Prolog
Die Ketten um meinen Knöcheln rasselten, als ich mein Gewicht von einer Seite auf die andere verlagerte. Es war nur eine rasche, winzige Bewegung, die von den wenigsten registriert worden wäre – doch Xenerion warf mir einen derart scharfen Blick zu, dass ich beinahe das Stechen der Peitsche auf meiner Haut spüren konnte.
Ich schluckte meinen aufflammenden Widerstand herunter. Wenn es etwas gab, das meine derzeitige Lage noch verschlimmern würde, dann aufsässiges Verhalten. Protest stand einer Sklavin nicht zu. Wäre ich nicht erst seit fünf Tagen eine solche, würde es mir wohl nicht so schwerfallen, das zu akzeptieren.
Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, womit ich das verdient hatte. Letztlich war es allein meiner eigenen Dummheit zu verdanken – hätte ich nicht unbedingt nach Sonnenuntergang allein durch die Straßen des Ostviertels gehen müssen, wäre ich Xenerion nicht in die Hände gefallen. Jedes Kind wusste, dass man damit das Schicksal geradezu herausforderte. Zumindest hätte ich jedoch das Recht auf meiner Seite gehabt, wenn ich nicht meine Identität verschleiern würde. Als Freie hätte ich mich an die Wächter wenden können. Das Problem lag nur darin, dass ich ihnen unmöglich meinen echten Namen sagen konnte, nicht, wenn ich nicht wegen unerlaubten Praktizierens von Magie in einem Kerker oder jahrelanger Strafarbeit landen wollte. Jetzt hatte ich immerhin noch die Chance, dieser Situation zu entkommen.
Vorausgesetzt, du erhältst einen nachlässigen Gebieter, dachte ich zynisch. Bisher stand eher zu befürchten, dass ich bei Xenerion versauerte. Seit wir vor fünf Stunden am Straßenrand Stellung bezogen hatten, hatte niemand Interesse an mir oder den anderen beiden Frauen gezeigt. Es schien, als würde niemand hier eine Sklavin brauchen – wenn doch, konnte er es sich nicht leisten.
Mein Blick huschte über die vorbeihasteten Wesen. Der Großteil Menschen, soweit ich das beurteilen konnte. Ein paar von ihnen besaßen die arrogante Ausstrahlung der Magier, und bei genauerem Hinsehen entdeckte ich auch Elben. Es war einer dieser Tage, an denen selbst in diesem belebten Teil der Stadt wenig los war. Ich kannte diese Straße gut genug, um zu wissen, dass Xenerion einen ungeeigneten Standort ausgewählt hatte. Hier trieben sich nicht die üblichen Kunden der Sklavenhändler herum. Diese Männer und Frauen wollten vor allem vom östlichen Stadtteil in jenen im Süden, auf dem Weg zu ihren Familien oder in das nächste Gasthaus. Keiner von ihnen würde stehen bleiben, um eine Sklavin zu kaufen – erst recht dann nicht, wenn er nichts mit ihr anzufangen wüsste. Die Wenigen, die innehielten und sich an den Häuserwänden herumdrückten, hofften auf etwas anderes. Wissen verfügte auch in Brient über große Macht. Und wer die richtigen Leute kannte, wurde am ehesten hier fündig. Der Platz unter einem halb verfallenen Hauseingang, an dem ich bis vor einigen Tagen herumgelungert hatte, war bereits von einem Jungen in abgerissener Kleidung übernommen worden.
Die Sonne stand mittlerweile tief am Himmel und der Geruch nach Regen hing in der Luft. Es konnte nicht mehr lang dauern, bis die ersten Tropfen fallen und auch Xenerions letzte potentielle Kunden vertreiben würden. Wenn es so weiter ging, würde ich eine weitere Nacht in seinen Händen verbringen müssen. Ob das gut oder schlecht war, hing vor allem davon ab, wer die Alternative sein würde. Für den Moment erschien es mir beinahe erstrebenswert, von irgendjemanden gekauft zu werden.
„He, Ihr!", brüllte Xenerion plötzlich und stieß mich auf die Straße. „Wie wäre es mit einer Bluthure? Jung und kerngesund!"
Ich fuhr zusammen. Der Mann, den er angesprochen hatte, hielt kurz inne – wohl mehr der Höflichkeit wegen. Er war von mittelgroßer Statur, weder auffallend schmal noch übergewichtig. Als der Winde seine braunen, von silber glänzenden Strähnen durchsetzten Haare zurückwehte, erhaschte ich einen Blick auf seine Augen.
Eines grau, das andere dunkles Grün. Vampir. Wussten die Götter, wie Xenerion das so schnell bemerkt hatte. Abgesehen von den unterschiedlich farbigen Augen ließen sich Vampire kaum von den anderen Wesen unterschieden. Mein Wunsch, bald von jemandem gekauft zu werden, verflog binnen eines Wimpernschlags.
„Kein Interesse", erwiderte der Vampir, ohne mich auch nur angesehen zu haben. Erleichterung durchströmte mich, als er Anstalten machte, weiterzugehen.
Im selben Moment stand Xenerion wieder neben mir. Mein Arm flammte auf, als er kurzerhand seinen Dolch darüber zog. Ich keuchte auf. Nicht nur wegen des Schmerzes. Viel schlimmer war, dass Xenerions Plan aufzugehen schien. Der Vampir war schon an uns vorbei, blieb jedoch schlagartig stehen. Dann drehte er sich um, kam bedächtig auf mich zu, und machte so dicht vor mir Halt, dass ich die Wärme seines Körpers spürte. Er musterte mich eingehend, als würde er nach etwas suchen. Mein Blut zog eine feuchte Spur von meinem Oberarm hinab zu meinem Handgelenk, und tropfte auf den Boden. Irgendetwas daran hatte ihn dazu gebracht, seine Meinung innerhalb eines Herzschlags zu ändern. Roch mein Blut so gut? Der Gedanke jagte einen Schauer über meinen Rücken. Es war nicht unüblich, dass Vampire sich Blutsklaven kauften. Manche Leute auf dem Schwarzmarkt erzählten sogar, dass man als solcher ein gutes Leben führen konnte – doch das hieß nicht, dass ich mich zu ihnen zählen wollte. Die Vorstellung, wie er seine Zähne in meine Haut bohren würde, jedes verdammte Mal, wenn es ihn nach Blut gelüstete, bereitete mir Übelkeit.
„Wie viel?", murmelte der Vampir. Er löste seine Augen von mir und warf Xenerion einen auffordernden Blick zu. „Oder wollt Ihr Euer Angebot zurückziehen?"
Xenerion stand noch immer schräg hinter mir. Doch auch ohne ihn zu sehen, ahnte ich, was ihn ihm vorging. Er hatte es geschafft, das fehlende Interesse des Vampirs in den Willen, mich zu kaufen, umzuwandeln. Allein indem er mich geschnitten hatte. Grund genug zur Annahme, ein gutes Geschäft machen zu können. „5000, und Ihr könnt sie sofort mitnehmen."
„5000?", wiederholte der Vampir spöttisch. „Ihr macht Scherze. Das Mädchen hat offensichtlich seit Tagen nichts gegessen. Es würde mich nicht wundern, wenn sie mir unter den Händen wegstirbt."
Er legte eine Hand unter mein Kinn und zwang mich dazu, den Kopf soweit zu drehen, dass er einen ungehinderten Blick auf meinen Hals hatte. Sein Daumen fuhr leicht über jene Stelle unter dem Kiefer, an dem ich das panische Pulsieren meines Herzschlags spürte. Dann ließ er mich ebenso überraschend los. „Wie ist dein Name?"
Wäre ich weniger in Panik, hätte ich mich vielleicht über den freundlichen Tonfall gewundert. Dass ich ihm unter den Händen wegsterben könnte, konnte unmöglich ernst gemeint sein. So schwach war ich nicht. Er müsste schon viel ... sehr viel ... Zu viel Blut nehmen. Ich hatte Vampire auf dem Schwarzmarkt beobachtet. Keiner der Menschen, die dort ihr Blut verkauft hatten, war daran gestorben. Er wollte einen besseren Preis aushandeln. Das musste es sein. Selbst ich wusste, dass Xenerions Forderung für eine weibliche Sklavin ohne nennenswerte Fähigkeiten maßlos übertrieben war.
Ein Funke Hoffnung loderte in mir auf. Der Vampir wollte mich nicht um jeden Preis. Vielleicht konnte ich dafür sorgen, dass er von diesem Vorhaben abließ. Dass ich mir dafür Xenerions Zorn zuziehen würde, war in diesem Moment zweitrangig. Es war meine einzige Chance.
„Das geht Euch einen Dreck an", fauchte ich.
Mein Gegenüber hob eine Augenbraue. „Aufsässig und ungehorsam ist sie also auch noch. Mehr als 300 wird Euch niemand, der bei Verstand ist, für sie zahlen."
Ich konnte regelrecht spüren, wie Xenerion erbleichte. Er hatte die vergangenen Tage damit verbracht, mir systematisch seine Regeln einzuprügeln. Sprich nicht, wenn du nicht dazu aufgefordert wirst. Antworte respektvoll auf Fragen. Tu alles, was man dir sagt.
Er konnte nicht wissen, dass er mit dieser Methode nie Erfolg gehabt hatte. Nach meinem anfänglichen Widerstand hatte ich rasch akzeptiert, was er verlangt hatte. Ich hatte mich mustergültig verhalten. Nicht, weil er mich davon überzeugt hatte, dass ich nichts Besseres als das Leben einer Sklavin verdient hätte. Meine Motivation rührte allein aus der Gewissheit, auf diese Art meinen Aufenthalt bei ihm verkürzen zu können. Dass ich nun ausgerechnet vor dem einzigen heutigen Kunden das genaue Gegenteil eines angemessenen Verhaltens an den Tag legte, musste ihn rasend machen.
„300 ist zu wenig", knurrte Xenerion. „Sie ist noch keine zwanzig Jahre alt, weder hässlich noch verwahrlost oder krank. Es gibt genug Männer, die mir das dreifache zahlen würden."
„Ich bin einundzwanzig", warf ich ein.
Xenerion wirbelte herum. Er zerrte mich einen Schritt zurück, sodass er vor statt hinter mir stand. Dann holte er aus. In der festen Erwartung eines Schlags schloss ich unwillkürlich die Augen – und öffnete sie zögernd wieder, als er ausblieb.
„Ihr wollt Eure Ware doch wohl nicht beschädigen, während Ihr sie mir verkaufen wollt", sagte der Vampir. Belustigung spiegelte sich in seinen Augen, als sein Blick einen Moment lang meinen traf. Ich war nicht sicher, was der Grund dafür war; mein Verhalten oder Xenerions.
Er wartete Xenerions unwilliges Nicken ab, ehe er dessen erhobenen Arm losließ. Dann wandte er sich wieder mir zu. Dass er Xenerion davon abgehalten hatte, mich zu schlagen, änderte nichts an meiner Haltung ihm gegenüber. Ich hatte noch immer das dringende Bedürfnis, zurückzuweichen, mich irgendwo vor diesen unterschiedlich farbigen Augen zu verstecken. In der Vergangenheit hatte ich immer wieder mit Vampiren zu tun gehabt – aber kein einziges Mal war ich in der Situation gewesen, einem von ihnen als Nahrungsquelle dienen zu müssen. Ich war an ihre Anwesenheit und das Wissen, dass sie zusätzlich zu gewöhnlicher Nahrung regelmäßig Blut zum Überleben brauchten, gewöhnt, selbst an den Anblick, wie sie an jenes kamen. Sie waren ein normaler Teil der Gemeinschaft. Und doch sträubte sich alles in mir dagegen, einen Platz in diesem Gefüge einzunehmen.
Der Vampir musterte mich erneut. Sein Blick blieb an der Wunde an meinem Arm hängen, verweilte einige Atemzüge lang dort, und wanderte dann weiter. Ich rechnete fast damit, dass er um mich herumgehen würde, um mich von allen Seiten zu betrachten. Doch er beließ es dabei, mir in die Augen zu sehen. Mich beschlich das Gefühl, dass er etwas über mich wusste. Irgendetwas, von dem ich selbst keinen Schimmer hatte. Im nächsten Moment hätte ich schwören können, dass er mir zugezwinkert hatte. Kurz, ohne seine neutrale Miene zu verändern. Aber das konnte nicht sein – welchen Grund hätte er dazu? Ich musste mich getäuscht haben.
Während ich noch darüber rätselte, richtete er den Blick erneut auf Xenerion. „Bedauerlich, dass unsere preislichen Vorstellungen derart weit auseinandergehen. Aber für diese Summe werde ich sie auf keinen Fall kaufen."
Lüge, durchzuckte es mich. Er würde mich sehr wohl für diesen Preis kaufen. Sogar für einen weitaus höheren.
Ich hasst meine Fähigkeit in diesem Augenblick mehr als je zuvor. Es war selten, dass sie ungewollt hervorbrach und mir mitteilte, ob mein Gegenüber die Wahrheit sagte oder nicht, und gerade jetzt wäre es mir lieber gewesen, sie hätte geschwiegen. Dann hätte ich voller Erleichterung zusehen können, wie der Vampir sich abwandte und uns stehen ließ. Ich hätte mich freuen können, weil er aufgegeben hatte.
Stattdessen sah ich ihm nach und wartete. Er spekulierte darauf, dass Xenerion ihn zurückrufen würde – und ich wusste, dass er damit richtig lag.
„Wartet!" Xenerion griff erneut nach meinem Arm. Diesmal zumindest nur, um mich mit sich zu ziehen, als er einen Schritt in die Richtung des Vampirs machte. „Was haltet Ihr von 600? Weiter runter kann ich unmöglich gehen, das würde mich ruinieren."
Der Vampir hielt scheinbar unschlüssig inne. Wüsste ich nicht genau, dass er sich längst entschieden hatte, würde ich sofort glauben, dass er mit sich selbst rang. Sein Blick wanderte immer wieder von Xenerion zu mir, als würde ein Teil von ihm auf das Angebot eingehen wollen, während ein anderer ihn davon abhielt.
„550", fügte Xenerion hinzu. „Das ist mein letztes Angebot."
Sag nein, dachte ich wider besseren Wissens. Bitte sag nein und geh weiter.
Doch wie erwartet nickte der Vampir kaum merklich. Er kam zurück und schlug in Xenerions ausgestreckte Hand ein. „Einverstanden."
Xenerion wartete gerade lang genug, um das Geld in Empfang zu nehmen, ehe er sich daran machte, die Ketten aufzuschließen. Ich widerstand mühsam dem Drang, ihm das Grinsen aus dem Gesicht zu treten, als er jene um meine Fußknöchel löste. Die Ketten aus schwerem Eisen waren rostig und hatten trotz meiner Schuhe stellenweise so stark über meine Haut gerieben, dass sie blutige Kratzer hinterlassen hatten. Als meine Hände frei waren, schimmerten bunte Blutergüsse an den Stellen, an denen die Gelenke zusammengebunden waren. Als ich den Blick meines neuen Besitzers auffing, meinte ich Mitleid darin zu sehen.
„Es hat mich gefreut, mit Euch Geschäfte zu machen", sagte Xenerion und deutete eine Verbeugung an. Falls er hoffte, sich damit einschmeicheln zu können, hatte er sich getäuscht. Der Vampir verzog keine Miene. Ebenso wenig machte er Anstalten, diesen Ort zu verlassen. Ich fragte mich unsicher, worauf er wartete. Kurz zog ich es sogar in Erwägung, den Moment zu nutzen und wegzulaufen – doch ich wusste, dass ich nicht weit kommen würde. Das Amulett um meinen Hals zeigte jedem deutlich, dass ich eine Sklavin war.
„Was ist mit ihren Sachen?"
Xenerions schleimiges Grinsen verrutschte. „Was?"
„Ihre Sachen", wiederholte der Vampir. „Ich würde meinen gesamten Besitz darauf verwetten, dass Ihr dieses Mädchen nicht rechtens in Eure Obhut gebracht habt. Wahrscheinlich habt Ihr sie irgendwo überfallen. Ich bezweifle, dass sie zu diesem Zeitpunkt nur in Hemd und Hose unterwegs war."
Im ersten Moment war ich zu überrascht, um zu reagieren. Ich konnte mir nicht erklären, warum er sich dafür einsetzte, meine Sachen zurückzuerhalten. Falls er tatsächlich beabsichtigte, sie mir zurückzugeben, konnte ich mich glücklich schätzen.
„Dann täuscht Ihr Euch", widersprach Xenerion energisch. „Sie wurde verurteilt und mir übergeben."
„Er lügt", sagte ich. „Ich bin nie verurteilt wurden."
Ein leises Lächeln huschte über die Lippen des Vampirs. Er trat einen Schritt näher an Xenerion heran und senkte die Stimme. „Glaubt nicht, dass Ihr Euch schützen könnt, nur weil Ihr den ein oder anderen Wächter bestochen habt. Es gibt genug andere, die nicht darüber hinwegsehen würden, wenn sie von Euren Machenschaften erfahren sollten. Wollt Ihr es wirklich darauf ankommen lassen?"
Xenerion presste die Lippen fest zusammen und verengte die Augen. Er hielt dem Blickkontakt einige Atemzüge lang stand. Dann brach er ihn, stieß ein frustriertes Schnauben aus und drehte sich um, um auf seinem Wagen herumzuwühlen. Als er zurückkam, hatte er meine Jacke in der Hand. Von meinem Dolch und meinem Beutel war nichts zu sehen; wahrscheinlich hatte er beides mitsamt Inhalt bereits verkauft.
Er warf die Jacke dem Vampir zu. „Das ist alles."
Vermutlich hätte ich widersprechen können. Ich ahnte, dass der Vampir in diesem Fall weiter auf Xenerion eingeredet hätte, aber ebenso wusste ich, dass es zwecklos wäre. Wenn Xenerion alles andere, was ich an diesem Abend bei mir getragen hatte, ohnehin verkauft hatte, würde er auch nicht mehr herausgeben können. Gut möglich, dass er sich nicht einmal mehr erinnerte, welcher Teil seines Diebesguts einst mir gehört hatte.
Ich schwieg, und nach einem letzten abschätzenden Blick zu Xenerion übergab mir der Vampir meine Jacke und wandte sich ab. „Komm."
Er machte sich nicht einmal die Mühe, nachzusehen, ob ich ihm folgte. Für einen Moment blieb ich unschlüssig stehen und sah ihm nach. Ich hätte verschwinden können, und ein Teil von mir drängte mich dazu, sofort in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Mein Blick wanderte zurück zu Xenerion, der mich lauernd beobachtete – und ich gab mir einen Ruck. Wenn ich jetzt floh, würde Xenerion innerhalb weniger Augenblicke schreien und jeden darauf aufmerksam machen. Im schlimmsten Fall würde ich dann erneut bei ihm landen. Die Vorstellung, was mich bei meinem neuen Besitzer erwarten würde, behagte mir nicht, doch zumindest war er freundlicher zu mir als Xenerion. Ich hatte das starke Gefühl, dass er mich in jedem Fall besser behandeln würde. Für den Augenblick genügte es, um meine unterschwellige Furcht zu verdrängen.
Als ich zu dem Vampir aufschloss, streifte er mich mit einem Blick, den ich nicht zu deuten wusste. Hatte er geahnt, dass ich mich dafür entscheiden würde mit ihm zu gehen? Dass das Gegenteil ebenso möglich gewesen wäre, hätte er daran erkennen können, dass ich mich zuvor nicht so verhalten hatte, wie es für Sklaven üblich war. Vielleicht hatte er daraus auch den Schluss gezogen, dass ich nicht rechtmäßig in Xenerions Hände gefallen war. Wer von den Wächtern dazu verurteilt wurde, einen Teil seines Lebens in der Sklaverei zu verbringen, akzeptierte dies in der Regel. Wer sich entsprechend verhielt, hatte gute Chancen, früher als geplant wieder frei zu kommen.
Ich gab mir Mühe, mir den Weg durch die Straßen einzuprägen. Es würde nicht schaden, wenn ich zumindest wusste, wie ich zurück in die Stadtteile gelangte, in denen ich mich auskannte. Entgegen meiner Erwartung waren wir nicht dem Strom der anderen Passanten nach Süden gefolgt, sondern an der nächsten Kreuzung nach Norden abgebogen. Das Nordviertel war das einzige, das ich seit meiner Ankunft vor einem Jahr noch nicht betreten hatte. Es befand sich im äußeren Teil der Stadt, durch den Fluss von den anderen Vierteln getrennt, und in unmittelbarer Nähe der Wächterburg. Wer hier lebte, musste sehr wohlhabend sein – ich hätte mir vermutlich nicht einmal ein Bett für eine Nacht leisten können, wenn ich einen Monat lang dafür gespart hätte.
Während sich mein Verdacht, tatsächlich auf das Nordviertel zuzusteuern, erhärtete, musterte ich den Mann neben mir aus den Augenwinkeln. Bei Xenerion hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet, doch nun hatte ich Zeit. Seiner Kleidung nach zu urteilen, hätte ich ihn nicht als einen Bewohner des Nordviertels eingeordnet. Sie war schlicht, in dunklen Tönen gehalten, und kein Vergleich zu den grellbunten, ausgefallenen Kleidungsstücken der Reichen, die ich aus der Ferne beobachtet hatte. Allein der fließende Stoff, der sich bei jeder Bewegung wie eine zweite Haut an ihn schmiegte, deutete darauf hin, dass er mehr Vermögen besaß als jeder, den ich kannte. So etwas konnte man sich in meinen Kreisen nicht leisten.
Ich überlegte, ob Vampire generell der wohlhabenderen Bevölkerungsschicht angehörten, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Wenn es so wäre, würde nicht ein Teil von ihnen ebenso wie ich im Ostviertel leben.
Wir überquerten eine der schmalen Brücken – und ich fühlte mich, als wäre ich mit einem Mal in einer vollkommen anderen Stadt. Die Häuser hier waren in einem wesentlich besseren Zustand, und mit Verzierungen versehen, deren Namen ich nicht einmal kannte: Säulen, kleine Türme auf dem Dach, bunte Glasscheiben in den Fenstern, Blumen und Kringel, die in die Mauern gemeißelt waren. Die Straßen waren breiter, sogar zwischen den Häusern, sodass man sich durch keine dunklen Gassen voller Unrat quetschen musste. Selbst die Luft erschien mir anders; weniger drückend und auf eine nicht fassbare Art frischer. Die Leute, die uns entgegen kamen, schienen es alles andere als eilig zu haben – und nicht wenige musterten mich derart arrogant, dass ich unwillkürlich den Blick senkte und fest auf die Steine unter meinen Füßen richtete. Dabei konnte ich nicht einmal sagen, woher ihre Verachtung rührte. Vielleicht war es die Tatsache, dass ich eine Sklavin war. Vielleicht missbilligten sie aber auch schlicht meine verstaubte, teils eingerissene Kleidung und die Tatsache, dass ich selbst in keinem besseren Zustand war.
Auch auf dem weiteren Weg verlor keiner von uns beiden ein Wort. Ich hätte gern gefragt, wohin wir gingen, oder warum er mich überhaupt gekauft hatte, doch ich traute mich nicht, die Stille zu brechen. Solange ich seinen Charakter noch nicht einschätzen konnte, wollte ich kein unnötiges Risiko eingehen. Gut möglich, dass es ihn störte, wenn ich ihn in seinen Gedanken unterbrach.
Letztlich war ich so sehr darauf konzentriert, schweigend den Boden anzustarren, dass ich unser Ziel erst bemerkte, als wir davor stoppten. Ich konnte gerade noch feststellen, dass dieses Haus nicht ganz so imposant wie die anderen wirkte und mich irgendetwas daran irritierte. Dann schob mich der Vampir ins Innere und nahm mir den Blick darauf. Mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich erkannte, dass wir in seinem Haus sein mussten. Was auch immer er vorhatte, es würde hier passieren.
Ich schluckte, und versuchte meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Der Eingangsbereich war angenehm hell, ebenso wie die anderen Räume, die ich durch offenstehende Türen sehen konnte. Doch was meine Aufmerksamkeit am meisten fesselte, war der Baum neben der Treppe nach Oben. Ein Baum, inmitten des Hauses. Das war es, was mich im ersten Moment irritiert hatte. Ich hatte von außen die Krone und einige Äste aus dem Dach ragen sehen.
„Du hast später noch genügend Zeit, um dich umzusehen."
Ich zuckte ertappt zusammen. Später würde ich Zeit dafür haben – aber was würde bis dahin geschehen? Ich folgte zögernd dem Klang seiner Stimme zu einem der Räume rechts von mir und blieb auf der Türschwelle stehen. Der Raum war kleiner als ich erwartet hatte. Etwa fünf Schritte in der Breite und doppelt so viele in der Länge. An der linken Wand stand ein Regal, in dem in geordneter Reihe mehrere beschriftete Fläschchen und Dosen standen, und ein schmaler Tisch. Gegenüber davon befand sich ein Sofa. Für mehr gab es keinen Platz.
Der Vampir stand vor dem Regal und suchte offensichtlich nach etwas. Als er mich bemerkte, nickte er leicht in Richtung des Sofas. „Setz dich."
Ich folgte der Aufforderung so langsam wie möglich. Ich ließ mich auf der Kante der weichen Polster nieder, und fragte mich unsicher, was er von mir erwartete. Von dieser Position aus konnte ich nicht erkennen, was er gerade tat. Bei der Tür hatte ich mich sicherer gefühlt. Weniger eingeengt, mit einer Möglichkeit, zurückzuweichen. Ich wusste, dass ich im Ernstfall nicht zurückweichen würde – zumindest hatte ich es nicht vor –, aber es war dennoch angenehmer, die Option dazu zu haben.
Als er sich schließlich umdrehte, hatte er ein Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit in der Hand. Und mit einem Mal siegte mein Instinkt gegenüber der Unsicherheit, ihn anzusprechen.
„Was ist das?", fragte ich leise und presste meine Jacke fester an mich. Ich hatte sie nicht angezogen, und jetzt war ich froh, das zusammengerollte Knäuel als Stütze zu haben.
„Wasser. Du schienst durstig zu sein." Er lächelte und überbrückte die wenigen Schritte bis zu mir, um mir das Glas entgegenzustrecken.
Doch ich nahm es nicht. Ich hatte mich fest auf seine Antwort konzentriert, darauf gebaut, dass mich meine Fähigkeit nicht im Stich lassen würde. Er hatte gelogen. „Nein", sagte ich. „Das ist kein Wasser."
Er hob beide Augenbrauen und neigte leicht den Kopf zur Seite. „Dann sagen wir, es ist etwas, das dich stärken wird. Du kannst es bedenkenlos trinken."
Obwohl ich spürte, dass er diesmal die Wahrheit sagte, nahm ich das Glas nur widerstrebend entgegen. Es kostete mich viel Überwindung, es auszutrinken. Wüsste ich nicht, dass ich durchaus etwas Stärkendes brauchte, hätte ich mich wohl geweigert. Die Flüssigkeit schmeckte so bitter, dass es mich schüttelte und ich die Augen schließen und tief einatmen musste, um die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken.
Im selben Moment ergriff der Vampir meinen verletzten Arm und löste ihn von meiner Jacke. Ich kniff meine Augen fester zusammen, in der sicheren Erwartung, jeden Augenblick das Stechen von messerscharfen Zähnen in meiner Haut zu spüren.
Stattdessen fühlte ich etwas Feuchtes, das angenehm kühl war. Ich öffnete zögernd die Augen. Wie erwartet saß er neben mir, doch er fuhr nur mit einem angefeuchteten Tuch von meinem Handgelenk aus über meinen Arm, um das getrocknete Blut zu entfernen.
Ich starrte ihn sprachlos an. Ich hatte mir auf dem Weg hierher viele mögliche Situationen ausgemalt, doch diese war nicht annähernd dabei gewesen. Gleichzeitig versuchte ich mich daran zu erinnern, mit was ich eigentlich gerechnet hatte. Doch es wollte mir nicht mehr einfallen. Meine Gedanken schienen ein Eigenleben entwickelt zu haben. Wenn ich sie greifen und festhalten wollte, lösten sie sich in Luft auf. Aber es schien ein gutes Zeichen zu sein, dass der Mann neben mir das Blut von meinem Arm wusch.
Er erwiderte meinen Blick und hob einen Mundwinkel. „Verrätst du mir vielleicht jetzt deinen Namen?"
„Liv", antwortete ich langsam, innerlich auf der Suche nach dem Rest meines Namens. Meine Augen wurden schwerer. Ich hatte das starke Bedürfnis, mich in das Sofa zu kuscheln und zu schlafen. Aber davor sollte ich noch vollständig antworten. „Liv...iana. Mein Name ist ... Liviana."
Mein Gegenüber lächelte. „Evan", erwiderte er und legte das Tuch beiseite.
Dann fielen mir die Augen zu.
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