Die Geisterfreundin Kapitel vier

Als ich aus der Ohnmacht aufwachte, war ich umringt von Gestalten. Sie beugten sich über mich oder flitzten an mir vorbei in eine Welt außer Sichtweite, unerreichbar für mich So kam es mir jedenfalls vor. Ich stöhnte. Ein brutaler Kopfschmerz erfasste mich. Vor meinen Augen fingen die Punkte an zu tanzen. Langsam hob ich meine Hand an den Kopf. „Können Sie mich hören?" Eine Stimme? Ich unterdrückte ein erneutes Stöhnen, mein Körper fühlte sich so schwer an, zu schwer. „Geben Sie mir ein Zeichen, wenn sie mich hören können!" Die Stimme war ganz nah, jedoch entglitt sie mir wieder. Wo war ich nur? „Geben Sie mir bitte irgendein Zeichen, wenn sie mich hören können!" Da war sie wieder, diese inzwischen nachdrückliche Stimme, ganz nah und doch weit weg.
Ich sollte ein Zeichen geben? Langsam versuchte ich zu blinzeln. Reichte das vielleicht schon? Licht. Ich öffnete langsam meine Augen. Erst eines, dann das andere. Einen kleinen Schlitz nur und der Schmerz kam so schnell, dass ich gar nicht richtig reagieren konnte. Er schoss in mich wie ein Blitz. Instinktiv schloss ich schnell die Augen wieder. Mein Kopf fühlte sich so schwer an und er brummte auch noch. Wie in einem Bienenkorb, der überbevölkert war. Hoffentlich war nichts schlimmes passiert! Sorge. Eine Hand legte sich auf meine. Ich zuckte zurück. „Keine Angst. Ich bin hier um zu helfen", sagte die Stimme von vorhin. Langsam hörte ich auch andere Geräusche und mir wurde bewusst, wo ich mich befinden musste.
In der Schule, auf dem Flur.
Verschwommene Bilder tauchen auf. Ich sah mich auf dem Weg in die Krankenstation. Kurz musste ich überlegen. Warum war ich auf den Weg dorthin gewesen? Doch, ja. Mir fiel das verletzte Mädchen wieder ein .Ihr wollte ich helfen und deswegen war ich dahin gelaufen. Nur, warum ich jetzt auf dem Boden saß und diese schlimmen Schmerzen hatte, daran erinnerte ich mich nicht. Doch ich würde es bestimmt herausfinden.
Langsam traute ich mich wieder meine Augen zu öffnen. Vor mir hatte sich ein Arzt von der Krankenstation auf den Boden gesetzt. Seine Hand ruhte auf meiner. Daneben standen noch zwei ähnliche Gestalten, die ich aber aus irgendeinem Grund nicht erkennen konnte. „Wie fühlen Sie sich?" Ich erkannte die Stimme. Das war die Stimme, die ich die ganze Zeit gehört hatte. Sie gehörte dem Arzt, dessen Gesicht ich jetzt auch erkannte. Er saß direkt vor mir. Langsam schaute ich ihm in die Augen. Ich fand es seltsam. Seine Stimme passte nicht zu dem restlichen Körper. Er war schlank und hatte Sommersprossen im Gesicht. Seine Haare hingen strähnig herunter. Zusammen mit seinem Arztkittel, auf dem das Schild mit seinem Namen nach unten gedreht fest gemacht war, und seinem nicht so ganz existierenden Lächeln, weil er das aufgesetzt hatte, sah er eher eingefallen und müde aus als frisch und munter. Bei genauerem Hinsehen fielen mir seine Augenringe auf. Er musste die Nacht nicht gut geschlafen haben. Auch ein  brauner Fleck auf seinem weißen Arzthemd fiel mir auf. Ich schloss daraus, dass er es wahrscheinlich heute morgen eilig gehabt haben musste. Wie sonst wäre sonst der Fleck da hingekommen?

Natürlich konnte ich es nicht mit Sicherheit sagen. Ich konnte ja nicht in seinen Kopf gucken. Also konnte ich nur Vermutungen anstellen und selbst die wären weit hergeholt, wenn ich so darüber nachdachte. Doch warum dachte ich eigentlich überhaupt darüber nach? Ich schüttelte langsam meinen Kopf, um aus der Starre zu erwachen, betreute es aber sofort, da eine weitere Schmerzwelle mich ergriff. Erschreckt sackte ich wieder zusammen.
Woher kamen nur diese Schmerzen? Warum war alles so seltsam? Der Arzt hörte nicht auf mich anzuschauen. Er musterte mich. Das machte mich ganz nervös. Was war bloß mit meinem Gesicht? „Haben Sie irgendwo Schmerzen?" Ich starrte ihn an, klappte den Mund auf und wieder zu. Ich stand immer noch unter Schock. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass mein ganzer Körper Schmerz war, aber irgendwie hinderte mich mein Schock daran.
Doch er verstand auch ohne Worte und zog eine Ampulle aus der Tasche. „Hier nehmen Sie. Die helfen gegen den Schock." Er gab mir die Dose. Die Wärme seiner Hand streifte mich und war eben so schnell weg, wie sie gekommen war. Vorsichtig betrachtete ich die Ampulle. Sie wirkte harmlos, wie sie da so in meiner Hand lag, harmlos und kalt, zu kalt. Ich schluckte, überwand dieses komische Gefühl in meinem Magen und schmiss mir die weißen Kügelchen ein. Sie schmeckten nach nichts. Doch sie halfen. Der Schock verschwand ein bisschen und ich fühlte mich etwas besser. „Danke", brachte ich flüsternd heraus.
Der Arzt nickte nur und wartete. Ich konnte ihn immer noch nicht richtig erkennen.
„Mein Kopf tut weh." Meine eigene Stimme klang fremd in meinen Ohren, als ich dem Arzt meinen Zustand schilderte. Er streckte mir seine Hand entgegen und zog mich vorsichtig hoch. Kurz fixierte ich mich sofort auf das umgedrehte Namensschild. Fiel das ihm nicht auf? Das Schild fiel doch gleich runter!
Der Arzt setzte mich auf eine Liege und mein Blick löste sich endlich von dem Schild. Ich wusste gar nicht, wie lange ich es angestarrt hatte. War das peinlich! Ich schaute auf meine Füße. „Entschuldigung!" Der Arzt, der wie ich dem Schild entnommen hatte, Bernhard Brunner hieß, sagte nichts, sondern untersuchte mich nur weiter. Hatte er mich überhaupt gehört?
Gerade wollte ich wieder den Mund aufmachen, um mich nochmals zu entschuldigen, da zog jemand anders meine Aufmerksamkeit auf sich. Fabian. Mein Freund Fabian Gärtner setzte sich neben mich. „Hallo Fabian." Meine Stimme war leise und tonlos. Fabian schaute mich nicht an, er sagte nichts, er rutschte nur näher an mich heran und legte seine behandschuhte Hand auf meine. Nur eine kleine Geste, aber immerhin.
"Wie geht es dir?" Ich erschauderte, als er mich das fragte. Ich antwortete aber nicht darauf. Was hätte ich denn auch antworten sollen? Vielleicht „könnte besser sein" oder „es geht schon wieder" die richtigen Antworten, doch ich schwieg. Ich sagte gar nichts. Starrte nur auf seine Hand. In meinem  Kopf war es zu laut, um einen klaren Gedanken zu fassen.
"Sie wird bald wieder", antwortete stattdessen Doktor Brunner für mich, wofür ich ihm dankbar war und Fabian anscheinend auch, denn er sagte statt einmal sogar dreimal „Danke, wenn wir sie nicht hätten, Doktor." Hörte ich jedenfalls ihn sagen, doch seine Stimme war aus unergründlichen Gründen noch weit weg. Er saß zwar neben mir, seine Hand hatte sich auch nicht bewegt und doch war er so weit weg. Es ärgerte mich. Ich hörte alles nur dumpf, wie als hätte man mir Ohrenstöpsel verpasst, wie als hätte die Welt entschieden mich aus ihrem alltäglichen Leben auszuschließen und mich in unbestimmter Zeit wieder Teil werden zu lassen.
Langsam bewegte ich meinen Kopf. Die Schmerzen waren zu spüren, aber sie schränkten mich nicht mehr ein. Gut, jetzt musste ich nur noch raus kriegen, ob ich verletzt war. Langsam bewegte ich meine Beine und Arme. Nichts. Ein gutes Zeichen. Meine Umgebung nahm ich zwar immer noch verschwommen wahr, aber das war auch nicht weiter dramatisch, damit konnte ich fürs erste leben. Langsam rutschte ich zur Kante der Liege. „Doktor?" Meine kratzende Stimme erschreckte mich zuerst, doch ich räusperte mich und fing nochmal an: „Doktor, ich hätte da mal eine Frage." Die Augen von Fabian waren auf mich gerichtet, doch Doktor Brunner war damit beschäftigt seine Sachen einzupacken und brummte nur ein „Hm?" als Zeichen, dass er zuhörte. 

„Wo ist das andere Mädchen?" Doktor Brunner unterbrach sein geschäftiges Sachengepacke plötzlich. „Welches andere Mädchen?", fragte er verdutzt. Ich seufzte. Auch das noch. Wieso konnte er das Mädchen nicht gesehen haben?
"Also, da war ein verletztes Mädchen. Sie hat geblutet und ich hatte sie im Arm, da ich ihr helfen wollte", erklärte ich es so gut es ging. Doch der Gesichtsausdruck des Arztes wollte sich nicht ändern. Er schaute so verdutzt drein, als hätte ich ihm erzählt, ich wäre Speedy Conzales und wäre nur aus Versehen gegen die Wand gerannt.
„Und ich möchte jetzt wissen, wo dieses Mädchen ist. Und da Sie Arzt sind, könnten Sie mir es doch sagen, oder?" Ich drücke meine Finger zusammen und sagte weiter: „Denn sie blutet sehr stark. Sie muss wahrscheinlich mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht und versorgt werden!"
Zu meiner Überraschung schüttelte der Arzt langsam den Kopf. „Es tut mir leid Ihnen das sagen zu müssen Miss, aber Sie waren allein, als Sie auf dem Boden gefunden wurden." Ich erstarrte. Ich war allein gewesen? Nein, das konnte doch gar nicht sein! Das Mädchen hätte neben mir liegen müssen. Sie hatte so starke Verletzungen gehabt, dass sie nur schwer damit hätte laufen können. Aber als ich in das Gesicht des Arztes sah, musste ich schlucken. Die nächste Frage wollte ich gar nicht stellen. „Sind Sie sich da sicher?" Ein ohrenbetäubendes Klingeln verschluckte seine Antwort und er zog sein Telefon aus der Tasche. „Ich bin mir ganz sicher. Sie waren alleine, als man Sie auffand." Er nahm den Anruf an und ließ mich kurz mit meinem Gedankensturm allein. Dieser kurze Moment fühlte sich wie eiskaltes Wasser an. Gedanken prasselten auf mich ein und ich konnte sie nicht stoppen.
Wo um alles in der Welt war das verletzte Mädchen? Wie konnte es sein, dass keiner sie anscheinend gesehen hatte außer ich?

Der Regen prasselte auf das Pflaster, als ich den Schulhof wieder betrat. Ich beobachtete, wie die Tropfen in den Boden hinein sickerten. Der Himmel färbte den Boden dunkel. Auch die Natur konnte also solche Farben malen. Auch sie konnte traurig sein und weinen. Zum zweiten Mal an diesen Tag durchquerte ich einen Regenschauer. Durchweg tropfte von der Kapuze meines Pullovers Wasser auf meine Nase. Die Menschen, die an mir vorbei liefen, nahm ich nur schemenhaft wahr. Sie machten einfach ihr Ding. Ich stellte mich fröstelnd unter das Dach des alten Spielzugschuppens und lehnte mich gegen die Wand.
Der Film, den der Regen erschuf, zog an mir vorbei. Kurz war ich gewillt die Augen zu schließen, doch ich ließ es bleiben, sperrte sie weit auf und schaute dem Film zu. Es war unwirklich, aber auf eine Weise entspannte mich dieses Bild. Ich lauschte auch den Geräuschen. Des Platschen der Tropfen auf den Boden, das Prasseln auf dem Dach und ich an der Wand wurden zu einem Moment. Auf einmal bewegte sich die Welt langsamer, bedächtiger, als ob jemand die Stopptaste gedrückt hätte.
Meine Gedanken drifteten ab. Ich dachte an Ria. Was würde sie wohl jetzt sagen? Wahrscheinlich würde sie den Regen genauso genießen. Ich seufzte. Es schmerzte immer noch und ich wusste, das würde es immer. Wie oft hätte ich sie in so einer Situation angerufen, wenn sie krank war und es verpasst hätte. Hätte gesagt: „Hey ich muss dir etwas erzählen!" Und hätte ihr von mein verrückten Tag berichtet. Wie oft? Fast jeden Tag. Und sie hätte gelacht und gesagt: „Dein Leben wird nie ruhig." Und hätte sich dann erkundigt, wie es mir denn damit ginge. So war es immer zumindest immer gewesen.
Ich legte den Kopf nach hinten. Das Wort „gewesen" schmerzte, es schmerzte zu sehr.
Der Regen ließ nach und ich konnte nicht weit weg von mir ein Straßenschild ausmachen. Auf dem Schild stand mit Graffiti geschrieben „I am lonely without my person." Kurz entschlossen durchsuchte ich mein Rucksack, schritt auf das Schild zu und schrieb mit einem Stift auf ein Blatt „Me too." Diese klebte ich unter den Schriftzug auf das Schild darunter, schulterte meine Tasche und ging.

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