1.

Fünf Tage zuvor

„Das musst du dir ansehen!", murmelte Skadi ehrfürchtig. Sie hatte es sich in den vergangenen Wochen zum Morgenritual gemacht, auf dem schmalen Fensterbrett ihres Zimmers zu balancieren und nach draußen zu sehen. Ein Bein aufgestützt, das andere locker in den Raum hängend. Tag für Tag hatte sie hier gesessen, egal wie müde sie eigentlich war. Manchmal war sie zu spät aufgewacht, an anderen Tagen hingen dicke Wolken über der Stadt und nahmen ihr die Sicht. Doch heute schien sie Glück zu haben. Als die Sonne sich gemächlich über den Horizont erhob, war es als würde die Zeit still stehen. Ihr Licht verwandelte den Fluss in glitzerndes Gold, ergriff nach und nach die Häuser im östlichen Viertel, bahnte sich seinen Weg durch die schmalen Gassen, wurde von den farbenfrohen Glasscheiben im Nordviertel zurückgeworfen, und vertrieb die Düsternis aus dem Anblick der Wächterburg.

Ja, für dieses Ereignis hatte sich Skadis Geduld bezahlt gemacht. Es würde lange dauern, bis die wärmenden Strahlen auch sie erreichen würden, doch das störte sie nicht. Es hatte durchaus seine Vorteile, ganz im Westen von Brient zu leben, im obersten Stockwerk eines alten Wachturms. Von hier aus hatte sie einen Blick über die gesamte Stadt – das glich selbst die beschränkte Größe ihres Zimmers aus.

„Ich meine es ernst, Magnus", sagte sie. „Du verpasst das Beste. Wie oft hat man hier schon die Gelegenheit, den Sonnenaufgang ohne Wolken am Himmel zu beobachten?"

Sie erhielt keine Antwort. An einem anderen Tag hätte sie sich umgedreht, um zu überprüfen, ob Magnus überhaupt noch da war. Aber heute wollte sie den Blick keinen Wimpernschlag lang von der Stadt unter sich nehmen. Der Sonnenaufgang war wunderschön, doch insgeheim wartete Skadi auf etwas anderes. Heute war der perfekte Tag für diesen Moment. Den würde sie mit Sicherheit nicht verpassen, weil Magnus zu faul war, zu ihr zu kommen.

Ein Rascheln ertönte. Einen Augenblick später sprang etwas auf ihren Schuh, krallte sich in ihre Hose, kletterte an ihrem Bein nach oben und ließ sich auf ihrem Schoß nieder. Skadi grinste, als die schwarze Ratte ihr einen vorwurfsvollen Blick zuwarf. „Ich falle schon nicht herunter. Und du musste zugeben, dass die Aussicht von hier aus fantastisch ist."

Magnus schüttelte den Kopf und presste sich fester an sie. Skadi vermutete, dass er Höhenangst hatte und es ihr immer noch übel nahm, sich für dieses Zimmer entschieden zu haben. Noch mehr verübelte er es ihr, dass sie sorglos auf diesem Brett saß, gut 100 Fuß über dem Boden. Sie müsste sich nur erschrecken, den Halt verlieren und geradewegs in den Tod stürzen. Seiner Meinung nach zumindest. Skadi konnte die Gelegenheiten, an denen Magnus direkt mit ihr kommuniziert hatte, an drei Fingern abzählen. Das erste Mal, als sie sich kennengelernt hatten. Zweitens, als er beschlossen hatte, bei ihr zu bleiben. Das letzte Mal, um ihr mitzuteilen, für wie leichtsinnig und gefährlich er ihr Verhalten hielt. Magnus' Sorge rührte sie, doch hier kam sie ihr etwas übertrieben vor. Sollte sie tatsächlich den Halt verlieren, konnte sie sich immer noch an den Fensterläden festhalten.

Bis die aus ihrer morschen Halterung brachen.

Magnus verdrehte die Augen und überlegte offensichtlich, ob er nicht lieber zurück auf sicheren Boden kehren sollte – für den Fall, dass Skadi gleich aus dem Fenster stürzte, während er noch auf ihr saß. Skadi streichelte ihn beruhigend, bevor sie den Blick wieder auf die Stadt richtete. Es konnte nicht mehr lange dauern. Jeden Moment mussten sie ... Da! Von dem mittleren Turm der Wächterburg erhob sich eine einzelne Gestalt in die Lüfte. Sie flog in einer geraden Linie nach oben und wechselte dann zu einem ausladenden Kreis über der Burg. Kurz danach folgten weitere Wächter, in perfekter Formation. Sie folgten anmutig ihrem Anführer und verteilten sich übereinander in der Luft, bis die Kreise, die sie flogen, eine abwärts gerichtete Spirale bildeten. Skadi hielt den Atem an, als immer mehr Wächter sich in die Spirale einreihten, sie schließlich langsam aufbrachen und sich zu einer großen Gruppe zusammenfanden. Sie verharrten in dieser Position. Ein schwarzer Fleck, der inmitten des blauen Himmels über der Wächterburg schwebte. Sie warteten. Dann traf ein Sonnenstrahl auf einen gewölbten Spiegel am Fuß der Burg und wurde in Richtung der Gruppe geworfen. Als er sie traf, zersplitterte die Formation in alle Himmelsrichtungen. Die Wächter verließen die Burg, auf dem Weg in die Stadt, um dort ihrer Bestimmung zu folgen.

Skadis Blick folgte den letzten von ihnen, bis auch sie im morgendlichen Chaos untergegangen waren. Es war das erste Mal, dass sie eine solche Vorführung beobachten konnte – bis dahin war sie entweder nicht zur richtigen Zeit da gewesen oder die Wächter hatten sich dafür entschieden, normal den Tag zu beginnen. Sie war nicht sicher, welchem Zweck das Kunststück überhaupt diente. Vielleicht war es eine Art Training, eine Tradition, schlichtweg etwas Spaß, oder es sollte eine Erinnerung an die Bevölkerung sein, dass die Wächter da waren. In jedem Fall war es atemberaubend, ihnen dabei zuzusehen. Skadi war noch nie einem Wächter näher als ein halbes Dutzend Schritte gekommen – und hatte es auch nicht in Zukunft vor – doch manchmal fragte sie sich, wie es wohl wäre. Ob sie die schwarzen Federn genauso seidig weich anfühlten, wie sie es sich vorstellte. Und wie es wäre, zu fliegen. Sie selbst würde nie fliegen können, aber wenn sie aus dem Fenster fiele, während gerade ein Wächter in der Nähe war ...

Ein scharfer Schmerz fuhr durch ihren Daumen. Sie zuckte zusammen, verlagerte unwillkürlich ihr Gewicht und verlor den Halt. Der Fall kam überraschend – beinahe so stark wie der Aufprall danach. Skadi landete hart auf der Schulter, nur eine Armeslänge von ihrem Bett entfernt, und stieß einen leisen Schmerzenslaut aus. Magnus tippelte aus sicherer Entfernung auf sie zu. Wussten die Götter, wie er rechtzeitig von ihr heruntergekommen war.

„Verdammt, Magnus! Was sollte das denn?", fluchte Skadi. Als sie sich vorsichtig aufrichtete, begann ihre Schulter schmerzhaft zu pochen, dicht gefolgt von ihrer Hüfte, die als zweite auf dem Boden aufgetroffen war. Nicht zu vergessen ihr Daumen. Dort, wo Magnus sie gebissen hatte, bildete sich ein dunkler Blutstropfen. „Willst du doch, dass ich den nächsten Tag nicht mehr erlebe?"

Magnus legte den Kopf schief und rümpfte die Nase.

„Mir ist sehr wohl etwas passiert", sagte Skadi. „Den Sturz werde ich noch tagelang spüren."

Gut so, schien Magnus' zufriedener Blick zu sagen. Er begann in grotesker Weise auf und ab zu hüpfen, als würde er über heiße Kohlen laufen, und sich dabei im Kreis zu bewegen. Dann blieb er mitten in der Bewegung stehen, blinzelte Skadi mit großen Augen an – und kippte in einer ausladenden Bewegung um.

Skadi versuchte vergeblich, ernst zu bleiben. Sie nahm es Magnus wirklich übel, sie gebissen zu haben. Aber es war beinahe unmöglich, für längere Zeit auf ihn wütend zu sein. Vor allem dann, wenn er alles daran setzte, sie zum Lachen zu bringen. „So verhalte ich mich ganz sicher nicht", murmelte sie kichernd. „Du stellst das völlig übertrieben da."

Magnus war wieder auf die Füße gekommen und fuhr in seiner hüpfenden Darstellung der Wächter fort. Diesmal nicht mehr in Kreisen, sondern in einer Schlängellinie, die sich auf Skadi zubewegte. Kurz vor ihr stoppte er, richtete sich auf den Hinterbeinen auf und hob huldvoll die Nase.

„Du solltest dich nicht über sie lustig machen. Immerhin haben wir es ihnen zu verdanken, in Frieden und Sicherheit leben zu können." Obwohl Skadi ihre Worte ernst meinte, schaffte sie es nicht, die beabsichtigte Strenge in ihre Stimme zu legen. Stattdessen klang es eher nach dem Tonfall, den Magnus jetzt wohl an den Tag legen würde, wenn er sprechen könnte: Die überspitzte Darstellung eines Wächters, der versuchte für Ordnung zu sorgen. Er traf den überheblichen Blick mancher Wächter einfach zu gut.

Dabei teilte Skadi Magnus' schlechte Einstellung gegenüber den Wächtern nicht einmal. Sie war froh, die Wächter Tag für Tag in der Nähe zu wissen und darauf zählen zu können, dass sie begangenes Unrecht strafen und Unruhen in der Stadt verhindern würden. Solange sie sich dabei nur weit genug von ihr fernhielten. Dass Magnus in dieser Hinsicht etwas übereifrig war, wusste Skadi mittlerweile aus mehreren Erlebnissen. Sie dazu zu bringen, vom Fensterbrett zu fallen, zählte ab jetzt dazu. Skadi fragte sich oft, warum Magnus ein solches Misstrauen gegen die Wächter hegte. Er antwortete nie darauf, und inzwischen hatte sie das Fragen aufgegeben. Wenn er es ihr irgendwann mitteilen wollte, würde er es von sich aus tun – doch bis dahin musste er damit leben, dass sie sich nicht ganz so konsequent von den Wächtern fernhalten würde. Sie beim Fliegen zu beobachten, barg Skadis Ansicht nach keinerlei Gefahr.

Auch wenn Magnus das offenbar anders sah.

***

Als Skadi ihr Zimmer verließ, waren die meisten anderen Bewohner des Turms längst verschwunden. Sie hatte in den vergangenen Monaten nur wenige Male einen von ihnen zu Gesicht bekommen, doch im Laufe der Zeit lernte sie dennoch ihre Gewohnheiten kennen. Die Wände waren dünn, und auch wenn man nichts sah, hörte man doch so einiges; die Türen ließen sich nur mit viel Geduld leise schließen und die Bodendielen knarrten an so vielen Stellen, dass Skadi es inzwischen aufgegeben hatte, sie vermeiden zu wollen. Um wirklich einschätzen zu können, wer gerade das Haus verlassen oder betreten hatte, musste sie jedoch auf die Schritte auf der Treppe lauschen. Im Gegensatz zu den einzelnen Zimmern hatte sich nie jemand die Mühe gemacht, die alte Treppe zu reparieren. Es glich einem Balanceakt, von einer Etage in die nächste zu gelangen – etwa alle fünf Stufen war eine in der Mitte zerbrochen, auf dem mittleren Stück fehlten drei hintereinander und acht Stufen darüber waren nur noch zwei Schritt breit der Stufen am rechten Rand übriggeblieben. In der Anfangszeit hatte Skadi es nicht gewagt, die Treppe bei Nacht zu benutzen, voller Angst, im Dunkeln daneben zu treten und in den Abgrund zu stürzen.

Mittlerweile könnte sie die Treppe wohl mit geschlossenen Augen hinter sich bringen. Doch ihre Vorsicht überwog. Einmal war eine morsche Stufe direkt unter ihr eingebrochen, und sie hatte wenig Lust, dieses Erlebnis zu wiederholen.

Für eine Unterkunft im Westviertel war dieser Zustand grenzwertig. Skadis Eltern wären wahrscheinlich verrückt vor Sorge, wenn sie wüssten, wie sie lebte. Wäre es nicht die einzige bezahlbare Schlafmöglichkeit in diesem Viertel, hätte Skadi sie selbst in Anbetracht der atemberaubenden Aussicht lieber gegen eine andere ausgetauscht. Es war jeden Tag ungewiss, ob sie nicht auf der Treppe stürzten und sich alle Knochen brechen würde – aber dafür konnte sie ihren Eltern ruhigen Gewissens schreiben, dass sie nicht im ärmsten Stadtteil lebte. Und das war jedes Balancieren auf einem schmalen Grat wert.

Magnus kletterte auf ihre Schulter, kurz bevor sie den letzten Abschnitt heruntersprang, und gab ein missbilligendes Geräusch von sich.

„Du musst dich schon etwas genauer ausdrücken", murmelte Skadi. Sie eilte durch den düsteren Gang, wich dem tief liegendem Balken aus und machte einen Bogen um das Loch im Boden, bis sie die Tür erreichte und aufdrückte. Was ihn an diesem täglichen Ablauf mit einem Mal störte, konnte sie nur raten.

Für den Moment kümmerte es sie auch nicht weiter. Sie kannte Magnus gut genug, um zu wissen, dass er gelegentlich auch seine schlechten Tage hatte, an denen ihn selbst ein Windstoß reizen konnte. Skadi wusste, dass sein Ärger dann in den meisten Fällen nicht ihr galt; nur manchmal schien Magnus eine nahende Bedrohung vor ihr zu erkennen und machte sie darauf aufmerksam. In der Regel, in dem er sie anstupste. Aber der Biss am Morgen war ein deutliches Zeichen, heute einen seiner schlechten Tage erwischt zu haben. Es blieb zu hoffen, dass sich das nach dem Frühstück besserte.

Magnus' Antwort beschränkte sich darauf, den Kragen ihrer Jacke ein Stück beiseitezuschieben und sich darunter zu verkriechen.

Er verharrte dort, während Skadi bei dem Bäcker auf der anderen Straßenseite einen Laib Brot kaufte, und sich von dort auf den Weg nach Osten machte. Sein Gewicht auf ihrer Schulter hatte wie immer eine beruhigende Wirkung auf Skadi. Es tat gut zu spüren, dass er da war. Es gab ihr Sicherheit, deutlich mehr sogar als sie es bei ihrem Kennenlernen für möglich gehalten hatte. Jeder brauchte eine Bezugsperson. Jemanden, dem man sich anvertrauen konnte, egal wie schmutzig die eigenen Geheimnisse auch waren. Und in Skadis Fall war dieser jemand Magnus.

Es versprach ein sonniger Tag zu werden, und dementsprechend viele Wesen waren auf den Straßen unterwegs. Skadi hielt die Augen nach ungewöhnlichem Verhalten offen, nur für den Fall, dass sie schnell verschwinden musste. Normalerweise mied sie die Hauptstraße nach Osten. Zu viele Leute, eine zu große Gefahr, von jemandem versehentlich als Diebin bezichtigt zu werden, und ein zu hohes Risiko, in eine Kontrolle der Wächter zu geraten. Auch heute standen drei von ihnen im Schatten der Häuser. Sie hatten die Blicke aufmerksam auf die vorbeiziehende Menge gerichtet, jederzeit bereit, jemanden herauszuziehen und zu überprüfen. Skadi zwang sich dazu, ihren Blick kurz über die drei schweifen zu lassen, anstatt starr auf den Boden zu sehen. Sie ging keine fünf Fuß entfernt an ihnen vorbei, obwohl sie am liebsten bis an den anderen Straßenrand ausgewichen wäre. Ihr war klar, dass sie sich damit verdächtig verhalten würde, aber der Drang bestand dennoch. Im Augenblick hatte sie nichts zu verbergen. Aber das würde nicht lange so bleiben.

Skadi war schon an den Wächtern vorbei, als hinter ihr Unruhe ausbrach. Sie warf im Gehen einen Blick zurück, entdeckte, dass sich einer der Wächter aus dem Schatten gelöst hatte, und unterdrückte mühsam ihre auflodernde Panik. Er wollte mit Sicherheit nicht zu ihr. Jemand anderes hatte sich auffällig verhalten oder war ihm bereits bekannt. Sie sah erneut zurück, trotz des Risikos, damit aufzufallen – und stolperte vor Schreck über einen losen Stein vor sich. Der Wächter folgte ihr.

Nun, nicht zwingend ihr. Vielleicht auch dem Mann links vor ihr, der den Kopf zwischen den Schultern eingezogen hatte und ständig von einer Straßenseite zur anderen wechselte. Oder der Vampirin rechts von Skadi, die ganz offen einen Bogen auf dem Rücken trug.

Skadi hatte Mühe, ihre Schritte nicht zu beschleunigen. Ihre Gedanken rasten. In der Menge könnte sie ihn abhängen, wenn sie sich beeilte. Dafür müsste sie jedoch wissen, ob er es überhaupt auf sie abgesehen hatte. Wenn es nicht so war, würde sie durch die Flucht erst recht in sein Visier geraten. Sie könnte einfach weitergehen, aber dann würde er sie entweder einholen oder ihr bis zu ihrem Ziel folgen. Stehen bleiben war die letzte Möglichkeit. Es würde ihr die Chance zur Flucht nehmen, aber nur so konnte sie sicher wissen, ob er sie wollte oder ob sie es sich einbildete. Falls er tatsächlich zu ihr wollte, würde sie wohl oder übel damit leben müssen.

Bei einem Obststand bot sich die nächste Gelegenheit, aus dem Strom auszubrechen. Skadi schwenkte zur Seite, blieb vor dem Stand stehen und musterte vorgeblich voller Interesse die matschigen Früchte vor sich. Ihr Herz schlug laut und kraftvoll in ihren Ohren, während sie wartete. Der Wächter war nur wenige Schritte hinter ihr gewesen. Er müsste sie jeden Moment erreicht haben oder vorbeigehen.

Etwas berührte sie an der Schulter. Skadi fuhr zusammen, wirbelte herum – und fand sich Auge in Auge mit einem zierlichen Falken wieder. Der Vogel hatte sich auf einer der Zeltstangen des Standes niedergelassen und musterte sie mit schräg gelegtem Kopf. Magnus presste sich fester an sie und stieß ein warnendes Fauchen aus, als der Falke den Kopf zu seinen klauenartigen Füßen senkte und etwas von dem roten Band darum löste. Skadis Herzschlag beschleunigte sich weiter. Sie wusste, was nun kommen würde, und ein Teil von ihr wäre am liebsten auf dem Absatz umgedreht und hätte sich in der Menge aus dem Staub gemacht. Das winzige Stück Papier, das der Falke schließlich von dem Band löste, verwandelte sich binnen eines Wimpernschlags in einen handtellergroßen Brief, den er ihr entgegenstreckte. Beim letzten Mal hatte Skadi den Brief nicht einmal in Empfang genommen. Sie hatte den Falken mit seiner Botschaft ignoriert, ganz so als würde sie nicht offensichtlich ihr gelten, und war den halben Tag lang im Zickzack durch die Stadt gelaufen. Vergeblich. Er hatte sie damals gefunden, wieder und wieder, bis sie endlich den Brief angenommen hatte, und er würde es auch heute tun.

Skadi nahm den Brief zaudernd entgegen. Drei Wochen war es her, seit sie den letzten erhalten hatte. Beinahe hatte sie ihn schon aus ihren Gedanken verdrängt, davon überzeugt, dass man sie in Frieden lassen würde, wenn sie nichts tat. Doch dieser zweite Brief sprach eine andere Sprache: Sie hatten sie nicht vergessen.

Der Falke breitete die Flügel aus und flog so knapp über sie hinweg, dass Skadi den Kopf einziehen musste. Die anderen Wesen beachteten sie nicht, wunderten sich nicht einmal über den Falken. Wenn sie etwas besser aufgepasst hätten, wäre ihnen mit Sicherheit aufgefallen, wessen Bote hier unterwegs war, doch dafür waren sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Skadi sah ihm unwillkürlich nach. Einen Moment lang überlegte sie, was wohl passieren würde, wenn sie den Brief ungeöffnet zerriss und in der Pfütze vor sich ertränkte. Dann löste sich ihr Blick von dem Falken, glitt zurück in die Menge und traf auf einen anderen. Ein Schauer rann über ihren Körper und ohne sich bewusst dazu entschieden zu haben, ging sie zurück. Einen Schritt, zwei, drei, bis genug Leute zwischen ihnen waren, um sich gefahrlos umdrehen und in einer Gasse verschwinden zu können, so schnell ihre Füße sie trugen.

Der Wächter war nicht an ihr vorbeigegangen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top