16. Der Einzug
An den folgenden Tagen unterließ Stella es, ein tiefergreifendes Gespräch mit Steve zu suchen. Sie war weiterhin sehr freundlich zu ihm und sie unterhielten sich stattdessen über belanglosere Themen.
Abgesehen davon verbrachte Stella ihre Zeit entweder beim Dienst, mit ihrem Sohn oder in ihrem Arbeitszimmer. Dort schien sie gerade am Abend häufiger die Zeit zu vergessen und Michael musste sie daran erinnern, rechtzeitig ins Bett zu kommen, um für den nächsten Tag ausreichend Schlaf zu bekommen.
Kenai teilte Steve irgendwann mit, dass seine Wohnung nun fertig sei. Er bot Steve an, dass er mit ihm zusammen in seinem Privatjet nach New York fliegen könne, denn er müsse in den nächsten Tagen sowieso dorthin. Steve wollte dieses Angebot erst nicht annehmen, aber als der Wetterbericht für die nächste Zeit viel Regen ankündigte und Kenai ihm versicherte, dass man sein Motorrad mit im Frachtabteil des Jets unterbringen könnte, nahm er das Angebot schließlich doch an.
Zum Abschied gab Stella Steve ein weiteres Notizbüchlein mit. Es hatte ein passendes Format für die Hosentasche. Auf den ersten Seiten hatte sie die Kontaktdaten von ihr, ihrem Mann und ihren Eltern zusammen getragen.
„Damit weißt du jetzt, wie du uns erreichen kannst. Du kannst dich jederzeit bei uns melden. Ich würde mich freuen, von dir zu hören", sagte sie.
Sie zeigte auf die Seite mit den Kontaktdaten ihrer Eltern.
„Hier habe ich zusätzlich die Adresse von der Farm in Colorado aufgeschrieben. Wenn du mal Lust auf ein wenig Landleben hast, bist du auch dort jederzeit willkommen. Es gibt dort ausreichend Platz, sodass du auch dort ein paar Tage bleiben könntest. Demnächst fahren wir auch selbst für zwei, drei Wochen hin."
Steve freute sich über das Büchlein und nahm Stella in den Arm.
Dabei sagte sie ihm: „Pass auf dich auf!"
Bei Susan, Michael und Antony verabschiedete er sich schließlich mit einem Händedruck.
In New York angekommen nahm sich Kenai noch kurz Zeit, um Steve persönlich in die neue Wohnung zu führen.
Kenais Mitarbeiter hatte die Wohnung so eingerichtet, dass sich die Möbel gut in den altmodischen Charme der Wohnung einbetteten, ohne kitschig zu wirken. Im Wohnzimmer gab es einen kleinen Flachbildfernseher und ein einfaches Telefon. Die Küche war mit Geräten ausgestattet, deren Äußeres zur Wohnung passte, aber deren Inneres auf dem aktuellen Stand der Technik war. In den Küchenschränken befand sich eine gute Ausstattung an Geschirr und eine Auswahl an Grundnahrungsmitteln und Konserven. Der Kühlschrank war ebenfalls bereits mit ein paar Lebensmitteln wie z.B. Butter und Käse gefüllt. Dadurch konnte Steve mindestens bis zum nächsten Tag warten, um erst dann einkaufen zu gehen.
Kenai verabschiedete sich recht bald, um seinen eigenen Terminen nachzugehen. Steve verbrachte den Rest des Tages in der Wohnung. In der Nacht schlief er zwar unruhig, fand aber immerhin ein paar Stunden Schlaf.
Am nächsten Tag erkundete Steve die Umgebung. Er schaute, welche Häuser er von früher noch kannte und stellte fest, dass manche der alten Häuser noch standen. Er fand unter anderem das Haus, in welchem er damals mit seinem Freund Bucky zusammen eine Wohnung teilte, Buckys Elternhaus und sein eigenes Elternhaus. Wehmütig blieb er jeweils vor diesen Häusern stehen und rief sich die Gesichter seiner Nachbarn ins Gedächtnis. Er erinnerte sich noch all ihre Namen und Eigenheiten. Heute wohnten hier völlig fremde Leute.
Vieles hatte sich jedoch auch verändert. Die Straßen waren voller, lauter und hektischer als in der Vergangenheit. Manche der alten Gebäude hatten schicken Neubauten Platz gemacht, andere waren abrissreif oder sind bereits ersatzlos abgerissen worden.
Gegenüber von dem Haus, in dem er jetzt wohnte, gab es immer noch den Box-Club, in welchem Bucky ihm damals das Boxen beigebracht hatte. Damals war der Club noch recht neu gewesen. Heute sah man bereits an der Fassade, dass auch hier der Zahn der Zeit genagt hatte.
Steve wollte sich in dem Gebäude am liebsten umsehen, doch an der Tür hing ein Schild, welches darauf hinwies, dass der Club derzeit aus privaten Gründen geschlossen sei.
Er besorgte sich schließlich in einem kleinen Laden an der Straßenecke einen Snack und ein paar Briefmarken. Er hatte vor an diesem Abend Stella und ihrer Familie einen Brief zu schreiben, um ihr wie versprochen ein Lebenszeichen zu geben.
Als er in das Apartmenthaus zurückkehrte, sah er, dass einer seiner neuen Nachbarn auch gerade erst dabei war, einzuziehen.
Er bot seine Hilfe beim Hereintragen der Möbel und Kisten an, welche der Nachbar dankend annahm.
Sobald alle Habseligkeiten des Nachbarn in dessen Wohnung gebracht waren, kam Steve mit diesem ins Gespräch.
„Danke für die Hilfe, so ging das jetzt richtig flott", freute sich der Nachbar.
„Gern geschehen."
„Mein Name ist übrigens Alessandro. Du darfst mich aber auch einfach Alex oder Al nennen."
„Ich bin Steve. Was führt dich in diese Stadt?"
„Ist dir auf der anderen Straßenseite der Box-Club aufgefallen? Der hat meinem Großvater gehört. Er ist vor kurzem verstorben."
„Ja, der Club ist mir aufgefallen. Ich hatte mich schon gewundert, warum er geschlossen ist. Mein Beileid."
„Ich habe ihn dann in unsere alte Heimat zurück gebracht und wir haben ihn im Kreise der Familie beerdigt."
„Standet ihr euch nah?"
„Ja, kann man sagen. Ich bin hier im Stadtteil aufgewachsen und er hat mir in dem Club das Boxen beigebracht. Ich war in den letzten Jahren viel unterwegs und bin von einer Meisterschaft zur anderen gereist. Aber hier fühle ich mich immer noch am heimischsten. Und na ja, jetzt nutze ich die Gelegenheit mich hier mit meiner Freundin Emilia zur Ruhe zu setzen und eben den Club weiter zu betreiben."
„Das heißt deine Freundin zieht auch hier ein?"
„Ja, sie kommt morgen erst. Du wirst sie mögen. Sie ist das Beste, was mir passieren konnte. Ich habe deswegen auch eine etwas größere Wohnung genommen. Vielleicht können wir hier eine Familie gründen."
„Das klingt nach einem guten Plan."
Alex musterte Steve kurz. „Hast du schonmal geboxt?"
„Ja."
„Wenn du magst kannst du dich drüben mal umsehen. Und da ich dir für deine Hilfe eh was schulde, kannst du dort von mir aus auch jederzeit trainieren."
„Danke, das ist sehr großzügig."
„Ach, kein Thema. Wenn ich eines Tages nochmal Möbel rücken will, komm ich auf dich zurück", lachte Alex.
Steve ging noch am selben Tag herüber. Er schloss mit dem Schlüssel, den Alex ihm anvertraut hatte, die klapprige Glastür auf, ging hindurch und zog sie gleich hinter sich wieder zu.
Das Licht schien schwach durch die dreckigen Fenster. Es roch nach Staub und jahrzehntealtem Schweiß.
Schon im Empfangsbereich sah man, dass vieles noch an der gleichen Stelle war, wie damals, als der Club noch neu war. Trotz all der Nostalgie musste man jedoch einsehen, dass an vielen Stellen eine Renovierung bitternotwendig war. Alex hatte daraus auch keinen Hehl gemacht und Steve bereits von seinen Renovierungsplänen erzählt.
Die Farbe blätterte von den Türen und Fenstern. Hier und da bröckelte der Putz von den Wänden. In den Toiletten und Duschen waren einige Kacheln bereits herunter gefallen und die Wasserleitungen waren undicht. All dies wollte Alex reparieren und wieder so herrichten, wie es einst war, doch das war ein ganzer Haufen Arbeit, der sich noch eine Weile hinziehen würde.
An einer der Wände im großen Trainingsraum fand Steve eine Ansammlung an zum Teil bereits vergilbten Fotos. Hier hatten die Besitzer über die Jahrzehnte hinweg die Fotos von den Schülern gesammelt, die bei Wettkämpfen einen ersten Platz erzielen konnten.
Eines der Fotos war ihm sehr vertraut. Es zeigte seinen besten Freund, der mit Blessuren und einem breiten Lächeln im Gesicht eine Trophäe in die Kamera hielt. Neben ihm stand sein Gegner, der den zweiten Platz gemacht hatte. Im Hintergrund war Steve selbst zu sehen. Neben Steve stand Dolores, welche zu dem Zeitpunkt Buckys feste Freundin gewesen war. Sie war Buckys einzige Beziehung gewesen, die über mehrere Monate anhielt, bis sie ihn schließlich ohne vernünftige Erklärung verlassen und sich nie wieder gemeldet hatte.
Steve musste an den Abend zurückdenken, als Bucky und er Dolores das erste Mal am Rockaway Beach trafen. Bucky wollte sie unbedingt beeindrucken, weswegen er an einer der Spielbuden krampfhaft versucht hatte, einen Teddybären für sie zu gewinnen. Am Ende hatte er weder Geld noch einen Teddybären und die beiden jungen Männer mussten per Anhalter heimfahren, weil sie sich kein Zugticket mehr leisten konnten.
Es waren manchmal chaotische, aber trotzdem viel einfachere Zeiten, die die beiden damals durchlebt hatten, bevor sie in den Krieg gezogen waren. Steve schloss einen Moment lang die Augen und wünschte sich dahin zurück, selbst wenn dies bedeuten würde, dass er wieder nur eine halbe Portion wäre. Zum Teil sogar gerade deswegen, denn nach seiner Umwandlung hatten viele ihn nur noch als Held gesehen und interessierten sich nicht für den Menschen, der er war.
Das Scharren einer Maus in der Zwischendecke holte ihn schließlich in die heutige staubige Realität zurück.
Er betrachtete noch einmal das Foto, bevor er zurück in seine Wohnung gehen wollte. Jetzt, als Steve Dolores auf dem Foto sah, fiel ihm auf, warum Stella ihm von Anfang an vertraut vorkam: Stella hatte ähnliche Gesichtszüge wie Dolores und die gleiche Augenfarbe. Er fragte sich, ob Stella möglicherweise mit ihr verwandt war, und beschloss, sie in seinem Brief danach zu fragen.
Zurück in seiner Wohnung setzte sich Steve gleich an den Schreibtisch, um den Brief zu schreiben. Er richtete ihn sowohl an Stella als auch an ihre Familie, da er allen gleichermaßen einen Gruß zukommen lassen wollte.
In den darauffolgenden Nächten wurde Steve wieder von seinen Albträumen heimgesucht. In einer Nacht, in der es wieder besonders schlimm war, beschloss er schließlich, Stellas Vorschlag mit dem Sandsack auszuprobieren.
Er ging mit dem Schlüssel, den er immer noch hatte, herüber in den Box-Club und fand einen Sandsack am Boden. Er hängte ihn auf und begann darauf einzuprügeln.
Der letzte Stoß, den er schließlich dem Sandsack verpasste, brachte die Kette, an der er baumelte, zum Reißen. Der Sack fiel ein paar Meter von Steve entfernt mit einem dumpfen Geräusch zu Boden.
Nachdem er dem Sack einen Moment lang hinterher gesehen hatte, sah Steve Alex mit zwei Bechern Kaffee und einer Tüte Donuts in den Händen an einer der Säulen lehnen.
Steve wusste weder, zu welcher Uhrzeit er in den Club gegangen war, noch wie viele Stunden er letztlich dort verbracht hatte. Fest stand jedoch, dass es nun morgen war und Alex ihn spontan mit einem kleinen Frühstück und einem staunenden Blick begrüßte.
„Also, ich bin froh, dass ich nicht der Sandsack bin", stellte Alex mit einem Lachen fest.
Als er in Steves Augen noch die Reste seines verfliegenden Zornes sah, hob er die Hände und fügte hinzu: „Ich hoffe, ich werde niemals der Sandsack sein!"
„Nein, das wirst du nicht", sagte Steve mit einem versöhnlichen Lächeln. Er zeigte auf den Sandsack und sagte: „Ich werde die Kette reparieren!"
„Nein, nein, das ist kein Problem. Die war bestimmt schon alt und halb durchgerostet. Wenn du einen zweiten kaputt kriegst, geht der dann auf dich", lachte Alex.
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