2. Der seltsame Mann

Das Ganze ist jetzt zwei Jahre her.

Ich habe meinen Vater seitdem nicht wiedergesehen und habe auch nicht vor, es jemals zu tun. Meinen fünfzehnten und sechzehnten Geburtstag habe ich auf der Straße verbracht. Ich habe drei Jobs, verdiene aber nicht wirklich genug Geld, um mir alles leisten zu können, weshalb ich in Midtown wohne. Es ist besser bekannt als das Viertel der Diebe. Wer hierher kommt, sollte auf seine Wertsachen aufpassen.

Auch ich bin zum Dieb geworden. Eigentlich hatte ich nie vor, zu stehlen, aber jetzt lasse ich häufiger mal etwas mitgehen. Sei es im Supermarkt oder auf der Straße. Ich bin sehr geschickt geworden, den Leuten ihre Geldbörse zu stehlen, ohne, dass sie etwas davon mitbekommen.

Das tue ich allerdings nur bei den Leuten, die etwas reicher aussehen und anscheinend genug Geld für teure Klamotten haben.

Bis jetzt wurde ich erst ein einziges Mal erwischt. Zum Glück bin ich so schnell gerannt, dass die Polizei mich nicht mehr erwischen konnte. Doch seitdem passe ich extrem auf, dass mir das nicht noch mal passiert.

Gerade sitze ich im Central Park und betrachte die Menschen um mich herum. Es wird bestimmt eine Person geben, die ich um ihren Geldbeutel erleichtern kann. Als ich mich dehne, tut mein Rücken etwas weh. Doch daran bin ich gewöhnt. Seit mein Vater mich dort mit seinem Gürtel erwischt hat, sind die Striemen nicht richtig verheilt und dementsprechend sind schmerzhafte Narben zurückgeblieben.

Mein Blick fällt auf einen Mann in einem dicken Ledermantel. Der Mantel sieht aus, als wäre er nicht ganz billig und der Mann selbst hat einen so gepflegten Bart, als käme er direkt vom Barbier.

Ich habe mein Opfer gefunden. Langsam lasse ich meinen Blick weiterschweifen, für den Fall, dass er gesehen haben sollte, wie ich ihn angeschaut habe.

Als er kurz stehen bleibt, um sich mit einer Frau im mittleren Alter zu unterhalten, gehe ich langsam auf ihn zu, den Blick auf den Boden gerichtet. Ich bemerke das Fahrrad zwar, welches auf mich zukommt, ignoriere es jedoch bis zum letzten Moment. Dann stoße ich einen erschrockenen Ruf aus und renne auf den Mann zu, um mich aus der Bahn zu bewegen. Ich passe es so ab, dass ich ‚versehentlich' in ihn hineintaumle und klaue ihm dabei die Geldbörse.

Ich tue erschrocken, während ich mich bei dem Mann entschuldige. Er lächelt mich nur freundlich an. „Kein Problem.", zwinkert er mir zu, bevor ich meinen Weg fortsetze.

Ich gehe noch bis zum großen Springbrunnen in der Mitte des Parks, bevor ich mich an dessen Rand setze und die Geldbörse herauskrame.

Als ich sie öffne, erwartet mich eine Überraschung. Sie ist voller Geld. So viel Geld habe ich noch nie gesehen. Hunderter Scheine, zweihunderter Scheine ... alles ist dabei.

Schnell hebt sich mein Blick. Auf halber Höhe erblicke ich säuberlich geputzte Schuhe und einen Mantel. Der Mann, den ich bestohlen habe, kommt auf mich zu.

Äußerlich ruhig stehe ich auf und wende mich ab, während ich mit großen Schritten auf den Ausgang des Parks zulaufe. Bloß keine Panik, denke ich mir, während ich mich aus dem Park herausmanövriere. Es ist noch nicht verloren. Noch kann ich in den dichten Menschenmengen in New York untertauchen. Mein Verfolger hätte dann nicht mehr die geringste Chance, mich zu erwischen.

Und um ganz sicher zu gehen, werde ich mit der U-Bahn zurück nach Midtown fahren und dort in einer dunklen Gasse unterkommen. Schnell mische ich mich unter die Menschen. Ich habe gelernt, wie ich ohne Probleme untertauchen kann und auch entgegenkommende Menschen bringen mich nicht durcheinander.

Eilig laufe ich eine Treppe hinunter, die zur nächsten U-Bahn führt. Ich kann die Schritte meines Verfolgers hinter mir ausmachen und lege deshalb noch einen Zahn zu.

Schon von weitem sehe ich, dass die U-Bahn am Losfahren ist. Ich beginne zu rennen. Meine Beine trommeln über den Beton und die Geräusche hallen von den Wänden wieder.

Ich sehe die halboffene Tür der U-Bahn vor mir und stoße mich mit aller Kraft vom Boden ab. Gerade noch so erreichen meine Hände den Türgriff, an dem ich mich hineinziehe. Die Tür hinter mir schließe ich, sobald ich drinnen bin.

Ich lasse mich auf den erstbesten freien Sitz fallen. Erleichtert strecke ich meine Beine aus, bevor ich ein paar Dollar aus meiner Tasche krame und mir eine Fahrkarte kaufe. Die Schaffner kontrollieren regelmäßig und für mich ist es wesentlich teurer, wenn ich Strafe zahlen muss, als mir eine Fahrkarte zu kaufen.

Es dauert seine Zeit, bis ich wieder genug zu Atem gekommen bin. Der Sprint war anstrengender, als zuerst gedacht und auch der wahnsinnige Sprung am Ende hatte seinen Tribut gefordert.

Als die U-Bahn in Midtown hält, bin ich der Erste, der ins Freie läuft. Froh darüber, der engen und stickigen U-Bahn entkommen zu sein, laufe ich die Treppe hoch in die Sonne New Yorks. Leise pfeifend mache ich mich auf den Weg zu meiner Gasse, in der ich die meiste Zeit unterkomme.

Ich biege um eine Ecke und freue mich schon auf den Kaffee, den ich mir nach diesem Erfolg gönnen werde. Das Geld wiegt schwer in meiner Hand und automatisch schleicht ein Lächeln auf mein Gesicht.

Doch es verschwindet, als ich die Stimme hinter mir höre. „Wärst du so freundlich und würdest mir mein Geld zurückgeben?"

872 Wörter

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