12. Der Samstagmorgen
In dieser Nacht kuschelte Stella zunächst noch eine Weile mit Michael, bis sie in seinen Armen einschlief. In den frühen Morgenstunden fing sie schließlich an zu träumen.
In ihrem Traum war sie in einer Großstadt. Sie erkannte einige Gebäude, wie den neuen Stark Tower, wieder. Dadurch wusste sie, dass die Stadt New York, genauer gesagt Manhattan, war.
Menschen liefen schreiend vor irgendetwas davon. Auf den Straßen lagen Trümmer. Die Luft roch nach Staub.
Stella stand am Rand einer der Straßen und sah auf der gegenüberliegenden Seite einen Mann im Schatten stehen. Er war groß und schlank, fast schon hager. Seine Haut war blass und seine etwa schulterlangen, zurückgekämmten Haare dunkel. Ein seltsam triumphierendes Lächeln umspielte seine dünnen Lippen. Schließlich traf sie sein durchdringender Blick. Sie empfand den Blick als unheilvoll fesselnd. Sie stemmte sich gegen die unsichtbare Kraft, die sie zu fixieren schien, um sich von diesem Blick abzuwenden.
Sie wollte danach sehen, wovor die Menschen davon liefen, und wollte sich gerade in die entsprechende Richtung bewegen, als sie aufwachte.
Sie hatte Kopfschmerzen. Es fühlte sich an wie eine beginnende Migräne.
Sie war müde genug, um schlafen zu wollen, aber sie wusste nicht, wie sie liegen soll, damit ihr Kopf nicht mehr weh tat.
Michael schlief noch friedlich und sie befürchtete, dass sie ihn wecken könnte, wenn sie sich zu sehr umherwälzte. Es war Samstag, alle hatten frei und der Wecker war ausgestellt.
Sie beschloss aufzustehen, schlurfte ins Bad und öffnete den Spiegelschrank. Im obersten Fach fand sie eine Schachtel Ibuprofen und nahm sich eine halbe Tablette daraus, um sie direkt einzunehmen. Sie versorgte anschließend ihren Nacken und ihre Schläfen mit einem Kräuteröl, um zusätzliche Linderung zu bekommen.
Sie überlegte, was sie jetzt unternehmen wollte, wo doch alle anderen noch schliefen. Schließlich beschloss sie, sich zu waschen und sich bequeme Sachen anzuziehen.
Sie wollte versuchen, auf der Terrasse an der frischen Morgenluft ein wenig Yoga zu machen.
Als sie im Wohnzimmer ankam, sah sie, dass Steve wieder auf der Terrasse schlief.
Er lag wieder ohne Decke da und sie vermutete, dass er bei dem immer noch recht kühlen Wetter frieren musste. Deswegen stellte sie ihre Yoga-Matte im Wohnzimmer ab und schnappte sich eine Decke vom Sofa. Sie öffnete leise die Terrassentür und schlich zu Steve herüber.
Ganz behutsam versuchte sie, ihn zuzudecken, doch er schlug plötzlich die Augen auf und erschrak. Stella zuckte selbst zusammen und machte einen Schritt zurück.
„Bitte entschuldige, ich wollte dich nicht wecken!", sagte sie leise.
Steve rieb sich die Augen. „Alles gut!" Er lächelte freundlich und sagte: „Guten Morgen. Wie spät ist es?"
„Guten Morgen! Es ist noch ziemlich früh. Alle anderen schlafen noch. Magst du dich noch eine Weile drinnen ins Bett legen?"
Er schüttelte den Kopf und streckte sich. „Nein, jetzt bin ich wach. Warum bist du so früh auf?"
Stella dachte kurz an den Traum zurück. Er fühlte sich so seltsam an, dass sie sich nicht sicher war, ob es wirklich nur ein Traum war.
Sie spürte einen kurzen Impuls, Steve von dem Traum zu erzählen, unterdrückte ihn aber. Es war einfach zu verrückt.
Stattdessen war sie bemüht, das Schwindelgefühl zu unterdrücken, das ihr die Migräne im Moment bescherte.
„Ich hab ein bisschen Kopfweh. Wahrscheinlich bin ich einfach ein bisschen wetterfühlig", sagte sie mit einem freundlichen Lächeln.
„Dann setzt dich doch erst mal hin", sagte Steve und während sie sich hinsetzte, wurde sein Blick plötzlich besorgter. „Du hast Nasenbluten!"
Stella drehte sich um und wollte sich in Richtung Küche begeben, um sich ein Taschentuch zu holen. Steve hielt sie sanft am Arm fest.
„Setz dich hin! Ich hole dir, was du brauchst!", kündigte Steve an, verschwand drinnen und kam mit einer Box Taschentücher und einem kühlen, nassen Lappen zurück.
Stella nahm sich eines der Taschentücher, hielt es an ihre Nase und ließ den Kopf hängen, damit er den Lappen in ihren Nacken legen konnte. Im ersten Moment war ihr, als würde ihr von der Vorwärtsbewegung schlecht werden. Die Welt drehte sich noch ein bisschen mehr als vorher und in ihren Schläfen pochte es. Aber dann fing der kalte Lappen an gutzutun und sie konnte sich ein wenig entspannen.
Steve hockte sich vor Stella hin, sodass er ihr besser ins Gesicht schauen konnte.
„Ist das gut so?"
„Ja, das ist genau richtig. Danke!"
„Bist du sicher, dass du nur leichte Kopfschmerzen hast?"
„Ja. Alles gut."
„Ich hatte früher auch öfter Nasenbluten, was bei mir aber eher durch äußere Einflüsse kam. Bucky hat mich dann auch immer so versorgt." In Steves Blick lag die gleiche Trauer, wie zu dem Zeitpunkt als er schon mal von seinem Freund erzählt hat.
„Ist das der Freund, der dir das Boxen beigebracht hat?"
„Ja."
„Hat er dabei deine Nase getroffen?"
„Nein, das war nicht er. Ich hab es öfter mal geschafft, mich mit Größeren anzulegen."
Stella lächelte leicht. „Du hast jemanden gefunden, der größer war als du?"
Steve nickte. „Ja. Ich war nicht immer so wie jetzt."
„Okay. Ich nehme das jetzt einfach mal so hin."
Sie überlegte einen Moment. „War er eigentlich älter oder jünger als du?"
„Er war etwa ein Jahr älter."
Stella rechnete kurz nach. „Er müsste dann jetzt etwa 94 Jahre alt sein. Das ist ein Alter, welches manche Menschen auch auf normalem Weg erreichen können. Was hältst du von der Idee nachzuforschen, was aus ihm geworden ist?"
Steve schüttelte vehement den Kopf. Die Trauer in seinem Blick ist noch ein bisschen größer geworden und nun gesellte sich auch Schuld hinzu. „Nein, er lebt nicht mehr. Er ist gestorben, noch bevor ich im Eis gelandet bin."
„Und du musstest es miterleben?", fragte sie vorsichtig.
„Ja. Ich war zu langsam und konnte ihn nicht mehr packen. Er ist in eine Schlucht gestürzt."
Stella sah Steve einen Moment lang in die Augen und spürte den Drang, ihn in den Arm zu nehmen.
Er schien ihr das anzusehen und sagte: „Nein lieber nicht. Du blutest noch. Es ist schon gut", um dann ein leichtes Lächeln aufzusetzen.
Sie sah sich das Taschentuch an und nahm sich ein frisches.
„Ist es das, was dich nachts wach hält?", hakte sie leise nach.
Er sah sie einen Moment lang mit seinen traurigen Augen an und nickte dann. Da war noch mehr, was ihn in seinen Träumen verfolgte, das spürte sie. Aber er war noch nicht bereit, ihr alles zu erzählen.
Sie wollte gerade zu einer weiteren Frage ansetzen, als er sie unterbrach.
„Das wird hier jetzt doch nicht noch eine Sitzung? Ich meine so wie gestern und vorgestern?"
Stella überlegte, was sie darauf antworten sollte. Sie wollte ihm unbedingt helfen, aber sie wollte ihn auch nicht bedrängen. Sie wollte einfach, dass er sich besser fühlt.
„Ich möchte das im Moment nicht", fügte er hinzu.
Mit einem Nicken sagte sie: „Okay" und fuhr nach einer Pause fort: „Ich möchte dich nicht nerven. Ich habe nur den Eindruck, dass du ein wenig Hilfe gebrauchen kannst, und muss es einfach versuchen", sagte sie kleinlaut.
Er legte eine Hand auf ihre Schulter und sah ihr in die Augen. „Ich weiß, dass du es gut meinst. Aber ich kann das gerade nicht."
Er nahm ihr jetzt das Taschentuch ab, welches sie sich vor die Nase hielt, um zu schauen, ob die Nase noch blutete. Es hatte aufgehört.
„Wie geht es deinem Kopf?"
„Besser. Danke. Ich glaube, ich räume die Sauerei mal auf." Sie nahm die Taschentücher und den Lappen aus ihrem Nacken, um sie drinnen wegzuräumen.
Auf dem Weg zur Tür drehte sie sich noch einmal zu Steve um und fragte: „Magst du Pancakes oder lieber Waffeln?"
„Beides ist gut."
„Okay, dann mache ich uns mal Frühstück."
Stella ging zunächst ins Gäste-WC, um die Blutreste von ihrer Nase abzuwaschen.
Anschließend ging sie in die Küche, in der Steve bereits wartete.
„Lass mich helfen!", sagte er.
Sie lächelte ihn freundlich an. „Setz dich! Ich mache das schon."
Sie bereitete zuerst eine Schüssel Obstsalat zu. Danach rührte sie Teig für Pancakes und Waffeln an und holte ein Waffeleisen und eine Pfanne für die Pancakes hervor.
„Ich dachte, du machst nur eines von beidem", bemerkte Steve.
„Du hast gesagt, beides ist gut. Also bekommst du beides", zwinkerte sie.
„So habe ich das gar nicht gemeint. Du musst dir nicht die Umstände machen..." wollte Steve sich wehren.
„Es macht mir keine Umstände."
Antony kam in die Küche geschlurft, während Stella noch dabei war, alles zuzubereiten.
Er wünschte seiner Mom und Steve einen guten Morgen und freute sich darüber, dass es heute Waffeln zum Frühstück gab. Stella bat ihn, schon einmal den Tisch zu decken, was er sofort machte.
Ein wenig später kam auch Michael in die Küche. Er wünschte allen einen guten Morgen und ging zu seiner Frau, um sie zu umarmen und ihr einen Kuss zu geben.
„Du hast diese Nacht ziemlich unruhig geschlafen. Du hast mich sogar geboxt. Das gibt bestimmt einen blauen Fleck!", beschwerte er sich scherzend.
Stella schaute besorgt. „Wirklich? Das tut mir leid. Wo denn?"
Er zeigte auf eine Stelle an seinem Oberarm. „Da. Ist aber halb so wild", lachte er.
Das hielt sie nicht davon ab aus ihrem Kräuterregal ein Döschen mit einer Salbe zu holen und die Stelle damit zu versorgen.
„Jetzt ist es wieder gut!", freute er sich und setzte sich an den Tisch.
Stella stellte das fertige Essen, eine Flasche Orangensaft und frisch aufgebrühten Tee auf den Tisch.
Während alle aßen, unterhielten sie sich über die Pläne für den Tag. Stella hatte noch nichts vor. Antony wollte schauen, ob der Junge von nebenan mit ihm wieder draußen spielen mochte. Michael wollte gerne laufen gehen und erst Stella überreden mitzukommen, was sie jedoch ablehnte. Sie erwähnte ihre Kopfschmerzen dabei nicht.
„Aber du weißt schon, dass du demnächst auch den Test wiederholen musst?", fragte Michael mit einem strengen Unterton.
„Ja, aber eigentlich ist für den Test auch nur die kurze Strecke notwendig."
„Ja, stimmt." Er schaute Steve an. „Sorry, ich hab dich einfach auf die lange Strecke gescheucht, weil die Rekruten sie an dem Tag eh auch laufen mussten."
„Hat mir nichts ausgemacht."
„Das habe ich gemerkt. Magst du vielleicht nachher mit mir laufen?"
„Ja, gerne."
Das Telefon klingelte. Stella nahm ab und sprach einen Moment lang mit dem Anrufer.
„Das war Mom. Sie hat gestern vergessen, noch was mit mir zu besprechen. Sie kommt am Nachmittag mit Dad und Nicole vorbei."
„Okay, dann hat Steve schon fast die ganze Familie kennengelernt. Nicole ist meine Schwester", erklärte er.
„Und wir wissen jetzt alle, was wir vorhaben", freute er sich.
Nachdem sich alle satt gegessen hatten, kümmerte sich Michael um den Abwasch.
Stella plante in der Zwischenzeit die Mahlzeiten für die nächste Woche, schrieb einen Einkaufszettel und fuhr in den Supermarkt.
Michael und Steve sollten bei Antony bleiben, bis sie zurückkam.
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