2.
Kurze Info: Ich habe beim letzten Mal vergessen, hinzuschreiben, dass Kapitel 1 (und dementsprechend die folgenden ebenfalls) fünf Tage vor dem Prolog spielt. Wir befinden uns zeitlich also vor dem Prolog - behaltet das im Hinterkopf, sonst wirds gleich verwirrend ;).
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„Es wird schwierig", sagte ich. „Die Zukunft ist ein sehr schwer einzuschätzendes Gebiet. Manchmal trifft meine Vorhersage ein, manchmal nicht."
Der junge Mann vor mir runzelte die Stirn. Als er mein Zelt betreten hatte, hatte mich bereits ein mulmiges Gefühl beschlichen, doch ich hatte es auf meine letzte Mahlzeit geschoben. Bei Lindas Pasteten wusste man nie, ob sie irgendwelche Zaubertränke hineingekippt hatte, um ein neues Rezept auszuprobieren.
Dass es nicht daran liegen konnte, wurde mir erst klar, als mein Besucher sich mir mit unergründlicher Miene gegenübergesetzt hatte. Normalerweise waren meine Kunden nervös, mit zittrigen Gesten und umherhuschenden Blicken. Leicht zu durchschauen und noch leichter über den Tisch zu ziehen. Aber der hier war anders.
„Aber Ihr seid doch Liviana, die Wahrsagerin?" Er wartete, bis ich leicht nickte, ohne mich aus den Augen zu lassen. Oder auch nur zu blinzeln. „Mir wurde gesagt, Ihr wärt in der Lage, einen Einblick in die Zukunft zu geben. Wenn Ihr jene Liviana seid – was Ihr gerade bestätigt habt –, müsst Ihr mir auch eine Vorhersage geben können."
„Ganz so einfach ist es nicht", widersprach ich. In Momenten wie diesen verfluchte ich mein jüngeres Ich, sich für diesen Einkommensweg entschieden zu haben. Warum war ich nicht einfach eine Bedienstete im Schwarzen Stein geworden? Irgendwelchen Betrunkenen Getränke auszuschenken wäre zumindest weniger riskant als das hier. So, wie der Kerl aussah, wäre es nicht verwunderlich, wenn er von den Wächtern geschickt worden wäre. Dabei waren wir letzten Schnüffler doch erst vor ein paar Tagen losgeworden. „Ich kann nur konkrete Fragen beantworten – und auch das nur mit ja oder nein. Aber selbst dann ist nicht sicher, ob es am Ende eintreffen wird. Es gibt zu viele Dinge, die die Zukunft beeinflussen, wenn Ihr versteht."
Mein Gegenüber starrte mich weiterhin an. Derart intensiv, dass ich mich zu fragen begann, ob er womöglich mit offenen Augen eingeschlafen war oder es auf anderem Wege geschafft hatte, seinen Geist an einen weit entfernten Ort zu verfrachten. Ich rutschte auf meinen Stuhl hin und her, während ich aus den Augenwinkeln die Entfernung zum Ausgang abzuschätzen versuchte. Prinzipiell könnte ich in wenigen Schritten dort sein, mit etwas Glück so schnell, dass er nicht rechtzeitig reagieren konnte. Wenn er wirklich von den Wächtern geschickt worden war, musste ich die anderen warnen. Oder noch besser – mich aus dem Staub machen, solange es ging. Im schlimmsten Fall waren die Wächter längst auf dem Weg hierher. In dieser Situation war die einzig richtige Entscheidung, mich selbst in Sicherheit zu bringen, während die anderen sie gezwungenermaßen ablenkten. Um Linda würde es mir leid tun, aber sie würde sicher jemanden finden, der ihr half. Hauptsache, sie erwischten mich nicht.
Kurz bevor ich aufspringen wollte, blinzelte der junge Mann endlich. „Eine konkrete Frage also."
Ich lockerte meine angespannten Muskeln ein wenig und bemühte mich um ein Lächeln. „Ja. Aber auch nur eine auf einmal, sonst funktioniert es nicht."
Er nickte knapp, lehnte sich ein wenig nach vorn und wischte über einen Fleck auf dem Tisch. Es war das erste Mal, seit er das Zelt betreten hatte, dass er den Blick von mir nahm, und ich atmete innerlich auf. Meine Anspannung verflog nicht vollständig, doch sie löste sich zumindest so weit, dass ich meine verschränkten Finger voneinander lösen konnte. „Werden sie mich erwischen?"
Wobei?, hätte ich beinahe gefragt. Und wer bei allen Göttern waren sie? Mein mulmiges Gefühl kehrte zurück, doppelt so stark wie zuvor. Normalerweise stellten meine Kunden andere Fragen. Werde ich ihn heiraten? Wird sie ihren Ehemann für mich verlassen? Werden sich meine Befürchtungen bestätigen? Werde ich mit dieser Entscheidung glücklich werden?
Fragen, die sich leicht beantworten ließen. Man musste nicht in die Zukunft sehen können, um die Antworten zu finden. Bei den meisten genügte ein Blick in ihr erwartungsvolles oder ängstliches Gesicht, ein genaues Hinhören auf ihren Tonfall. Sie wussten bereits, wie meine Antwort lauten würde, tief in ihrem Inneren und verrieten es mir im selben Atemzug, in dem sie ihre Frage stellten. Wenn ich mich genug konzentrierte, spürte ich, ob Wahrheit oder Lüge hinter ihren Worten steckte. Ich hatte mich auch auf die Frage dieses Mannes konzentriert – und die Antwort, die mir mein Gefühl übermittelte, behagte mir nicht.
Es war eine Lüge. Er war davon überzeugt, dass sie – wer auch immer das war – ihn nicht erwischen würden.
„Nein", erwiderte ich zögernd. Eigentlich hätte ich es begrüßt, was hier gerade vorging. Ich gehörte schließlich ebenfalls zu jenen, die nicht erwischt werden wollten, zumindest wenn es um die Wächter ging. Ich konnte nicht sagen, auf wen er sich bezog. Noch weniger sogar, um was es dabei ging. Vielleicht gehörte er doch zu meinen üblichen Kunden und hatte eine Affäre mit einer verheirateten Frau, bei der er nicht erwischt werden wollte. Oder es ging um etwas vollkommen Banales. Den Diebstahl eines wertlosen Schmuckstücks etwa. Es bestand kein Grund zur Beunruhigung, und doch konnte ich einen Anflug von Furcht nicht unterdrücken, als ein Grinsen über seine Lippen huschte. Es war zu schnell, um seinen Hintergrund erkennen zu können, doch die Art, wie er dabei die Augenlider senkte, hatte etwas Unangenehmes an sich.
Noch unheimlicher war nur das charmante Lächeln, das er mir einen Moment später zuwarf. „Danke", sagte er, erhob sich und verließ ohne ein weiteres Wort mein Zelt.
Ich blieb wie gelähmt sitzen. Er schuldete mir noch meinen Lohn, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, aufzustehen und ihm zu folgen. Dafür war ich zu froh, ihn so schnell losgeworden zu sein. Ich wollte nicht noch mehr Zeit mit ihm verbringen. Aus welchem Grund auch immer mein Gefühl der Ansicht war, mich lieber von ihm fernzuhalten.
„Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen."
Beinahe wäre ich mitsamt meinem Stuhl umgekippt. „Raphael", murmelte ich und atmete tief ein, in der Hoffnung, mich beruhigen zu können. Jetzt hatte der Fremde es auch noch geschafft, mich so schreckhaft zu machen, dass ich selbst bei Raphael zusammenfuhr. Dabei hatte ich mich längst an sein unvermitteltes Auftauchen gewöhnt. Wenn er wollte, konnte er sich lautlos bis auf eine Handbreit entfernt an jemanden heranschleichen. Wie er das anstellte, blieb sein Geheimnis.
„Womöglich habe ich das tatsächlich", antwortete ich.
Raphaels linke Augenbraue zuckte nach oben, während er auf mich zukam. Er warf einen vielsagenden Blick zurück zum Zelteingang und ließ sich auf den freien Stuhl fallen. „Der Kerl, der hier eben rausspaziert ist? Der sah harmlos aus, wenn du mich fragst."
Dann hatte er ihn zumindest auch gesehen. Gut – das sprach dafür, dass es sich nicht doch um einen Geist gehandelt hatte, der mich heimsuchte. „Ich weiß, dass er harmlos aussah."
„Aber?"
Ich schwieg. Raphael etwas von einem komischen Gefühl zu erzählen, erschien mir wenig sinnvoll. Er gehörte nicht zu den Männern, für die Emotionen eine nennenswerte Rolle spielten. Abgesehen von Angst vielleicht. Das war das einzige Gefühl, in dem er einen echten Nutzen sah.
„Stell dich nicht so an, Livi", sagte Raphael und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Wenn du etwas über den Kerl weißt, spucks aus."
Ich sah zu, wie er die Beine ausstreckte und kurzerhand auf dem Tisch zwischen uns platzierte. Er wusste, dass ich es hasste, wenn er mich so nannte. Was vermutlich auch der Hauptgrund war, warum er es überhaupt tat. „Ich weiß gar nichts über ihn. Er kam mir einfach merkwürdig vor."
„Merkwürdig", wiederholte Raphael gedehnt und beugte sich interessiert vor. „Soll das heißen, er ist ein Schnüffler? Falls ja, schicke ich meine Leute sofort hinter ihm her. Der letzte hat uns schon genug Ärger bereitet."
„Nein. Ich glaube nicht, dass er zu den Wächtern gehört", antwortete ich. Einen Moment lang hatte ich tatsächlich darüber nachgedacht, das Gegenteil zu behaupten. Wenn Raphaels Untergebene sich um den Fremden kümmern würden, würde er mir definitiv keine Probleme mehr machen. Aber das erschien mir dann doch zu selbstsüchtig. Schließlich konnte ich nicht wissen, ob meine Sorge berechtigt war. Vielleicht wirkte er schlicht etwas unheimlich, war aber in Wirklichkeit ein liebevoller Vater, der Waisenkinder bei sich aufnahm.
„Na dann nicht." Raphaels Blick blieb an der Kristallkugel neben seinen Füßen hängen. Bevor ich es verhindern konnte, griff er danach und begann sie in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen. Ich bereute es, sie nicht rechtzeitig aus seiner Reichweite gebracht zu haben. Man konnte damit nicht wirklich in die Zukunft sehen – so etwas gab es selbst hier auf dem Schwarzmarkt nicht -, doch sie war mit einer Reihe von Zaubern versehen, die ich selbst noch nicht völlig entschlüsselt hatte. Mir genügte es, sie für einige kunstvolle Effekte bei meinen Kunden zu benutzen. Außerdem diente sie mir als Lampe in der Nacht – und war verdammt schwer zu beschaffen gewesen.
„Weißt du, warum ich hier bin, Livi?"
„Um dir die Zukunft vorhersagen zu lassen?", riet ich. Die Kugel flog in einem hohen Bogen über Raphaels Kopf und wäre beinahe auf dem Boden zersprungen, wenn er nicht rechtzeitig die Hand ausgestreckt hätte.
„Mach dich nicht lächerlich", knurrte er. „Ich bin nicht so dämlich zu glauben, dass du wirklich die Zukunft kennst. Deine Kunden kannst du meinetwegen betrügen, aber nicht mich."
Ich zuckte zusammen. Und betete, dass er es nicht bemerkt hatte. Ich widerstand dem Drang, mir die Kugel zurückzuholen, und hielt den Blick sorgsam auf den Tisch gerichtet. Im Profil seines rechten Stiefels glitzerte etwas. Vermutlich Glasscherben vom letzten Stand, den er dem Erdboden gleich gemacht hatte. „Hältst du mich für leichtsinnig genug, ausgerechnet dich zu betrügen?"
Die Stiefel bewegten sich, verließen den Tisch und wurden von zwei Händen ersetzt. Raphael war aufgestanden, stützte sich auf dem Tisch ab und beugte sich dicht zu mir herunter. „Nein, ich hatte dich als klüger eingeschätzt. Aber dir ist offenbar entgangen, dass du mit den Zahlungen längst im Verzug bist. Stichtag war vor zwei Wochen, Livi."
Verdammt. Ich hatte gehofft, dass er es nicht merken würde, obwohl ich wusste, wie verrückt das war. Auf dem Schwarzmarkt erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand einiges über Raphael. Nicht selten ging das Gerücht um, dass erneut jemand verschwunden war, der seinen Tribut an ihn nicht zahlen konnte.
Mein Mund wurde trocken und ich rutschte ein Stück tiefer. Ich hätte es wissen müssen. Niemand schaffte es, Raphael hereinzulegen. „Ich ... ich kann das nachholen", stammelte ich. „Beim nächsten Mal zahle ich dreimal so viel, ehrlich! Ich brauche nur etwas Zeit, um ..."
„Um mehr zu besorgen?", fuhr er an meiner Stelle fort. „Glaub mir, du bist nicht die Erste, die das behauptet. Aber du wärst die Erste, die es schaffen würde." Er richtete sich wieder auf und musterte mich langsam. „Es wäre schade um dich, Livi. Mir würden ein paar Wege einfallen, wie du deine Schulden dennoch begleichen kannst."
Ich sprang auf, als er einen Schritt um den Tisch herum machen wollte. „Das ist nicht nötig, wirklich nicht! Ich habe sonst immer pünktlich gezahlt, Raphael. Gib mir nur noch diese eine Chance, bitte!"
Raphael zögerte. Ich sah ihm an, dass er eigentlich etwas anderes im Sinn hatte. Es gab mit Sicherheit Wege, auf denen er deutlich mehr Gewinn mit mir machen konnte als die wenigen Abgaben, die ich wie jeder auf dem Schwarzmarkt an ihn zahlte. Er hatte jede Möglichkeit, diese Wege einzuschlagen, ohne von irgendjemandem zur Rechenschaft gezogen zu werden. Aber das war nicht Raphaels Stil. Er würde sich holen, was ihm seiner Meinung nach zustand, ja – doch zuvor würde er noch den gnädigen Richter spielen.
„Du hast drei Tage", verkündete er schließlich. „Keine Stunde länger."
Er bedachte mich mit einem Blick, der deutlich machte, wie sehr er davon überzeugt war, dass ich es in drei Tagen unmöglich schaffen würde, und wandte sich von mir ab. Am Eingang des Zeltes hielt er inne, drehte den Kopf leicht in meine Richtung. „Ach ja, eines noch. Komm nicht auf den Gedanken, abzuhauen. Das würde dir nicht gut bekommen."
„Würde ich nie tun", murmelte ich noch, während die Plane bereits hinter ihm zufiel. Die Kristallkugel hatte er achtlos am Eingang fallengelassen. Ich ging nach vorne, um sie aufzuheben, sank jedoch stattdessen neben sie, weil meine Beine nachgaben. Das ist das Ende, dachte ich wie betäubt. Es war extrem schwierig, genügend Geld für den monatlichen Tribut aufzutreiben. Innerhalb von drei Tagen die dreifache Menge zu finden war Wahnsinn. Unmöglich, selbst wenn ich mein Glück als Diebin versuchen würde. Ich würde scheitern. Raphael würde zurückkommen und mich holen, um ... was auch immer mit mir zu tun. Man hörte nie mehr etwas von jenen, die er mitgenommen hatte.
An eine Flucht war nicht zu denken. Raphaels Leute würden mich Tag und Nacht im Auge behalten, davon war ich überzeugt. Selbst wenn ich es schaffen würde, ihnen zu entkommen - wohin sollte ich mich wenden? Ich hatte mir in dieser Stadt ein Leben aufgebaut, wenn auch kein besonders gutes. Zurück in meine alte Heimat konnte ich nicht, und die umliegenden Dörfer erschienen mir nicht sicher genug.
Jetzt wünschte ich mir mit aller Kraft, der unheimliche Fremde wäre in Wirklichkeit ein Schnüffler und würde jeden Augenblick mit einem Aufgebot der Wächter zurückkehren. Wenn sie dabei Raphael dingfest machten, würde ich sogar mit meiner eigenen Festnahme leben können. Ich könnte Glück haben. Wenn sie so sehr auf Raphael und den Rest seiner Leute konzentriert waren, würden sie nicht sonderlich auf mich achten und mich nach einer Verwarnung wieder gehen lassen. Es wäre die perfekte Lösung. Dumm nur, dass sie vollkommen unrealistisch war.
Ich musste einen anderen Weg finden. Irgendetwas, das mich aus diesem Schlamassel befreite. Mich selbst an die Wächter wenden und um ihren Schutz bitten? Ausgeschlossen. Sie würden alles wissen wollen. Mein jahrelanges Versteckspiel wäre für nichts und wieder nichts geschehen. Ich könnte mich verstecken. Doch auch das würde nicht lange gut gehen. Dafür müsste ich einen Ort kennen, an dem sie mich nie vermuten würden, und obendrein ungesehen dorthin gelangen. Beides Dinge, die ich nicht erfüllen konnte. Ebenso wenig konnte ich jemanden um Hilfe bitten. Jeder, den ich kannte, arbeitete selbst auf dem Schwarzmarkt und würde sich nicht gegen Raphael stellen. Und so viel Geld konnte mir erst recht niemand leihen.
Ich umklammerte die Kristallkugel fester, um das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Sollte es wirklich darauf hinauslaufen, dass ich die nächsten drei Tage damit verbrachte, mich auf die folgende Zukunft vorzubereiten? Untätig herumzusitzen, weil ich nicht sofort eine Lösung sah? Das konnte es nicht sein. Es gab immer einen Ausweg, eine schmale Nische, durch die ich entkommen konnte. Ich musste sie nur finden.
Und der erste Schritt bestand darin, aufzustehen und dieses Zelt zu verlassen.
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