Die Verlorene

Siehst du das alte Herrenhaus dort vorne? Die Marmortreppe, die zu der gewaltigen Eingangstür führt?Nahâna hat für den Reichtum keinen Blick mehr übrig. Tränen kullern ihre Wangen hinab, so dass sie beinahe blind die Stufen der Marmortreppe hinunterrennt. Warum nur? Wieso ist es soweit gekommen?Ein Schluchzer schüttelt ihren Körper, doch sie bleibt nicht stehen. Die Kieselsteine drücken ein wenig unter ihren nackten Fußballen, doch Nahâna läuft immer zu. Weg. Ich will einfach nur weg! Möglichst weit weg von diesem Haus!

Nach einer Weile dringen Vogelgesänge an ihre Ohren. Der Geruch nach Wald und Frische lässt sie tief durchatmen. Nahâna bleibt stehen und wirft einen Blick über ihre Schulter. Das Herrenhaus ist noch gut zu erkennen, doch dahinter färbt sich der Himmel bereits golden. 

Wenn ich noch vor Sonnenuntergang die Grenze des Guts erreicht habe, bin ich in Sicherheit. Dann kann mir nichts mehr geschehen!

Eine weitere Träne fließt Nahânas Wange hinab, doch sie streicht sie mit einer energischen Handbewegung weg. Anschließend setzt sie sich wieder in Bewegung, den Blick fest auf den Wald vor sich gerichtet. Kaum, dass ihre Füße von weichem Gras und vertrockneten Blättern begrüßt werden, verlangsamt sich ihr Herzschlag. Geborgen- und Sicherheit hüllen Nahâna ein wie ihr grüner Mantel, den sie im Winter so gerne getragen hat.Das ist jetzt vorbei und zwar endgültig! Ich werde nie wieder in dieses Haus zurückkehren. Nie mehr!Nahâna biegt bei der Buche rechts ab und nach wenigen Schritten erreicht sie eine Lichtung. Ein Lächeln huscht über ihre Lippen und sie lässt sich ins weiche Gras fallen. Das Adrenalin verlässt ihren Körper und die erste Erschöpfung nimmt seinen Platz ein. Nahâna gähnt und schließt die Augen.Die Grenze des Guts liegt hinter mir. Vielleicht sollte ich mich etwas ausruhen, ehe ich weitergehe. Nahâna atmet tief durch und kuschelt sich ins Gras. Es dauert nicht lange, bis sie die Arme des Schlafes spürt, dessen Hände ihr Gesicht streicheln. Nahâna wehrt sich nicht."Wer ist das?""Was macht diese Frau nur ganz allein in unserem Wald?""Bist du blind, Schwester? Siehst du nicht das getrocknete Blut an ihren Schenkeln?"Ruckartig schlägt Nahâna die Augen auf. Drei junge Frauen, deutlich schlanker gebaut als sie, stehen ihr gegenüber und mustern sie. Sofort steht Nahâna auf. "Wer seid ihr?"Die schwarzhaarige Frau hebt ihre Hände. "Keine Angst. Wir tun dir nichts.""Wir sind die Wächterinnen dieses Waldes", entgegnet die silberhaarige Frau."Vielleicht hast du schon von uns gehört", flötet die blonde Frau.Wächterinnen des Waldes. Aber das ist unmöglich. Sie existieren nur in Geschichten!"Ihr ... Ihr seid Lyanas. Elfen, die sich dazu entschieden haben ihre Flügel und den Großteil ihrer Magie aufzugeben", wispert Nahâna."Richtig." Die blonde Lyana strahlt. Nahâna schüttelt den Kopf. "Wie ... Wie kann das sein? Ihr existiert nur in Geschichten und Sagen.""Schätzelein, ihr Menschen verpackt gerne phantastische Ereignisse in Geschichten", erwidert die schwarzhaarige Lyana. "Scheinbar ist dies die einzige Möglichkeit, wie euer Verstand diese Umstände aushalten kann, ohne zu zerbrechen."Nahâna schluckt. Ein Frösteln kriecht ihre Wirbelsäule hinab und ihre Beine zittern. Die silberhaarige Lyana schlägt sich mit der Hand auf die Stirn. "Oh, wie dumm von uns! Da reden wir mit dir, obwohl es dir offensichtlich nicht gut geht."Bevor Nahâna auch nur blinzeln kann, steht die Lyana schon neben ihr. Nahânas Muskeln spannen sich an. Ihr Herz schlägt schneller. "Ganz ruhig. Du hast nichts zu befürchten", flüstert die Lyana. Nahâna gibt keine Antwort, sondern starrt sie nur an. Die goldenen Augen, die so viel Wärme und Aufrichtigkeit ausstrahlen.Die Lyana streckt eine Hand nach mir aus. "Du kannst mir dein Schwert geben. Es ist alles gut."Mein Schwert?Wie in Zeitlupe senkt Nahâna den Blick auf ihre rechte Hand. Als sie den silbernen Knauf sieht, lässt sie das Schwert fallen, als hätte sie sich daran verbrannt. Ein Schrei entweicht ihr und die Tränen kehren zurück. Mit jeder einzelnen nimmt die Szene, die sie fliehen ließ, wieder Konturen vor ihrem inneren Auge an. Nahâna sinkt auf die Knie und weint hemmungslos. Etwas Warmes, Weiches berührt ihre Schulter."Meine Schwestern und ich bringen dich zu unserem Teich. Dort kannst du dich waschen und wir kümmern uns um dich, einverstanden?" Die sanfte Stimme dringt wie aus der Ferne zu Nahâna.Sie nickt."Gut. Mach dir keine Sorgen, du bist in Sicherheit."Dann wird Nahâna von Schwärze umarmt.Das sanfte Plätschern von Wasser ist das nächste, das an ihre Ohren dringt. Nahâna öffnet die Augen. Sie sitzt am Rand eines unterirdischen Beckens, in dem sie türkises Wasser begrüßt."Wo ... Wo bin ich?", krächzt sie."In Sicherheit", entgegnet jemand und da tritt die schwarzhaarige Lyana zu ihr. "Ist das euer Teich?"Die Lyana schüttelt den Kopf. "Dorthin wollten wir dich zuerst bringen, aber nach eingehender Begutachtung deines Zustands haben wir beschlossen, dich vielleicht doch besser zu den heißen Quellen zu bringen."Nahâna nickt. Sie atmet tief durch und steht auf. Ein leichtes Schwindelgefühl überkommt sie."Warte, warte." Die Lyana eilt zu ihr und nimmt ihre Hand. Sie führt Nahâna zur anderen Seite des Beckens, wo der Rand deutlich niedriger ist. "Geh es langsam an. Meine Schwestern kümmern sich schon um ein Essen für dich und frische Kleidung liegt ebenfalls schon bereit", sagt die Lyana."Danke", wispert Nahâna und taucht ihren rechten Fuß in das Becken. Die Wärme entlockt ihr einen wohligen Seufzer. Zitternd zieht sie ihr Hemd aus und lässt sich in das Wasser gleiten. Die Wärme empfängt sie wie eine freudige Umarmung. "Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Wenn du fertig bist, ruf einfach und wir bringen dir die frische Kleidung."Nahâna wendet sich der Lyana zu. "Wie soll ich denn rufen?"Ein Lächeln legt sich über die rosa Lippen ihres Gegenübers. "Ich heiße Lirima. Meine Schwestern heißen Iriva und Licura."Nahâna nickt. "Danke für alles, Lirima."Lirima lächelt noch einmal, dann dreht sie sich um und schwebt davon.Nahâna seufzt abermals. Erst da bemerkt sie die kleinen Schalen am Rand des Beckens. Sie nähert sich ihnen und blickt hinein. Ein Schwamm und ein Stück Seife liegen darin. Wie ferngesteuert nimmt Nahâna die Utensilien und wäscht sich.

"Ulivo, es ist soweit." Ihre eigene Stimme dringt wie durch Nebel zu ihr.

"Harivor, gib der Hebamme Bescheid."

"Sofort, mein Herr.""Ich gratuliere. Sie haben eine wundervolle Tochter geboren.""Du bist wunderschön.""Wie werdet Ihr sie nennen, Herrin?""Arià.""Ein schöner Name.""Ja, wahrlich wundervoll. Darf ich sie auch einmal halten, Liebste?""Natürlich, hier.""Hallo, mein Engelchen. Ich bin dein Vater.""Liebster, was ist los? Wieso hast du die Hebamme rausgeschickt?""Zeugen reden und das kann ich nicht gebrauchen.""Zeugen? Was hast du vor?""Mein großer Plan wird nun endlich in Erfüllung gehen. Dank unserer Tochter werde ich Trukota beschwören können und mich endlich von dem Fluch befreien.""Du kannst die Herrin der Dunkelheit nicht beschwören. Sie existiert nicht. Liebster, wenn es dir schlecht geht, dann bitte, sprich mit mir. Lass mich dir helfen.""Oh, du hast ja keine Ahnung. Keine Ahnung, wie sehr ich gezwungen wurde. Kein Vermächtnis sollst du haben, keine Arbeit dich zufriedenstellen. Kein Lob soll dir zuteil werden und kein Kind dir je vertrauen. Seit geraumer Zeit lastet dieser Fluch auf mir, doch ich gedenke, ihn nun zu brechen.""Du bist wahnsinnig geworden! Gib mir meine Tochter und zwar sofort!""Das würde mir im Traum nicht einfallen. Nicht, wenn sie der Schlüssel zu meiner Freiheit ist.""Zwing mich nicht!""Leg das Schwert wieder hin. Dafür bist du nicht stark genug.""Gib mir meine Tochter!""Nur über meine Leiche.""Herrin?"

Nahâna schüttelt den Kopf und die Erinerungen verwirbeln sich, bis sie sie nicht mehr sehen kann. Sie legt den Schwamm und die Seife zurück in die Schalen und atmet tief durch.

"Lirima!"

Sterne funkeln am Himmel, als Nahâna wieder im Wald sitzt. 

Lirima hat sich neben ihr auf dem weichen Gras niedergelassen und streicht ihr sanft über den Rücken. "Möchtest du darüber sprechen?"

Nahâna schüttelt den Kopf.

Sie nimmt ihr Schwert, das links von ihr liegt und streicht über den silbernen Knauf. Anschließend lässt sie sich ins Gras fallen, den Blick weiterhin stur gen Himmel gerichtet. "Du kannst bleiben, solange du möchtest", wispert Lirima. "Wir sind für dich da, was auch immer du brauchst."Nahâna nickt. Sie hebt das Schwert, so dass sie ihr linkes Augenlid mit dem Knauf berühren kann. Die Kühle des Metalls jagt einen Schauer ihren Rücken hinab, doch gleichzeitig weckt sie Nahânas Entschlossenheit.Mach dir keine Sorgen, Arià. Ich werde dich zurückholen, versprochen.

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