Die wahrhaften Bekenntnisse des jungen Adam Blair
Da saß er nun. Am Ende hatte es ihn doch in die kleine Dorfkirche am Ende der Straße verschlagen. Er war alleine gewesen. Er saß auf einer der grauen Holzbänke und fühlte es wieder, allein zu sein. Das konnte er gut. Er konnte es gut, sich alleine zu fühlen, einsam zu sein, sich einzureden, niemanden zu haben und anschließend mit voller Boshaftigkeit auf sich hinunterzublicken. Adam war alleine. Doch wie er da so saß, wie die Tränen über das markante Gesicht hinunterliefen und er dennoch, trotz herniederfallender Erinnerungen, seinen Kopf gerade hielt und einen kühlen Blick bewahrte, gesellte sich jemand zu ihm. »Warum?«, fragte Adam. Da entstand eine große Pause zwischen den beiden. Sie wussten, Adam war schon lange nicht mehr hier gewesen. »Ich kenne dich nun schon so lange Adam und du überraschst mich jeden Tag wieder erneut.« Da lächelte sein Gegenüber nun - und das obwohl heute doch ein so fürchterlicher Tag gewesen war.
»Werde ich es jemals verstehen?«, fragte Adam wieder.
»Adam, du hast schon so vieles verstanden«, antwortete man ihm. Die Leere schallte im Raum. Adam sah durch die Bleiglasfenster der alten Dorfkirche und blickte hinüber. Auch dort war ein Fenster, auch durch dieses drang Licht, hinter ihm lag der Friedhof. Es war still.
»Du hast die Blumen gegossen, nicht?« Adam nickte. »Das hättest du nicht tun müssen. Und doch hast du es getan, weil du gesehen hast, dass die Blumen Wasser brauchen.« Adam nickte erneut. Er fühlte sich ganz klein. Beinahe war es so, als wären wieder die Schäfchenwolken über ihm erschienen. Beinahe war es so, als läge er unschuldig unter einer großen Linde, die auf dem Berg, und betrachtete die Dächer der Häuser. Beinahe war es so, dass er über das Wort ›Vielleicht‹ philosophierte.
»Je älter man wird, desto komplizierter wird es, denke ich«, sprach Adam dann. Er schluckte und blicke wieder auf den Boden.
»Du weißt selbst. Die besonderen Menschen sind nicht jene, die es in ihrem Leben besonders leicht gehabt haben. Je mehr wir wissen, desto mehr Gedanken können wir zulassen.« Adam nickte wieder.
»Ich zerreiße mich«, sagte Adam dann. »Ich zerreiße und verliere mich gleichzeitig.«
»Warum denkst du das?«
»Weil ich mich täglich neu erfinden muss. Ich zerstückele mich. Ich trenne mich. Ich verliere die alten Tage und reiße die neuen ab wie von einem nutzlosen Kalenderblatt. Das alles tue ich in der Hoffnung, dass ich eines Tages akzeptiert werde.«
»Und willst du das?«
»Es ist gemein, mich mit meinen eigenen Frageprozessen auf den Grund meiner geistigen Ausweglosigkeit zu führen.«
»Ich bin eben das, was du gebildet hast. Ich bin so klug in meinen Redeweisen wie du es bist.«
»Ich verstehe.«
Eine kurze Pause.
»Also?«
»Natürlich will ich das nicht. Ich will ich sein, ich will mich lieben, fühlen das ich wertgeschätzt werde. Ich will mich weiterentwickeln, Facetten entdecken und sehen, lieben lernen, ich will mich verstehen.«
»Viele denken das von dir.«
»Auch wenn es nicht die Wahrheit ist.« Eine Kälte umwog ihn. Es war spät geworden, die Sonne senkte sich langsam und hüllte mit Gewissheit das alte Gebäude in einen unverfehlbaren Schatten.
»Heute bin ich Adam. Morgen bin ich Steve. Wahrscheinlich bin ich die meiste Zeit wie er. Aber heute bin ich Adam. Heute bin ich unverfroren, kühl, stark, eigensinnig, mutig.«
»Selbstbewusst.«
»Ja, heute war ich es. Und heute passiert es wieder. Heute erhalte ich das Gefühl zurück, wodurch ich von Adam zu Steve werde.«
»Ist es Nähe?«
»Es ist Unsicherheit.«
»Man kann selbstbewusst und unsicher gleichzeitig sein?«
»Eine Politikerin, die den Falklandkrieg ankündigt, kann es sein, also bin ich davon ebenfalls nicht ausgeschlossen.« Wieder wurde er stolz.
»Und warum bist du hier?«
»Weil ich nach dem gesucht habe, was mir einen Halt gegeben hat. Etwas, das mich an früher erinnert, ohne, dass ich im ›Früher‹ ankomme.«
»Wahrlich, dieses Haus wird wohl immer für dich einen Platz bieten.«
»Bis zu einem gewissen Grad vertragen sich Glaube und die Wissenschaft. Irgendwann tun sie es nicht mehr. Und diesen Grad habe ich schon lange übersprungen und mich für die richtige Seite entschieden.«
»Du meinst, für die kühle und rationale.«
»Für die logische. Für die, die mir Antworten bringt, wenn ich danach frage.«
»Interessant. Und am Ende sitzt du trotzdem wieder hier. Du sitzt hier, genau wie früher und wieder bist du in der ersten Reihe.«
»Wieder falle ich auf mich selbst hinein. Durch meine unendliche Suche danach, Antworten auf unlösbare Fragen zu finden, verdrehe und verheddere ich mich, am Ende komme ich dorthin, wo ich angefangen habe. Ich bin wieder hier.«
»Ein Anfang bietet immer die Möglichkeit, ein neues Ende zu schaffen.«
»Aber das Wollknäuel, das ich aufgelöst habe, verschwindet nicht. Es liegt hinter mir und wirft einen Schatten auf den Anfang.«
»Und dennoch fällst du immer wieder auf. Du strahlst heraus.«
»Und das ist meine Bürde.«
»Es belastet dich?«
»Die, die nicht so scheinen, die nicht im Sonnenlicht erstrahlen, die meisten, die, die nicht den Schmerz der dauerhaften Präsenz erleben mussten, sie sagen, ich gehöre nicht dazu.«
»Freut es dich nicht?«
»Natürlich tut es das. Natürlich möchte ich niemand sein, der andere ausschließt, weil sie so sind, wie Gott sie schuf.«
»Und wieder höre ich ein ›Aber‹ raus.«
»Es ist nicht so leicht, wenn es die eigene Familie ist.« Der Mond schien inzwischen über der kleinen Kirche, das Licht versiegte im Westen, die Kirche hüllte sich in Dunkelheit. Adam war immer noch alleine gewesen. Er hörte eine Disharmonie, etwas konnte nicht im Einklang gewesen sein. C kann nicht gleichzeitig mit D gespielt werden, es wird nicht funktionieren. Ein misslicher Klang durchdrang seine Ohren.
»Ist es das erste Mal, dass du das erlebst?«
»Nein, das ist es mit Sicherheit nicht.«
»Also bist du schon daran gewöhnt?«
»Ich lasse es mir nicht anmerken. Ich lache, wenn sie über mich reden, ich verspotte das Schwert, welches mich köpft. Doch am Ende liegt mein Haupt auf dem Boden und weiß nicht, wo es hin soll.«
»Ein Kopf funktioniert nicht ohne Körper.«
»Meinem Kopf ist es egal, mein Körper leidet. Ich habe eine Leidenschaft entwickelt, in der ich den Schmerz zu lieben begann. Nun tötet er mich. Er trifft mich an einer Stelle, an der ich nicht gewappnet war.«
»Es war das Ahornblatt.«
»Es war mein Rücken. Ich hatte alles bedacht gehabt. Ich war auf alles vorbereitet. Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass ich selber eine Stelle übersehe.«
»Aus Adam ist Siegfried geworden.«
»Und Siegfried ist gestorben.«
»Siegfried ist ein Held geworden.«
»Siegfried ist ein Held geworden, weil ihn irgendwelche stumpfen Bauern zu einem romantischen Liebesheld empor gehoben haben, der mit seinen Muskeln und seinem schönen Antlitz die Frauen dieser Welt umwarb und einvernehmen konnte. Er war ein Krieger wie viele andere auch, er ist nur durch eine Legende, in welcher er nach mittelalterlichem Maße verklärt worden ist, zur Berühmtheit gelangt.«
»Siegfried war der Stärkste unter ihnen.«
»Die zufällige Verteilung von Geschick und Begabung sollte nicht dafür sorgen, Stärke als ein ansehnliches Charakteristikum zu führen. Ich bin schließlich auch nicht stolz darauf, zufällig in meinem Land geboren worden zu sein.«
»Bist du denn überhaupt auf etwas stolz, das dich ausmacht?«
»Ja, auf vieles, auf sehr vieles, was für die meisten vielleicht unsichtbar ist. Weil sie sich nicht dafür interessieren, wer ich bin. Sicher, sie wissen, dass ich dies absolviert habe und jenes meine Karriere beflügelt hat. Über die vielen kleinen Dinge, die ich allesamt erlebt habe, darüber haben sie keine Ahnung.«
»Es ist nur deine Familie.«
»Sie sind mehr wert als du vielleicht denkst.«
»Es ist deine Entscheidung, ihnen nichts von dir zu erzählen.«
»Ich erzähle so vieles von mir. Ich würde es noch mehr tun, wenn sie mich fragen würden. Aber sie tun es nicht. Sie können alles nachlesen, aber sie machen es nicht. Ihnen fehlt die Zeit. Sie haben keine Zeit für meine Fantasien, für meinen Kitsch, für Gerechtigkeit, sie haben keine Zeit für mich.«
»Und doch hast du sie unendlich lieb.«
»Es gibt keinen, den ich mehr lieb hätte, als sie.«
»Kannst du darauf nicht stolz sein?«
»Worauf?«
»Auf den Mut, deine ärgsten Feinde zu lieben?«
»Sind sie meine Feinde?«
»Sie tun dir weh.«
»Aber sie sind noch lange keine Feinde.«
»Sind sie eine Familie, wenn sie dir wehtun?« Der Vollmond steht an seiner höchsten Stelle. Irgendwo hört man die Nachtigall singen. Im schwarzen Licht wirkt Adam plötzlich unsichtbar.
»Es scheint mir, als bin ich es wieder, meine Eigenschaften, die mich in diese ausweglose Lage bringt. Ich habe wieder einmal nach dem ›Warum‹ gefragt und wieder einmal befriedigt mich diese Antwort nur zum Teil.«
»Meinst du, es ist die Wissenschaft?«
»Die Wissenschaft?«
»Deine logische Seite. Deine Entscheidung, die Welt logisch und rational-fassbar zu erklären. Menschen sind aber nicht rational. Du bist es auch nicht, egal wie sehr du dich bemühst. Du hast Gefühle, du bist kein Roboter. Alle Menschen haben Gefühle, Emotionen, sie sind nicht starr. Und auch wenn du mir die Definition von Emotionen haargenau erklären kannst, kommst du nicht umhin, ihre Einfältigkeit und problematische Existenz in dir selbst auszutragen.«
»Und deshalb sitze ich hier? Weil ich nach der Erklärung meiner Gefühle und die meiner Mitmenschen suche, die ich so sehr liebe?«
»Du hast es dir schon selbst verraten. Du liebst sie. Du fühlst. Subjekt, Prädikat, Objekt. Subjekt Prädikat.«
»Es ist wohl auch kein Wunder, dass ich in einer Kirche sitze.«
»Durchaus nicht.«
»Der Ort, an dem die Familie immer zusammenkommt. Der Ort, an welchen ich mich immer an sie erinnern werde. Weil sie alle Gefühle haben, weil sie glauben, weil sie den Mut haben, ihre Kraft in ein Gebet zu stecken.«
»Bewunderst du es?«
»Ich bewundere es, aus einem Glauben und einem Gebet, das ich indes nur für verkappte Wünsche halte, so viel Kraft zu ziehen. Dafür sind sie beneidenswert.«
»Auch du tust es. Auch du hast Wünsche und Hoffnungen und legst sie in irrational-fassbare Dinge.«
»Wieso?«
»Weil du heute wieder mit mir redest.«
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