10. Der Unfall
Steve wachte an diesem Morgen im Bett auf. Er fühlte sich ausgeschlafen, denn er hatte tatsächlich ein paar Stunden am Stück schlafen können. Es war noch recht früh und er ging zunächst duschen. Anschließend ging er in die Küche, um zu sehen, ob schon jemand wach war.
Michael war in der Küche gerade dabei ein Lunchpaket für Antony zu richten. Antony saß am Küchentisch und aß sein Müsli.
„Guten Morgen!", begrüßte Steve beide.
„Guten Morgen, Steve. Frühstück wie gestern?"
„Danke, gerne."
Michael stellte wieder getoastetes Brot auf den Tisch und setzte sich dann dazu.
„Ich muss mich wohl für das Verhalten meines Dads gestern entschuldigen. Er hat sich nicht gerade von seiner freundlichsten Seite gezeigt."
„Schon gut", erwiderte Steve.
„Bevor er hierher gekommen ist, war er noch bei meiner Schwester. Die beiden sind sich schon lange nicht mehr ganz grün und müssen sich gestern gezofft haben. Deswegen war er mies drauf."
Steve nickte und aß sein Toast.
„Und hast du schon Pläne für den Tag?", fragte Michael Steve.
„Ich bin mir noch nicht sicher. Vielleicht gehe ich als erstes laufen."
„Wenn du aus dem Haus gehst und nach links läufst, kommst du zu einer schönen Strandpromenade. Da ist es am Vormittag noch nicht so voll und das Wetter ist noch angenehmer, wenn die Sonne noch nicht so hoch steht."
„Danke, das werde ich ausprobieren."
„Oder du siehst dir den Hafen an. Ist ganz nett, zu sehen, wenn die großen Kreuzfahrtschiffe ein- und ausfahren."
Steve überlegte kurz und sagte dann: „Ich werde erst mal beim Laufen bleiben."
Michael nickte und frühstückte fertig.
Antony erzählte während dessen begeistert von dem Ausflug, den er heute mit der Schule machen würde. Alle Klassen seines Jahrgangs sollten in den Zoo fahren. Seine Tasche war schon fertig gepackt.
Michael holte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und sagte zu Steve: „Stella hat mich gebeten, dir den hier zu geben. Am Kühlschrank hängen unsere Telefonnummern, falls etwas wäre."
Steve freute sich. „Danke!"
„Keine Ursache. Ich werde jetzt Antony an der Schule absetzen und dann in den Stützpunkt weiter fahren. Wir sehen uns heute Abend!"
Michael und Antony verabschiedeten sich und ließen Steve allein in der Wohnung zurück.
Steve lauschte einen Moment lang der Stille, die nun in der Wohnung herrschte. So leer kam ihm die Wohnung noch größer vor, als sie ohnehin schon war. Er beschloss, den Tag lieber draußen zu verbringen. Er ging in das Gästezimmer und zog sich bequeme Sachen zum Laufen an. Den Schlüssel verstaute er sicher in der Hosentasche und verließ dann die Wohnung. Auf dem Weg durch den Hausflur grüßte er freundlich Stellas Nachbarn und ging dann schließlich aus dem Haus, um die von Michael beschriebene Laufstrecke auszuprobieren.
Steve lief eine Weile am Strand entlang bis der Fußweg wieder weiter vom Wasser weg und zu einem kleinen Park führte. Die Sonne schien, doch der Wind brachte eine leichte Brise vom Meer, sodass sie sich nicht zu heiß anfühlte. Der Park roch nach einer Mischung aus Seeluft und frisch geschnittenem Gras.
Steve verweilte eine Zeit lang auf einer Bank und schaute den anderen Parkbesuchern beim Schach- und Boule-Spielen zu. Die Menschen hatten fast alle schon ein recht hohes Alter, schienen aber ihren Lebensabend in diesem Moment zu genießen. Steve ließ die entspannte Ausstrahlung dieser Menschen auf sich wirken und stellte sich vor, was sie wohl in ihrem früheren Leben gemacht hatten.
Irgendwann schaute er auf seine Armbanduhr und fragte sich, ob Stella sich freuen würde, wenn er sie wieder vom Dienst abholen würde. Er beschloss, ebendies zu tun und auf dem Rückweg nicht zurück in die Wohnung zu gehen, sondern zu der Klinik, in der Stella arbeitete.
Als Steve nur noch ein paar hundert Meter von der Klinik entfernt war, dachte er sich, dass er viel zu früh vor Stellas Schichtende kommen würde. Er überlegte sich, einfach in der näheren Umgebung der Klinik noch einen kleinen Spaziergang zu machen, um die restliche Zeit zu überbrücken. Seine Gedanken wurden durch die Sirenen mehrerer Krankenwagen unterbrochen, die an ihm vorbei in Richtung Klinik brausten. Am Himmel flog ein Hubschrauber auf die Klinik zu. Steve fragte sich, was passiert war.
Er ging weiter zur Klinik und betrat sie durch den Haupteingang. Hier gab es einen Empfangs- und Wartebereich, von dem aus man auch die Notaufnahme betreten konnte. Die Türen zur Notaufnahme standen im Moment offen, da hier im Moment reger Verkehr herrschte. Der Flur stand voll mit frisch angelieferten Patienten. Diejenigen, die Steve von seinem Standpunkt aus erkennen konnte, waren alle Kinder, etwa in Antonys Alter. Mit seinem Blick suchte Steve den Flur nach bekannten Gesichtern ab und entdeckte Stella.
Stella sah Steve nicht. Sie war darin vertieft zwischen den Tragen hin und her zu laufen und die Patienten zu versorgen. Den anwesenden Pflegern und jüngeren Ärzten gab sie knappe Anweisungen und teilte dabei die Patienten nach Dringlichkeit ein. Zwischendurch beantwortete sie die Fragen, die ihr ihre Kollegen zuriefen. Mit ihren eigenen Händen versorgte sie eine stark blutende Wunde und richtete beruhigende Worte an das Kind, das diese Wunde erlitten hatte. Steve fragte sich, wie sie es schaffte, dabei noch so gelassen zu wirken. Es wirkte so, als könnte sie die Zeit für sich langsamer ablaufen lassen.
Dr. Williams eilte irgendwann durch den Empfangsbereich und blieb in der Tür zur Notaufnahme stehen.
„Stella!", rief sie, um auf sich aufmerksam zu machen. Als Stella zu ihr herübersah, sagte sie: „Deine Mom hat angerufen. Sie hat Antony nach Hause gebracht. Es geht ihm gut!"
Stella nickte erleichtert und wandte sich dann wieder den Patienten zu.
Die Patienten, die vorerst versorgt waren, ließ Stella auf die Station bringen, damit sie dort weiter versorgt werden konnten. Der Flur wurde nach und nach leerer und es trafen nun die ersten Eltern der Kinder ein, für die sich Stella nun ebenfalls Zeit nahm.
Als endlich Ruhe einkehrte, stand sie mit ihrem Team im Kreis. Sie lobte ihr Team für die gute Arbeit, sprach ein paar aufmunternde Worte und ermutigte jeden, den freien Nachmittag zu genießen. Alle Patienten waren jetzt stabil und die nachfolgende Schicht würde ab hier übernehmen.
Der Kreis löste sich auf und Stella sah erst jetzt Steve im Empfangsbereich stehen. Sie ging auf ihn zu und begrüßte ihn.
„Wartest du schon lange hier?"
„Nein, alles gut", sagte er bescheiden.
Sie blickte an ihrer blutbesprenkelten Krankenhaus-Kleidung herab und sagte „Ich muss mich noch schnell umziehen, danach kann ich dich mit heimnehmen."
Steve blieb geduldig im Empfangsbereich stehen, als Stella in einem Gang verschwand. Nachdem sie sich umgezogen hatte, kam sie zurück und nahm Steve mit in ihr Auto, um dann in ihre Wohnung zu fahren.
In der Wohnung wartete eine Frau, die - dem Gesicht nach - wohl Stellas Mutter war. Die Frau spielte mit Antony ein Brettspiel.
Stella begrüßte zuerst Antony und dann die Frau mit einer herzlichen Umarmung.
„Steve, das hier ist meine Mom."
Als Steve Stellas Mom die Hand schüttelte, fiel ihm auf, dass sie die gleichen leuchtend grünen Augen und fast die gleichen Gesichtszüge wie ihre Tochter hatte. Ihr Haar war jedoch lockig und kupferrot, durchzogen von einzelnen weißen Haaren.
Sie begrüßte Steve höflich.
Danach sah Mrs. Hammond ihrer Tochter in die Augen, hielt sie an den Schultern und fragte: „Alles in Ordnung, Kleines?"
„Ja, Mom, alles gut. Es war nur eine ziemlich lange Schicht."
„Okay Mach dir einen gemütlichen Nachmittag und ruhe dich aus. Heute Abend seid ihr bei uns eingeladen." Sie schaute streng zu Steve herüber. „Ihr alle."
„Das klingt gut, Mom. Wir kommen gerne. Sollen wir was mitbringen?"
„Nur einen guten Hunger. Ich werde euch dann jetzt allein lassen. Wir sehen uns später", sagte sie und umarmte ihre Tochter zum Abschied.
Stella nahm sich eine Weile Zeit, um mit Antony darüber zu reden, was er heute erlebt hatte. Sie wollte sichergehen, dass es ihrem Sohn gut ging.
Danach fragte Antony Stella, ob er draußen mit einem anderen Kind spielen darf, was sie erlaubte.
Stella bot Steve eine Limonade an und setzte sich mit ihm auf die Liegestühle auf der Terrasse. Von dort aus hatten sie die spielenden Kinder im Blick.
Stella schaute eine Zeit lang nachdenklich in die Ferne.
Steve versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen, was wohl gerade in ihr vorging.
Er durchbrach die Stille und fragte mit ruhiger Stimme: „Was ist heute eigentlich passiert?"
Stella sah ihn an.
„Ich meine mit den ganzen Kindern in der Notaufnahme?"
„Ein Schulbus hatte einen Unfall. Von einem entgegenfahrenden Lkw hat sich ein großer Betonklotz gelöst und wurde auf den Bus geschleudert."
„Haben es alle überlebt?"
„Nein, ein Kind ist dabei gestorben."
Steve fragte sich, wie es für eine Ärztin war, einen Menschen nicht retten zu können. Er war froh darüber, dass er nie ein Kind sterben sehen musste. Er glaubte, dass so etwas für Stella sehr schlimm sein musste.
„Ich habe es gar nicht erst zu Gesicht bekommen. Es hatte keine Chance", fügte sie hinzu.
Sie schaute jetzt ihrem Sohn und seinem Freund zu.
„Und du denkst jetzt an dieses Kind?"
„Ich denke daran, wie großes Glück wir, als Familie, heute hatten. Der Bus kam von dem Schulausflug, bei dem auch Antony war. Die Busse sind auf dem Rückweg in einer anderen Reihenfolge abgefahren, als ursprünglich geplant war, weil einer seiner Klassenkameraden getrödelt hatte. Wäre es nicht so gewesen, hätte es ihn treffen können. Das Kind saß in der hintersten Reihe, da wo auch Antony am liebsten sitzt."
„Aber es ist noch mal gut gegangen", wollte Steve sie aufmuntern.
„Schon, aber ich fühle mich komisch, wenn ich denke, dass ich froh bin, dass es das andere Kind getroffen hat und nicht Antony. Einerseits bin ich einfach nur erleichtert und andererseits habe ich Mitleid mit der anderen Familie."
Er kannte dieses Bedürfnis, möglichst alle retten zu wollen, und fand es selbst furchtbar, dass es auch ihm nicht immer gelungen war. Er rang sich ein aufmunterndes Lächeln ab, in der Hoffnung sie trösten zu können.
„Es ist manchmal einfach nicht möglich, dass beide überleben."
Sie zuppelte nachdenklich an dem Etikett ihrer Limonadenflasche und sagte leise: „Ich weiß."
„Wie geht es ihm damit?", wollte Steve wissen und deutete mit seinem Blick in Richtung Antony.
„Er hat nichts davon mitbekommen. Nach dem Unfall war die Straße abgesperrt und sein Bus ist deswegen woanders lang gefahren. Er kennt das andere Kind nur ganz flüchtig vom Schulhof. Ich denke, er wird damit klar kommen, wenn am Montag seine Lehrer das Thema ansprechen und er weiß, dass er jederzeit mit mir reden kann."
Nach einer Weile sagte sie schließlich mit einem kleinen Lächeln: „Ich fand es vorgestern toll, wie du mit ihm die Hausaufgaben durchgegangen bist."
„Ich habe eigentlich nichts gemacht, er hat alles selbst gewusst."
„Ja, aber er traut sich das manchmal einfach selbst nicht zu und man muss ihn ermutigen. Und das hast du gut gemacht."
Er lächelte. „Hab ich gern gemacht."
Sie sahen, wie Antony übermütig losrannte und über einen Stein stolperte. Stella war einen Moment lang angespannt und bereit hinzulaufen. Das Kind rappelte sich dann aber wieder auf, klopfte den Sand von seiner Kleidung und machte weiter.
Sie schüttelte den Kopf. „An anderen Tagen wiederum ist er für mich als Mutter wieder viel zu übermütig und kommt mit lauter Schrammen und blauen Flecken heim."
Steve lachte.
„Kannst du die beiden einen Moment lang im Blick behalten? Ich will schnell was holen, was ich dir noch geben wollte."
„Ja, klar."
Stella verschwand kurz in ihrem Arbeitszimmer. Sie kam mit zwei Notizbüchern zurück auf die Terrasse.
„Ich habe ja gestern gesagt, dass ich dir helfen möchte, dich einzuleben und möchte dir eine kleine Stütze mit auf den Weg geben."
Sie hob zunächst das größere Notizbuch hoch. „Manchen Leuten hilft es, ein Tagebuch zu führen, um am Abend einfach die Eindrücke des Tages irgendwie einzuordnen. Das kann man ganz gezielt tun, indem man jeden Tag einfach ein Ding aufschreibt, für das man dankbar ist oder welches man gelernt hat. Oder ganz frei."
„Und du findest, ich sollte das versuchen?"
„Ja, es klingt erst mal ein wenig kitschig. Aber es schadet nicht und ist einen Versuch wert."
Sie hob jetzt das zweite Notizbuch hoch. Es war kleiner und hatte das perfekte Format für die Hosentasche.
„Du wirst nicht alles auf einmal nachholen können, was in den letzten Jahrzehnten passiert ist. Deswegen komme ich zu meinem zweiten Vorschlag: Eine Bucketlist."
Er schaute sie fragend an.
„Du wirst immer wieder Menschen begegnen, die dir einen guten Film oder gute Musik empfehlen. Oder sie weisen dich auf ein historisches Ereignis oder einen spannenden Ort hin. All diese Empfehlungen und was dir sonst noch einfällt, kannst du erst mal in der Bucketlist in Stichpunkten sammeln. Wenn du dazu kommst, dir einen der Punkte anzusehen, streichst du ihn durch. Es ist eine Methode, um etwas Ordnung in das Chaos zu bringen."
„Das klingt so einfach", stellte Steve fest.
„Es sind nur kleine Hilfen auf deinem Weg. Sobald du so weit bist, kann ich dir auch anbieten, dir zu zeigen, wie man mit Computern und dem Internet umgeht. Es ist eine sehr wertvolle Informationsquelle und man kann sich überall auf der Welt mit anderen Menschen austauschen."
Steve zögerte. „Ich glaube, so weit bin ich heute noch nicht."
Stella lächelte aufmunternd. „Das ist okay. Sag einfach Bescheid, sobald ich dir helfen soll."
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