1. Die Stichprobe
Michael war heute besonders gut gelaunt. Das Wetter in Cape Canaveral war herrlich und heute war einer der Tage, an denen er fliegen durfte.
Er und seine Frau Stella hatten eben ihren Sohn an der Schule abgesetzt und fuhren nun weiter zur Arbeit.
Im Autoradio seines SUVs lief „Living on a Prayer" - einer seiner Lieblingssongs und er sang fröhlich mit. Er versuchte Stella dazu zu animieren auch mit zu singen, doch sie saß auf dem Beifahrersitz und konzentrierte sich auf das Blatt Papier, das auf ihrem Schoß ruhte. Es handelte sich um ihren aktuellen Schichtplan und während sie ihn studierte, runzelte sie nachdenklich die Stirn.
Es grassierte im Moment eine Grippewelle in der Stadt und dadurch gab es auch einige Ausfälle beim Personal in der Klinik. Dennoch mussten irgendwie alle Stationen halbwegs besetzt werden, um die Patienten versorgen zu können.
„Grübelst du immer noch über den Plan?", fragte er sie schließlich.
„Ja, Estelle hat sich vorhin auch abgemeldet. Jetzt fehlen mir für heute ein zweiter Arzt und ein Helfer. Aber dafür soll ich noch Patienten von Ferguson und Jones übernehmen."
„Den Augenarzt und den Gynäkologen?"
„Ja, zwar nur Notfälle, aber es ist trotzdem etwas mehr Arbeit." Während sie das sagte, bekam sie eine SMS, die sie sofort las. „Ah, okay, zwei von den Neuen werden heute meine Helfer sein", seufzte sie.
„Wird bei dir ein langer Tag heute, oder?"
„Ja, aber Dad wird am Nachmittag Antony abholen. Und Mom wollte uns heute Abend bekochen."
Michael nickte. „Ich werde dann am Abend einfach auf dich warten und mit dir zu ihnen fahren", beschloss er.
Sie kamen schließlich an der Schranke an, mit der der Parkplatz abgesperrt war. Er zeigte dem Pförtner in dem kleinen Häuschen neben der Schranke seinen Dienstausweis und die Schranke wurde geöffnet. Auf dem Parkplatz verabschiedete er seine Frau mit einem Kuss in den Tag.
**
Nick Fury hatte erst nach einem Vorwand gesucht, um Stella Hammond bei ihrer Arbeit aufzusuchen, da er nach Jahren mal wieder ein Auge darauf werfen wollte, wie sie sich entwickelte.
Pünktlich für den Anlass meldete sich heute schließlich sein vernarbtes Auge zu Wort und war leicht entzündet. Es brannte unangenehm.
Zudem gab es in der Praxisklinik im Moment wohl ein paar Personalengpässe. Die Augenarzt-Praxis, zu der er eigentlich mit seinem Auge geschickt werden würde, war komplett geschlossen. Dadurch wurde er als Notfall zu Stella Hammond beordert.
Er stand im Moment noch vor der Klinik und las sich Stellas Akte auf seinem Smartphone noch einmal durch. Sie war zwischenzeitlich mit einem Mann namens Michael Chain verheiratet und hatte seinen Namen angenommen. Er war Pilot und sie Ärztin in der Air Force und beide waren seit ein paar Jahren in Cape Canaveral stationiert.
Als er schließlich in die Praxis ging, wurde er am Empfangsschalter von einem sehr jungen Assistenzarzt begrüßt.
„Guten Morgen! Ähm... haben Sie einen Termin?"
„Ich habe heute Morgen angerufen. Man hat mir gesagt, ich könne als Notfall noch mit dazwischen genommen werden."
„Ah, okay. Wie ist ihr Name? Waren Sie schon mal hier?"
„Benjamin Smith. Nein, ich bin das erste Mal hier."
„Gut, dann lege ich für Sie eine neue Akte an. Bitte nehmen Sie im Wartebereich Platz, wir rufen Sie, wenn es weiter geht."
Nick ging in den Wartebereich, der schon recht voll war und sich mit der Zeit noch mehr füllte. Er hatte noch einen freien Stuhl ergattern können.
Neben Nick saß eine ältere Frau, die ihr Strickzeug auf den Schoß sinken ließ und versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.
„Warten Sie auch auf Dr. Chain?"
„Ja."
Die Frau lächelte. „Na, dann wird Ihnen bald geholfen. Sie ist die beste Ärztin in der Stadt. Die anderen Ärzte in ihren schicken Praxen wollen doch nur Geld machen! Diese Frau macht ihren Job wirklich noch mit Herz."
„Sie ist also eine gute Ärztin?"
„Ja, das sage ich doch! Als unser Kleiner aus dem Irak zurückkam, hat sie ihm im Nu geholfen, wieder auf die Beine zu kommen. Jetzt hat er ein Café am Strand und steht wieder mit beiden Beinen fest im Leben."
Nick lächelte höflich. „Dann bin ich froh, mich in so gute Hände begeben zu können."
Die alte Frau nickte und wandte sich wieder ihrem Strickzeug zu.
Irgendwann sah Nick, dass sich eine junge blonde Frau in locker sitzender Arztkleidung durch einen Gang der Praxis näherte. Aus der Akte wusste Nick, dass Stella ihre Haare seit ein paar Jahren wohl regelmäßig blondierte und glättete. Und ihrem Gesicht sah man die Verwandtschaft zu ihrer Mutter sehr deutlich an. Er war jetzt darauf gespannt, ihr Verhalten hier in der Praxis zu beobachten. Kurz bevor sie an der Glastür angekommen war, schaute sie, ohne stehen zu bleiben, auf ihren Pieper, drehte sich eilig um und verschwand wieder im Gang.
Es verstrichen weitere Minuten, bis sie wieder in dem Gang auftauchte und es schließlich bis in ihre Praxis schaffte.
**
Die beiden jungen Assistenzärzte, die heute Stella helfen sollten, hatten alle ankommenden Patienten erst mal in den Wartebereich gesetzt und wussten wohl nicht so recht, wo sie anfangen sollten. Als Stella nach der Visite in ihre Praxis zurückkam, war der Wartebereich bereits überfüllt.
Sie begrüßte alle und schaute danach in die Terminliste. Sie gab den beiden Neuen die Anweisung, schon mal die Patienten zu versorgen, bei denen zum Beispiel nur ein Verband gewechselt werden musste. Bei anderen Patienten konnten die beiden auch schon mal einfache Tests durchführen, um sie erst danach zu Stella zu schicken. Die beiden folgten den Anweisungen, wodurch der Andrang im Wartebereich nach und nach weniger wurde.
Schließlich übernahm Stella einen Patienten, der sich mit einem Problem am Auge gemeldet hatte.
Der dunkelhäutige, schwarz gekleidete Mann mit der Augenklappe war zwischenzeitlich vom Wartebereich in einen der Behandlungsräume gelotst worden und wartete dort geduldig.
„Hallo Mr. Smith! Ich bin Dr. Chain. Was kann ich für sie tun?"
Der Mann zeigte auf seine Augenklappe und sagte: „Das alte Auge hat sich entzündet und brennt jetzt ziemlich."
Sie setzte sich vor ihm hin. „Also gut, dann entfernen Sie mal bitte die Augenklappe."
Er nahm die Augenklappe ab.
Sie beugte sich vor. Während sie das Auge ruhig von allen Seiten betrachtete entfuhr ihr eine Frage.
„War das eine Katze?"
Nick lachte kurz. „Nein, eine Kriegsverletzung. Ich wurde von einem Schrapnell getroffen."
„Aha, okay", antwortete sie leicht ungläubig.
„Ist schon ein paar Jahre her", fügte er hinzu. „Das war noch in den 90ern."
„Haben sie schon öfter Probleme damit gehabt?"
Er nickte. „Ja und mein Augenarzt hat mir immer dieses Mittel hier gegeben."
Er reichte ihr einen kleinen Zettel, auf dem der Name eines Medikaments notiert war. Sie sah sich den Zettel an und überlegte kurz.
Während sie nachdachte, kam einer ihrer Helfer herein und bat dringend um Hilfe.
„Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick", sagte sie und verschwand mit dem Helfer aus dem Zimmer.
Nach kurzer Zeit kam sie zurück und setzte sich wieder hin.
„Also das Mittel kann man grundsätzlich schon nehmen, wenn das Auge nur leicht brennt. Da es jetzt aber entzündet ist, würde ich eher zu einer antibiotischen Salbe raten."
Sie wandte sich dem Computer neben ihr zu und tippte das Rezept ein.
„Diese tragen Sie morgens und abends vorsichtig auf. Dadurch sollte dann das Brennen auch schnell gelindert werden."
Der andere Helfer kam jetzt in das Zimmer, um eine Frage zur Praxis-Software zu stellen. Stella beantwortete diese ruhig, woraufhin der Helfer das Zimmer wieder verließ.
„Darf ich Ihre Augenklappe mal sehen?"
Er reichte sie ihr.
Sie begutachtete die Innenseite und sagte schließlich: „Die Augenklappe fusselt leicht. Das dürfte die Entzündung begünstigen, vielleicht sogar verursachen. Ich würde jetzt gerne Ihr Auge mit einer Kochsalzlösung einmal reinigen und alle Fussel entfernen. Danach sollten Sie diese Augenklappe erst mal nicht mehr tragen."
Der erste Helfer kam erneut in das Zimmer und hatte eine Frage, die Stella wieder gelassen beantwortete. Sie schrieb etwas auf einen Notizzettel und reichte ihn dem Helfer.
„Bitte holen Sie mir diese Salbe aus dem Materiallager", forderte Sie ihren Helfer auf, bevor er wieder ging.
Sie bereitete die Kochsalzlösung in einer Flasche mit einem Spritzrüssel vor. Danach bedeute sie Nick sich auf der Liege auf die Seite zu legen, damit das Wasser in eine Schale, die sie unter sein Gesicht platzierte, ablaufen konnte.
Der Helfer platzte erneut in das Zimmer und legte Stella die geforderte Salbe hin.
„Ma'am, wir haben da ein Problem in Zimmer zwei. Könnten Sie bitte noch mal schauen?"
Stella blieb weiterhin ruhig.
„Ja, klar. Bitte entschuldigen Sie mich noch einmal, Mr. Smith."
Sie ging eilig mit ihrem Helfer mit.
Als sie wieder kam, fragte Nick: „Chaotischer Tag heute?"
Sie lächelte freundlich. „Ja, es grassiert hier in der Stadt gerade eine Grippewelle und unser Personal ist zum Teil auch betroffen. Normalerweise gibt es hier eine zweite Ärztin und eine sehr erfahrene Helferin. Die beiden, die heute da sind, haben erst vor einem Monat angefangen. Sie sind hoch motiviert, aber noch etwas grün hinter den Ohren."
Nick lachte.
Während sie dabei war, das Auge vorsichtig zu reinigen, fragte er: „Und da können Sie so gelassen bleiben?"
Sie zuckte mit den Schultern. „Ja, klar. Das ist völlig normal, dass wir ab und zu mal mehr Andrang haben und manchmal fast keinen. Das gleicht sich aus."
Er überlegte kurz. „Also geht es hier eigentlich eher ruhig zu?"
Sie nickte. „Ja, das hier ist eine kleine Stadt, da passiert nicht viel. Kommt halt drauf an, womit wir uns hier vergleichen."
„Arbeiten Sie schon länger hier?"
„Seit etwa sieben bis acht Jahren jetzt."
Sie prüfte kurz, ob sie nun alle Fussel entfernt hatte, tupfte vorsichtig mit einem Stück Gaze und spülte dann weiter.
„Und davor?", fragte Nick weiter.
Sie setzte kurz ab, hob eine Augenbraue und blickte ihn prüfend an.
„Oh, ich mache nur Konversation!", sagte er sich verteidigend.
Sie tupfte das Auge nun vorsichtig trocken und antwortete während dessen: „Studium, Grundausbildung und danach direkt nach Afghanistan."
„Da haben Sie dann gelernt, so gelassen zu sein!", folgerte er.
Sie trug ein wenig von der Salbe auf und nickte. „Nun, da lernt man zumindest wie man plötzliche Andränge effizient koordiniert."
Er lachte und sagte: „So kann man das wohl auch nennen!"
Sie begutachtete kurz noch einmal ihr Werk.
„So, das war's erst mal. Wie gesagt: Lassen sie die Augenklappe in nächster Zeit weg. Besorgen Sie sich dann am besten eine, die nicht fusselt, damit sich das Auge später nicht erneut entzündet. Wenn Sie es bis dahin vor Licht schützen wollen, sollten Sie erst mal auf ein Baseball-Cap und eine Sonnenbrille zurückgreifen."
„Ein Cap und eine Sonnenbrille? Dann sehe ich ja aus, als wäre ich undercover unterwegs", scherzte Mr. Smith.
„Wäre doch auch mal spannend, oder?", entgegnete sie freundlich.
„Ich empfehle Ihnen außerdem, sich das in ein paar Tagen noch mal von Dr. Ferguson, unserem Augenarzt, ansehen zu lassen. Soll ich ihnen gleich einen Termin eintragen?"
„Ja, bitte."
„Am Donnerstag um zehn Uhr?"
„Das passt perfekt."
Sie gab Nick einen Zettel mit dem Termin und den Zettel mit dem Rezept und wünschte ihm einen schönen Tag.
**
Nick ging nach der Behandlung zunächst die ihm verschriebene Salbe in der nahe gelegenen Apotheke kaufen. Danach kehrte er in sein Auto zurück. Er saß eine Weile in dem Auto und überlegte, was er in Stellas Akte notieren sollte.
Sie hatte sich anscheinend zu einer kompetenten Ärztin entwickelt, die gut mit ihren Patienten und ihren Mitarbeitern umgehen konnte.
Das waren jedoch eigentlich nicht die Merkmale, nach denen er Ausschau hielt. Er fand, dass sie zwar eine Art inneres Leuchten ausstrahlte, aber hat keinen Hinweis entdecken können, dass sich dieses zu einer besonderen Fähigkeit manifestierte.
Dennoch glaubte er, dass es eine gute Idee sein könnte, seinen neuesten Mitarbeiter mit ihr bekannt zu machen. So können die beiden ein wenig gegenseitig auf sich Acht geben.
Nachdem er die Akte geschlossen und sein Smartphone beiseitegelegt hatte, musste er feststellen, dass sich sein Auge schon jetzt wesentlich besser anfühlte. Er schaute kurz in den Rückspiegel und setzte sich dann eine Sonnenbrille auf, die er in einer der Ablagen des Autos gelagert hatte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top