steve ging in den Trainingsraum. Wenig später hörte Alex, dass Steve den armen Sandsack wieder ziemlich malträtierte. Er hatte sich jedoch an den Gedanken gewöhnt, dass dieses blonde Schwergewicht nachts häufig mal ein bisschen Dampf ablassen musste.

Alex schaute wieder auf den flackernden Bildschirm und stellte fest, dass sich der Ladebalken nur wenig bewegt hatte. Die Festplatte knatterte immer noch fast rhythmisch vor sich hin. Er aß nun erstmal sein Essen auf. Danach beobachtete er weiter den Ladebalken und hoffte darauf, dass er bald einer positiven Rückmeldung Platz machen würde.

Die späte Uhrzeit, der volle Magen und das Geräusch der Festplatte machten ihn nach einer Weile ein wenig schläfrig und er drohte bereits mit dem Kopf auf die Tischplatte zu knallen.

Plötzlich sah Alex im Augenwinkel, dass sich eine dunkle Gestalt aus der Nacht heraus auf die gläserne Eingangstür zubewegt hatte und nun mit einem Auge durch das Glas spähte.

Wieder munter stand er auf, um der Gestalt die Tür zu öffnen.

„Guten Abend, Director Fury."

„Guten Abend, Agen... Mr. Moretti."

Fast hätte Nick Fury ihn noch Agent genannt, da dies für Alex noch eine korrekte Anrede war, bevor er diesen Box-Club übernommen hatte.

„Wie läuft es in Ihrem Ruhestand?" Fury sah sich um, während er diese Frage stellte.

„Alles ruhestandsmäßig bisher."

Fury hatte den uralten Computer bemerkt. „Die Kiste ist fast 20 Jahre alt! Sie sollten sich mal einen Neuen anschaffen."

„Sie sind nicht wirklich hier um mir Ratschläge zu meiner Büro-Austattung zu geben", entgegnete Alex ruhig.

„Wie geht es ihrem Nachbarn?"

Alex war klar, dass diese Frage kommen musste. Nachdem Alex in den Ruhestand gegangen war und beschlossen hatte, in die neue Wohnung einzuziehen, hatte Fury ihn darauf aufmerksam gemacht, dass Steve Rogers alias Captain America ganz zufällig in das gleiche Haus einziehen würde.

Fury hatte Alex im gleichen Atemzug gebeten, ein Auge auf seinen neuen Nachbarn zu haben.

Alex kam mit Steve so gut aus, dass er sich dabei schlecht fühlte, ihn über einen Teil seiner Identität im Dunkeln zu lassen. Doch andererseits, war es nicht üblich, mit einem Bekannten locker über seine Vergangenheit bei S.H.I.E.L.D. zu plaudern. Er wusste gleichzeitig, dass Fury nie etwas ohne Grund tat.

„Er ist im großen Trainingsraum, falls Sie mit ihm sprechen wollen."

„Ja, das will ich." Fury zeigte auf den Computer. „Der Ladebalken ist eben weggegangen!"

Unmittelbar, nachdem er dies sagte, war er schon in dem Durchgang zu den Trainingsräumen verschwunden.

Alex setzte sich wieder hin und widmete sich weiter seiner Buchhaltung.

**

Während Steve auf seinen Sandsack einschlug, sah er immer noch die Bilder aus seiner Vergangenheit vor seinem geistigen Auge. Es waren nicht die schönen Erinnerungen, aus einer sorglosen Zeit vor dem Krieg, sondern es waren eben jene Momente, die ihm an diesem Krieg am meisten zu schaffen gemacht hatten. Jene Momente, die ihm persönlich die größten Verluste eingebracht hatten.

Mit dem letzten Schlag riss der Sandsack von seiner Kette und landete an der nächsten Wand. Die Hülle war geborsten und der Sand ergoss sich über den Boden.

Steve schaute dem Sack einen Moment lang nach und versuchte durchzuatmen. Er war verschwitzt, aber beschloss dennoch, weiter zu machen und hob einen neuen Sack vom Boden auf, um ihn aufzuhängen.

Dies war nicht der erste Sandsack gewesen, den er während seiner nächtlichen Trainingseinheiten beschädigt hatte. Deswegen hatte er schon dafür gesorgt, dass weitere Sandsäcke parat lagen.

Steve holte noch einmal kurz Luft und begann nun auf den neuen Sack einzuschlagen, als im Durchgang ein dunkel gekleideter Mann auftauchte und ihn ansprach.

„Schlafstörungen?"

Der Mann trat näher und Steve konnte nun deutlich erkennen, dass es sich um Nick Fury handelte. Fury hatte eine Akte unterm Arm.

„Ich hab 70 Jahre lang geschlafen, Sir. Ich hab mein Soll erfüllt."

„Dann sollten Sie rausgehen ... feiern, etwas von der Welt sehen."

Steve stoppte nun und ließ den Sandsack in Frieden. Er wandte sich der Bank, auf der seine Sporttasche stand zu und wickelte sich die Bandagen von den Händen ab.

„Als ich verschwand, war die Welt im Krieg. Ich wach auf, sie sagen wir haben gewonnen. Keiner sagt, was wir verloren haben", antwortete Steve finster.

„Wir haben immer wieder Fehler gemacht. Einige davon erst kürzlich."

„Haben Sie eine Mission für mich?"

In Steves inneren Ohr hallte nun eines seiner ersten Gespräche mit Stella nach. Sie hatte ihm gesagt, dass man ihm wahrscheinlich noch früher eine neue Aufgabe geben würde, als ihm lieb wäre. Sie sollte nun anscheinend Recht behalten.

„Ja."

„Wollen sie mich in die Welt zurückholen?", hakte Steve nach.

„Ich will die Welt retten", sagte Fury, schlug die Akte auf, die er mitgebracht hatte, und reichte sie Steve.

Auf der ersten Seite war der Tesserakt, ein blau leuchtender Würfel außerirdischer Herkunft, dargestellt.

„Die Geheimwaffe von HYDRA..." sagte Steve, als er die erste Seite sah und setzte sich auf die Bank.

„Das hat Howard Stark aus dem Ozean gefischt, als er Sie gesucht hat. Er hat das Selbe gedacht wie wir. Dass nämlich der Tesserakt der Schlüssel zu unbegrenzter, nachhaltiger Energie ist. Und so etwas braucht die Welt dringender dennje."

Steve schlug die Akte wieder zu und reichte sie Fury zurück.

„Wer hat ihn gestohlen?"

„Er heißt Loki. Er ist ... nicht von hier. Wenn Sie mitmachen, müssen wir Sie noch über einiges aufklären. Die Welt ist sogar noch etwas merkwürdiger geworden, als Sie bereits wissen."

„Ich glaube so schnell kann mich nichts mehr überraschen", sagte Steve und stand wieder auf.

„10 Dollar, dass Sie sich irren", sagte Fury, während Steve seine Sporttasche und einen weiteren Sandsack aufhob, um beides mit zu nehmen.

„In ihrem Apartment liegen noch ein paar Informationen für Sie bereit", fügte Fury hinzu.

Steve ging bereits Richtung Ausgang, als Fury eine Frage stellte.

„Können Sie uns noch irgendwas über den Tesserakt erzählen, was wir wissen sollten?"

„Sie hätten ihn auf dem Meeresgrund lassen sollen", antwortete Steve knapp und verließ den Raum.

Vor der Tür blieb Steve noch einen Moment stehen. Ihm lag die Frage auf der Zunge, inwieweit es Zufall gewesen war, dass er damals ausgerechnet von Stella untersucht worden war. Er war sich jedoch unschlüssig, ob er die Frage stellen sollte, und wollte es schon sein lassen. Fury kam jedoch hinter ihm durch die Tür, weil er eigentlich auch im Begriff war, den Box-Club zu verlassen.

„Wie war eigentlich Ihr Urlaub in Cape Canaveral?", fragte Fury, so als ob er nur ein wenig Smalltalk machen wollte.

Steve beschloss, ihm eine Antwort zu geben, die auch auf eine Postkarte passen würde. „Das Wetter war sehr sonnig, nachts ein bisschen kühl. Die Unterkunft und die Verpflegung waren gut. Ist ein schönes Städtchen."

„Freut mich zu hören." Fury öffnete nun die Tür, die auf die Straße führte und verabschiedete sich auch von Alex mit einem knappen „Wir sehen uns."

Steve sah ihm durch die Glastür hinterher und beobachtete, wie er in ein dunkles Auto stieg und fort fuhr.

Steve spürte nun Alex fragenden Blick auf sich ruhen und drehte sich zu ihm um. Er blickte seinen Nachbarn prüfend an und fragte sich, ob dieser wusste, wer hier gerade zu Besuch war.

Alex brach schließlich die Stille. „Neuer Auftrag?"

„Sozusagen. Du bist viel unterwegs gewesen um an Meisterschaften teilzunehmen, hm?", bohrte Steve nach.

Alex seufzte: „Ja, tatsächlich. Ich war aber auch eine Zeit lang bei den Marines, danach beim CIA und anschließend bei S.H.I.E.L.D. Jetzt bin ich quasi im Ruhestand und will den hier verbringen. Mit Emilia."

Steve schien mit dieser immer noch knappen, aber ehrlichen Ausführung zufrieden zu sein.

„Das mit S.H.I.E.L.D ist nichts, über das man einfach so offen plaudert, weißt du?", wollte sich Alex entschuldigen.

„Ist mir klar. Ich mach dir deswegen keinen Vorwurf."

„Ist heute Abend das erste Mal gewesen, dass er mich überhaupt nach dir gefragt hat. Er hatte mich zwar gebeten ein Auge auf dich zu haben, aber es gab für mich keinen Anlass, ihm in irgendeiner Form Bericht zu erstatten."

Steve nickte. „Schon gut." Er zeigte auf den Computer. „Arbeite nicht zu lang!"

Die beiden wünschten sich eine gute Nacht und Steve ging herüber in seine Wohnung.

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