Die Geisterfreundin Kapitel eins

Die Seite meines Tagebuch war schon nass, als ich die ersten Wörter schrieb. Nass vor lauter Tränen, denn ich weinte schon die ganze Zeit, ohne die wirkliche Zeit zu kennen. Ich wusste nur, dass es mitten in der Nacht war. Ich wollte nicht auf die Uhr gucken. Ich hatte zwar am nächsten Morgen Schule, aber trotzdem wollte ich noch nicht schlafen. Ich konnte es nicht, ich musste schreiben.
Meine Tränen trockneten langsam. Ich schluchzte nur noch ein wenig. Doch trotzdem musste ich den Eintrag beenden, sonst war es nicht raus. Als ich das letzte Wort geschrieben hatte,  legte ich den Bleistift weg. Mein Kopf war leer, endlich.
Das Tagebuch klappte ich zu, strich kurz darüber, stopfte es dann unter mein Kopfkissen und legte meinen Kopf darauf. Mein Kopf war leer, endlich!
Ich starrte zunächst an die Decke, schloss nach einer Weile die Augen, bereitete mich vor endlich zu schlafen und in meine Traumwelt abzuschweifen. Doch gerade als ich am eindösen  war, kamen sie wieder, diese Gedanken an Rias Tod und die Sachen, die unmittelbar danach passiert waren. Die Sachen kamen wieder und bevor ich etwas tun konnte, glitt ich mit ihnen auch schon in den Schlaf, träumte schon wieder einen Scheiß und verfluchte diese Tage wieder und wieder.

Irgend jemand rüttelte mich. Ich fuhr kerzengrade in die Höhe. Es war meine Mutter.  „Sila, bist du in Ordnung?" Meine Mutter schaute mich besorgt an. Ich atmete erleichtert aus und sank wieder zurück auf mein Kissen. Es war nur meine Mutter.  Da ich nicht antwortete, sondern nur schwer atmete, legte meine Mutter ihre Hand auf meinen Arm. Ihre Miene war immer noch besorgt. „Sila, Schatz, du hast geschrien", versuchte meine Mutter es erneut. Ich nickte stumm. Das fehlte mir noch. Hatte ich wirklich geschrien? Ich wusste, dass ich im Traum geschrien hatte, aber auch in echt? Ich schaute meine Mutter an. „Scheiße, ich muss irgendwas sagen, sag doch irgendwas!", schrie ich mich selbst in Gedanken an. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte. Also musste ich wohl oder übel lügen. 
„Es ist alles gut, Mama. Ich bin in Ordnung", presste ich heraus. Meine eigene Stimme klang überraschend klar und deutlich, obwohl mein Hals staubtrocken war. Ich räusperte mich ein wenig.  „Es war nur ein Alptraum, ich hole mir gleich was zu trinken und leg mich wieder hin", brachte ich den letzten Teil des Satzes mit Mühe und Not auch noch raus.

Meine Mutter schaute mich lange an. „Du schreist oft bei deinen Alpträumen, Schatz", fing sie wieder an.
Ich nickte. Ich wusste das ja schließlich sehr genau selbst. Aber wenn ich ihr jetzt von diesem Traum erzählen würde, würde sie es nicht verstehen, das wusste ich auch. Wenn sie es verstehen könnte, würde sie nämlich sehen, dass ihre Sorgen berechtigt waren. Sie würde mich dann wieder zu dieser Therapeutin schicken, die mir dann wieder sagen würde, ich sollte meine Pillen schlucken gegen Schlafstörungen und mich nicht so reinsteigern. „Mein Gott, ich steigere mich da nicht rein!", schrie ich dann immer und rannte raus. Wirklich jedes Mal.
Sie verstanden es nie. Ich hatte die Therapeutin und meine Mutter sogar darüber reden gehört, mich in eine Psychiatrie zu schicken. Und das für sage und schreibe einen Monat!. Bei allem, was mir lieb ist, ich gehe da sicherlich nicht hin. Also lügen, lügen und lügen, damit sie ging. „Mama, ich hatte nur einen Alptraum. Alles halb so schlimm", versuchte ich es also nochmal und hoffte, dass sie es glaubte.
Ihre Augenbraue zog sich langsam hoch. „Ok Schatz", seufzte sie dann. „Ich hatte mir nur Sorgen gemacht." Ich nickte, war ja schließlich offensichtlich gewesen. Und ganz ehrlich, ich wusste auch nicht, wie ich sonst hätte reagieren sollen, und wie ich meine Mutter kannte, erwartete sie eine Reaktion.

Sie drehte sich lächelnd um und ging zur Tür zurück, nachdem ich genickt hatte, blieb dann aber stehen. „Schatz, hast du deine Medikamente genommen?" Aus ihrer Stimme war wieder Besorgnis herauszuhören.
Ich unterdrückte den gequälten Seufzer. „Ja, Mama, habe ich. Ich gehe gleich auch noch was trinken." Meine Mutter nickte und verließ das Zimmer. Ich wartete, bis sie in ihrem Zimmer verschwunden war, bevor ich mir meine Decke über den Kopf zog, anfing zu wimmern. Weinen konnte ich ja schließlich nur noch selten bis gar nicht. Ich sehnte mich nach Ria.
Ich tat sowas oft, sogar fast jeden Tag. Ich vermisste sie so. Doch auch jedes Mal packte mich das Gefühl, dass an ihrem Tod irgendwas nicht stimmte. Es konnte nicht stimmen. Alle dachten, dass es ein Selbstmord gewesen war. Alle außer mir natürlich. Ich dachte das nicht. Wie auch?

Meine beste Freundin war die selbstbewussteste Person, die ich kannte und auch je kennen würde. Sie hatte Spaß am Leben gehabt, war ausgelassen und zudem das komplette Gegenteil von mir gewesen. Währendessen ich schon, seitdem ich neun Jahre alt war, jeden Psychologen und jede Psychologin (gefühlt ausgedrückt) im nahen Umfeld abgeklappert hatte und somit viele Eindrücke gesammelt, war, was das betraf, Ria eher so die gewesen, die sich davon ferngehalten hatte. 
„Du kriegst mich nicht zu so einem Psychologen", hatte sie immer gesagt, als ich ihr das mehrfach wegen ihrer Eltern empfohlen hatte. Weil ich gedacht hatte, dass es ihr vielleicht mehr half als mir. Aber sie hatte das dann immer mit einer Hand von sich gewiesen, hatte gelacht und gesagt: „Ich glaube nicht, dass er mir helfen kann. Was soll ich denn da? Wenn ich was habe, dann wird Mom zur Psychologin und die reicht mir komplett." Und dann hatte sie immer noch hinterhergeschoben: „Und ich habe dich. Wenn ich mit dir zusammen bin, fühle ich mich wohl." Danach waren wir dann lachend Arm in Arm zum Auto gelaufen, in dem ihre
Mutter auf uns gewartet hatte, weil wir das ganze Wochenende zusammen verbracht hatten.
Natürlich nicht immer, aber meistens.

Ria hatte mich immer unterstützt. Selbst nach solchen Aussagen brachte sie mich dennoch manchmal zum Psychologen, holte mich auch manchmal ab, wenn wir Zeit zusammen verbrachten und uns verabredet hatten oder einfach so.
Im Prinzip waren wir fast immer zusammen gewesen und wenn wir es nicht in Person waren, dann über unsere Handys. Das war normal bei uns gewesen. Alles war ok gewesen und wenn es das nicht gewesen war, riefen wir uns gegenseitig an und erzählten uns unsere Probleme und hörten einander zu.
So war es immer gewesen. Seufzend schlug ich meine Decke weg und kroch aus dem Bett. Im Haus war alles still. Darauf achtgebend möglichst keine Geräusche zu machen und in Gedanken immer noch bei meiner Freundin, stieg ich meine Treppe runter. Die Treppe war wirklich meine eigene, da mein Zimmer fast auf dem Dachboden war. Ich schlich über den Flur im Obergeschoss nach unten. Unten war nur das dämmrige Licht unserer dreckigen Flurlampe, die einzige Beleuchtung, die mich begrüßte, als ich durch den Flur vorbei am dunklen Wohnzimmer in die Küche ging, um mir meine Medikamente reinzustopfen und Wasser zu trinken. Ich holte mir ein Wasser und meine Medikamente. Währendessen lief in meinem Kopf immer noch die Frage auf und ab, wieso hast du das getan? Ria, was war los mit dir? Und noch ganz schön viele andere Fragen. Bin ich daran schuld? Hätte ich helfen sollen, habe ich überhaupt geholfen? Ich seufzte, stellte das Glas in die Spüle und verließ die Küche.

Als ich meine Tür öffnete kam mir miauend unser kleines Fellbündel Maru entgegen. Der Kater rieb seinen Kopf an meinem Bein. „Maru, was machst du denn hier?" Ich ging vorsichtig in die Hocke und streichelte sein weiches schwarzrot geschecktes Fell. „Hattest du wieder Lust bei mir zu schlafen?" Maru schmiegte sich als Antwort an meine Hand und miaute. Ich gab natürlich nach, denn wenn es überhaupt ein Lebewesen schaffte, mich so oft zum nachgeben zu überreden, dann war es dieser Kater.
Er war uns vor ein paar Jahren zugelaufen. Auf seinem kaputten Halsband hatten wir nur seinen Namen erfahren. Die Adresse und wo er vorher hingehörte, hatten wir aber nicht herausgefunden, und so war der Kater bei uns eingezogen. Wenn mich irgendwer gefragt hätte, ich hätte es auf alle Fälle gewollt oder ich wollte, dass er nie wieder ging. Ich und dieser Kater hatten so eine enge Bindung, die konnte man nicht nehmen. Er schlief bei mir oft, wenn er zurück kam von seinen Ausflügen, und an manchen Tagen nahm er auch nur von mir Fressen an. Dann musste meine Mutter mich rufen, wenn er vor Hunger miaute. Er munterte mich aber auch auf und war mein stiller Freund, wenn ich einen brauchte. Kurz gesagt, dieser Kater war mein Seelentier.

Und dieses Seelentier sprang jetzt auf mein Bett und schaute mich vorwurfsvoll an, als wollte er sagen: „Kommst du jetzt endlich? Ich habe die ganze Zeit gewartet!" „Ist ja gut, ich komme ja schon." ich gähnte und machte die Tür zu. Ich war so müde. Vielleicht würde ich mit ihm an meiner Seite schlafen können. Ich strauchelte unbeholfen zum Bett. Maru machte ausnahmsweise mal einfach so Platz. Was ich gut fand, denn so musste ich ihn nicht wegschieben. Der Kater legte sich an die Wand und ich kroch unter meine Decke. „Gute Nacht, Maru. Hoffentlich haben wir beide einen besseren Schlaf", murmelte ich noch. Von Maru kam ein Maunzen.
Und so versuchte ich zum igsten Mal zu schlafen. Neben mir kuschelte sich mein Seelentier an mich und schlief. Doch ich lag mit geschlossenen Augen einfach nur da. Mein einzigster Gedanke, den ich hatte, als ich da so lag, war, was könnte Ria dazu bewogen haben sich umzubringen? Hatte jemand sie dazu angestiftet?

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