51 | Angst vor Schwänzen
Ein wenig fühlte sich die Welt wie früher an. Als wir oft nach der Schule gemeinsam nach Hause gelaufen sind und mein Traum, dass diese verfickte Stadt mir eines Tages zu Füßen liegen würde, noch fern war und trotzdem genauso machbar schien. Auch heute kamen wir an dem Gebäude vorbei, dessen grauer Putz unter mehr hässlichen Graffiti verschwand als damals.
Kurz dachte ich an den letzten Schultag in der Elften. Mir war klar gewesen, dass es das endlich war, dass die mich alle am Arsch lecken konnten mit ihren binomischen Formeln und Faust und was weiß ich. Da hatte ich mich nicht mal von Fede verabschiedet, obwohl ich gewusst hatte, dass wir einander nicht mehr sehen würden. Wir hatten kaum miteinander geredet. Ich viel zu oft weggeguckt, wenn er mal einen Blick in meine Richtung geworfen hatte.
Ich drehte meinen Kopf zu Fede und war auf einmal so scheiße erleichtert, dass er da neben mir war. Dass wir wieder Kontakt hatten, auch wenn unser erster Kuss alles seltsam gemacht hatte. Irgendwie war er mir all die Jahre wichtig gewesen, auch wenn ich das erfolgreich verdrängt hatte.
Skeptisch hob Fede eine Augenbraue. »Was guckst du so?«, grinste er. Wirkte nicht mehr eingeschnappt wegen vorhin. Wäre ja mehr als lächerlich.
»Ich guck gar nich«, beschwerte ich mich und rempelte ihn mit Absicht an, sodass er ins Taumeln geriet. Stieß gegen einen weißen Lieferwagen mit Blumenaufdruck. Mit Genugtuung registrierte ich, wie er einen Moment brauchte, um sich wieder zu fangen. Dass ich Fede mal besoffen sah, ey. Musste ich genießen.
Und irgendwie war das auch ziemlich süß. Wie fahrig seine Bewegungen waren und die Wangen ein wenig gerötet.
»Pass bloß auf«, lachte Fede und streckte seine Hand aus. Ehe ich mich versah, geriet ich ebenfalls ins Schwanken. Fand kein Gleichgewicht mehr und auf einmal war etwas Hartes in meinem Rücken.
»Du Wichser«, fuhr ich Fede an und packte ihn am Jackenärmel, riss ihn an mich ran. Das Ding hinter mir gab nach, ein lautes Poltern und dann wars das auch mit meinem Gleichgewicht. Freier Fall, ein Stechen in meinem Rücken und in meinem Ellenbogen. Der säuerliche Gestank nach Müll in meiner Nase, woher auch immer der kam.
Fede landete auf mir und war mir mit einem Mal ziemlich nah, seine Haare kitzelten mich an meinem Kinn, während sein Gewicht mich auf den nassen Asphalt drückte. Noch immer hielt ich seinen Arm gepackt.
»Gibt Leute, die pennen wollen! Ruhe da draußen!«, brüllte auf einmal eine weibliche Stimme.
Fede richtete sich ein wenig auf und sah zu den mehrstöckigen, eng aneinander gebauten Mietshäusern hoch. Auch ich entdeckte die schemenhafte Person, die wütend ihren Kopf schüttelte. »Tut uns leid! Ehrlich!«, rief er hoch und hob entschuldigend die Hände. Die Frau schlug schwungvoll das Fenster zu.
»Uns?«, grinste ich, während irgendwas Ekliges in meinem Nacken klebte. »Seit wann tut mir was leid?«
»Ja, Jay, du bist so cool«, spottete Fede. Mich beschäftigte dagegen die Frage, ob ich aufstehen sollte oder nicht. Aber das war so anstrengend. Viel zu viel Energie. Und irgendwie tat es gerade gut, hier zu liegen. Nicht stehen zu müssen.
»Ich weiß nicht, ob der Müll oder du angenehmer riechen«, grinste Fede und verzog das Gesicht. Und doch machte er keine Anstalten, sich wieder auf die Beine zu bringen. Blieb einfach auf mir liegen. Ich spürte sein Gewicht auf mir und genoss das Gefühl.
»Stehst doch drauf.« Ich verzog meine Lippen zu einem Grinsen und ließ meinen Blick über sein Gesicht schweifen. Weil es dunkel war, konnte ich nicht viel erkennen. Und auch, weil mein Blick immer wieder zur Seite wegsackte. Scheiße, war ich voll. War mir irgendwie gar nicht klar, wann das passiert war.
Leise lachte er, was mein Herz schneller schlagen ließ. »Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber ich habe keinen Kotzfetisch.«
»Schade.«
»Du etwa?«
»Hm.«
Fede lachte kopfschüttelnd. Vorsichtig legte ich einen Arm um ihn, zog ihn etwas näher an mich. Grinste leicht und bemerkte mit schneller werdendem Herzschlag das Lächeln auf seinem Gesicht. Mit unkoordinierten Bewegungen strich ich über seinen Rücken und dachte kurz darüber nach, ob ich ihn küssen sollte. Aber lieber nicht. Dafür war mir zu schlecht und ich fickte zwar auf Romantik, ihn vollkotzen musste aber nicht sein.
»Komm, lass weiter, das ist echt widerlich hier«, lachte er und brachte sich fahrig auf die Beine. Gähnte dann tief und fuhr sich durch die Haare, die durcheinander waren. Auch ich rappelte mich auf und sah ihm dabei zu, wie er eine der aufgeplatzten Mülltüten zurück in die Tonne warf.
»Du bis so'n Opfer, Alter«, sagte ich und musterte ihn. Tatsächlich räumte er die Scheiße weg und verschloss dann den Deckel. »Scheiß doch drauf. Weiß ja keiner, wer das war.«
Schließlich ließen wir die Mülltonne zurück und setzten uns wieder in Bewegung. Überquerten die Straße, vorbei an einer Spielhalle, die noch geöffnet hatte. Buntes Licht erhellte die dunkle Nacht, während ich meine klebrige Hand an meiner Jogginghose sauberwischte und dann kurzentschlossen nach Fedes Fingern griff. Ihn an mich zog.
Aber die Sache mit dem Gleichgewicht kickte schon wieder rein. Ich stolperte zur Seite, weil das mit dem Laufen irgendwie nicht so funktionierte. Ohne seine Hand loszulassen, fing ich mich, dann zog ich ihn an mich heran. Grinste ein wenig und suchte seinen Blick, während ich meine Finger auf seinen Rücken wandern ließ. Ihm näherkam, mich nach seinen rauen Lippen sehnte. Das Gefühl der Bartstoppeln an meiner Wange.
»Nichts da, hab das vorhin schon ernst gemeint«, sagte Fede und legte seine Hand auf meine Brust. Er hob die Augenbrauen und ich wusste genau, worauf er anspielte. Dass er kein Bock hatte, mich zu küssen. Wegen vorhin und der Ollen. Alter. Kindergarten einfach.
»Ja, okay, sorry.« Ich versuchte, ihn dennoch zu küssen, doch er zog seine Lippen weg. Arschloch.
»Das war die unernstgemeinteste Entschuldigung, die ich je gehört habe.« Ein wenig schüttelte er den Kopf, dann schob er mich ein Stück zurück und befreite sich aus meiner Berührung. Ich geriet wieder ins Stolpern und sah erst jetzt, dass er sich wieder in Bewegung gesetzt hatte.
»Ey, was wird'n das jetzt?«, fragte ich und taumelte ihm hinterher. Bemühte mich schneller zu werden, aber irgendwie schaffte ich es nicht, ihn einzuholen. Alter, was sollte das. Außerdem tat es weh, dass er mich nicht küssen wollte. Nachdem ich eben so darauf gehofft hatte.
»Ich bin müde, ich will pennen.« Fede warf mir einen Blick zu und wartete, bis ich zu ihm aufschloss. Hinter ihm befand sich ein bunt bespraytes Rolltor.
Dann halt nicht. Schulterzuckend lief ich neben ihm weiter. Bald die Treppen zur Unterführung runter, dann wieder hoch und da tauchte auch schon Fedes Block vor uns auf. Die Welt um uns herum lag noch in tiefer Dunkelheit, der Himmel nur erhellt von dem orangenen Großstadtsmog. Antennen und Satellitenschüsseln, die sich davor abzeichneten.
Kurz dachte ich daran, wie schön es wäre, würde ich ihn zu mir mitnehmen und wir würden aneinander angekuschelt einschlafen, aber Pech gehabt. Wenn er jetzt einen auf Diva machen wollte, dann bitte.
Auch wenn es sich scheiße anfühlte. Weil da diese Chance gewesen war und ich es durch mein Verhalten verkackt hatte. Doch diesen Gedanken schob ich schnell weg. Lag doch nur an dem Kokain. Boah, ich hasste Runterkommen. Man machte sich so verletzlich damit.
»Also hau rein«, verabschiedete sich Fede. Er sah ziemlich müde aus, die Haare hingen zerzaust in seine Stirn. Knapp nickte er mir zu und hob die Hand, ehe er mit der anderen in der Jackentasche nach seinem Schlüssel suchte. Fand ihn nicht, versuchte es in der Hosentasche. Seine Bewegung fast so fahrig wie es meine sein mussten.
»Wetten, spätestens morgen machen wir wieder rum«, grinste ich selbstüberzeugt und sah nur, wie Fede grinsend seinen Mittelfinger hob. Mit dem Schlüssel in der Hand steuerte er auf den Eingang zu. »Schlaf schön, Alter, und ich wette, du has'n feuchten Traum von unsren Küssn vorhin.«
»So gut warn die auch nicht«, rief er mir zu, gedämpft, um die Leute nicht zu wecken. Scheiß Schleimer.
»Schön. Ich weiß aber, dass du lügst.« Ich warf ihm einen selbstherrlichen Blick zu. Sicher hatte er mit dem Gedanken an mich schon gewichst.
»Nee. Echt nich.« Er grinste. »Weiße, als wir das letzte Mal bei meiner Familie in Italien waren, gabs da'n Typen, der sah echt gut aus. Wir haben uns auf so ner Feier am Strand getroffen, auf die mich mein Cousin mitgeschleppt hat, und wir haben ungelogen den ganzen Abend rumgemacht. Alter. Der konnte küssen.«
»Fick dich«, erwiderte ich und spuckte auf den Boden. Der brauchte mir gar nichts einreden, natürlich waren meine Küsse besser als von so einem dahergelaufenen Kerl. Aber fast ein bisschen süß wie Fede versuchte, damit zu provozieren.
»Gute Nacht, Jay.« Irgendwie hatte Fedes Lachen etwas Liebevolles. Oder bildete ich mir das nur ein? Keine Ahnung. Schon wieder fühlte sich mein Stand so verdammt unsicher an, einen Augenblick lang glaubte ich, mich im nassen Gras wiederzufinden.
Erschrocken fuhr Lexie in ihrem Metallbett mit den weißen Ranken hoch, als ich in ihr Zimmer gestolpert kam. »Wasn los?«, murmelte sie verwirrt. Fuhr sich verschlafen durch das Gesicht. Ihre Haut sah in dem wenigen Licht, das zum Fenster hereinfiel, blass aus.
»Nichts, will nur bei dir chilln«, erklärte ich und tastete nach dem Lichtschalter. Hä? Wo war das Scheißteil?
»Lass mal aus bitte.« Lexie bewegte ihre Hand auf ihren Nachttisch und im nächsten Moment flackerte die kleine Lampe auf, die dort stand. Ein warmes Licht verlieh dem Zimmer eine gemütliche Atmosphäre. An den Wänden hingen eine fette, schwarze Anarchoflagge, daneben ein altmodischer Spiegel
Ich steuerte auf ihr Bett zu und ließ mich dann hinein fallen. Endlich. Nicht mehr stehen und drohen, jeden Moment auf die Fresse zu fliegen. »Fuck, is mir schlecht«, brachte ich leise hervor und starrte an die Decke, an der ein feministisches Demobanner hing. Die Welt drehte sich rasend schnell, sodass die violetten Buchstaben vor meinen Augen verschwammen.
»Hey, Jay«, vernahm ich Lexies Stimme neben mir und fühlte, wie sie mich an der Schulter bewegte. »Trink was. Dann wird besser.« Ich fühlte glattes Plastik in meinen Fingern.
»Mhm.« Noch einen Moment brauchte ich, ehe ich mich langsam aufrichtete. Lexie hatte die Flasche bereits aufgedreht und ich musste sie nur noch an meine Lippen setzen, dennoch schaffte ich es, mich vollzukleckern. Das Wasser tat gut und ich spürte, wie sich meine Sicht ein wenig klarer anfühlte.
Ich drückte Lexie die Flasche zurück in die Hand. »Ey, is das mein Shirt?«, fragte ich skeptisch und musterte sie, wie sie in dem zu großen, grauen Shirt im Schneidersitz dasaß.
Sie drehte die Flasche wieder zu und nickte dann. »Is bequem«, grinste sie.
»Du has voll mein Shirt geklaut.« Lachend ließ ich mich zurück ins Bett sinken und zog ihre Decke mit dem Blümchenmuster über mich. Woher auch immer sie so eine kitschige Scheiße ausgegraben hatte.
»Du bis so voll.« Ein paar ihrer violetten Strähnen fielen ihr ins Gesicht, als sie ihren Kopf schüttelte. Auf ihrer Stirn waren noch Überbleibsel der frischen Farbe zu sehen.
»Mh«, machte ich, dann schwiegen wir ein paar Augenblicke lang. Ich strich mit dem Finger über die Blumen auf der Decke. Malte die einzelnen Linien nach und landete immer wieder woanders wie geplant. Alter.
Meine Gedanken wanderten zurück zu Fede und wie unglaublich gerne ich ihn nochmal geküsst hätte. Und mit ihm gekuschelt. Ich vermisste ihn. Ihn und seine Nähe. Und irgendwie konnte ich gar nicht einschätzen, was er mir gegenüber empfand. Es hatte sich angefühlt, als wäre das nur ein Spiel für ihn. Bisschen Spaß, mehr nicht.
»Was denks'n eigentlich von Schwulen und so?«, hörte ich mich da schon fragen.
»Hä?«
Ich drehte mich ein wenig und sah, wie Lexie ihre Augenbrauen etwas hochzog. In der rechten hatte sie eine Stelle ausrasiert. »Has' mich doch verstanden.«
»Ja, ich find' die Frage komisch. Als wäre ich eine von deinen homophoben Kackfreunden, die jetzt sagen: Äh, find ich total scheiße, is' ja voll unnatürlich, bla bla.« Wie immer war sie ungeschminkt und auf ihrer Wange konnte man ein paar Pickel sehen. Irgendwie lustig, dass es meine Schwester so gar nicht juckte. Sie war trotzdem selbstbewusster als die meisten der Ollen, die ihr Maul mit Make-up zukleisterten. Kein Wunder, sie war ja auch mit mir verwandt.
»Mhm.« Ihre Worte drangen zwar zu mir durch, aber wirklich Sinn machten sie nicht. Zumindest verstand ich nicht wirklich, was sie damit sagen wollte und verdammt, mir war genauso wenig klar, worum es mir hier gerade ging.
»Warum fragst du nicht, was ich von Heteros denk?«, fuhr Lexie fort und sah mich fragend an. Dann griff sie nach ihrem Kissen, das von ihren Haaren ein wenig lila verfärbt war. Machte es sich damit auf dem Bett gemütlich.
Meine Fresse, raffte sie eigentlich nicht, wie voll ich war und dass ich nicht checkte, was sie laberte?
Das hatte sogar ich verstanden.
»Mann, mir's schlecht«, murmelte ich und drehte mich auf den Bauch, sodass meine Schwester aus meinem Sichtfeld verschwand. Stattdessen tauchte ihr dunkellila Spannbetttuch auf, in dem ich meine Nase vergrub. Es roch frischer als mein eigenes, ein wenig nach Schrank.
»Weißt du, ist doch voll normal, also Homosexualität und so«, vernahm ich ihre Stimme. »Deswegen gibt's irgendwie auch nichts, was ich dazu denken muss. Dazu sollte man keine Meinung haben, außer es voll und ganz zu akzeptieren. Es macht doch keinen Unterschied, ob man jetzt Männer liebt oder Frauen.«
»Weiß ich doch«, presste ich hervor, weil das Umdrehen meinem Magen nicht gutgetan hatte. Mir musste sie das doch nicht erklären.
»Echt?«, fragte sie überrascht nach. »Als ob du nicht zu den Leuten gehörst, die sich über irgendwelche ‚Schwuchteln'«, wahrscheinlich malte sie gerade Anführungszeichen in die Luft, wie das immer alle Leute taten, die sich für besonders lustig hielten, »kaputtlachen.«
»Ja, klar.« Meine Stimme machte offensichtlich, für wie beschränkt ich sie wegen dieser Aussage hielt. Und irgendwie war da dieses komische Gefühl, dass ich erst nicht recht deuten konnte. Dann wurde es mir klar. Ich hatte mir gewünscht, dass sie längst von selbst gerafft hatte, dass ich auch auf Kerle stand. Warum auch immer.
»Sowas haben nur richtige Missgeburten nötig. Sich stark fühln, weil sie gegen Schwule schießn. Ja, wow, als ob das die männlich macht, habn die Angst vor Schwänzen oder was. Würde die alle kaputtboxn«, erklärte ich. Okay, klang bei meinem Pegel nicht so aggressiv wie geplant. Und irgendwie steckte ich da so viel Energie rein, dass mir schlecht wurde.
»Ja, bitte, mach das ... Ich hab nich gedacht, dass das noch passiert. Dass ich dir mal noch zustimm«, grinste Lexie. »Feier ich gerade. Kannst ja doch cool sein.« Sie lachte, doch es drang nur verzögert zu mir durch. Mein Magen grummelte unruhig.
»Fuck«, stöhnte ich gequält und rollte mich auf der Matratze zusammen. Alk war so eine beschissene Sache.
»Ach, Jay«, seufzte Lexie und legte mir eine Hand auf den Rücken, streichelte leicht darüber.
In diesem Moment fühlte sich das irgendwie gut an. Mir war warm, hier herrschte Geborgenheit und es war schön, dass Lexie hier war. Ihre Hand lag auf meinem Rücken, sanft streichelte sie mich. Ich umfasste das Kissen enger und zog es fest in meine Umarmung. Es fühlte sich gut an, wie Lexie meine Worte eben cool gefunden hatte und meine Ansicht dahingehend feierte. Fiel besser, als wenn Leute Schiss vor mir hatten.
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