39 | Zwei Flaschen Sterni
Als ich wieder neben Fede auf dem Bett saß, zog er den zerschlissenen Rucksack näher an sich heran und öffnete den Reißverschluss, der ein wenig klemmte. Erst beim zweiten erfüllte der seine Bestimmung. Fede beförderte zwei Flaschen Sterni hervor und hielt mir eine hin. »Bock?«, fragte er mit einem Grinsen auf den Lippen.
»Willst du jetzt mich abfüllen?«, grinste ich und nahm die Glasflasche entgegen. »Haben sich hier irgendwie die Rollen getauscht oder so?«
»Ich weiß ja nicht, wie schnell du besoffen bist, aber mit vier Bier wird das schwer. Außerdem hab ich keinen Absturz geplant, ich hab morgen Schule.«
»Das ist kein Argument gegen einen Absturz.«
»Doch, für mich schon«, widersprach er. Fand ich gar nicht so schlecht, ehrlich gesagt. Die letzten Tage hatte ich genug an Eskalation gehabt. Genug Lines, die ich gezogen hatte, und Mischen, die den Weg meinen Rachen hinabgefunden hatten.
»Endlich«, lachte ich, »endlich klingst du wie ein richtiger Streber.«
»Beruhigend wahrscheinlich, oder? ... Hey, krieg ich bitte dein Feuerzeug?«
Ich nahm ihm die Flasche ab und öffnete sie ihm, ehe ich mich an dem Kronkorken meiner eigenen zu schaffen machte. Ploppend landete der Verschluss auf dem Boden, wo er sich zu dem anderen Müll gesellte.
Mit einem Lächeln auf den Lippen hielt Fede mir sein Bier hin und wir sahen uns in die Augen, als wir miteinander anstießen. Ziemlich tief sogar und einen Moment länger, als es nötig gewesen wäre. Das breite Grinsen auf meinen Lippen konnte ich beim besten Willen nicht mehr verhindern, genauso die Wärme, die sich mit dem Bier um meinen Körper legte.
»Aber, Fede, über eine Sache müssen wir noch reden«, setzte ich an, nachdem ich den ersten Schluck aus der Flasche genommen hatte. Der herbe Geschmack blieb in meinem Gaumen zurück.
»Hmm? Doch über den Kuss?«, forderte er mich grinsend heraus und verdammt, ich hasste es so sehr, wie er immer wieder versuchte, mich zu provozieren. Er nahm sich so viel heraus, das ich anderen niemals durchgehen hätte lassen. Die hätten schon längst mein Messer zwischen ihren Rippen verspürt und im Krankenhaus um ihr Überleben gekämpft. Wenn sie Glück hatten.
Stattdessen schlug ich ihm nur mit geballter Faust in den Magen. Fest genug, dass er die Luft ruckartig zwischen seinen Zähnen einzog. Unsere Blicke trafen sich einen Moment, in meinem lag Ernsthaftigkeit, in seinem Belustigung. Dummer Wichser. Ich hasste es immer noch, dass ich ihm durch meine bescheuerte Aktion eine so unnötige Möglichkeit gegeben hatte, sich über mich lustig zu machen.
»Du hast ernsthaft kein Geschmack«, fuhr ich dann fort und mein Lachen klang recht unbekümmert. Nicht so, als würde ich mir noch immer den Kopf über unseren Kuss zerbrechen. »Bier, Alter. Wieso trinkt man das freiwillig?«
»Solltest du als guter Deutscher doch mögen.«
»Ich heiß Jonathan Meyer, Alter. Das reicht schon.«
Er lachte. »Nee, ich mag Bier eigentlich echt gerne. Also so vom Geschmack her. Die Wirkung von Alk ist mir trotzdem ein bisschen suspekt, also so die Idee von Besoffensein«, erzählte er.
Grinsend schüttelte ich den Kopf und wandte mich wieder dem Fernseher zu, wo gerade ein Typ abgeballert wurde. Blut spritzte. Wie konnte ich es am besten anstellen, Fede näherzukommen? Dass ihn einfach packen und küssen nicht unbedingt die beste Option war, hatte ich schmerzhaft genug gelernt. Vielleicht war es am besten, würde ich erstmal abwarten. Mein Handeln an die Situation anpassen.
Würde bestimmt irgendwie werden.
Ich beugte mich ein wenig nach hinten, um nach meiner Kippenschachtel zu greifen, die auf der Fensterbank lag. Aus der fast vollen Packung nahm ich eine heraus und schob sie mir zwischen die Lippen.
»Was ist'n damit passiert?«, fragte Fede grinsend und warf einen Blick auf die zerstörte Schranktür, die seit meinem Ausraster vor einer Woche nur halb in der Angel hing.
»Ich bin dafür, dass wir meiner Schwester die Schuld geben«, nuschelte ich mit der Zigarette zwischen den Lippen, während ich an dem Feuerzeug herumfummelte. Schön, dass das Teil ausgerechnet jetzt meinte, ein absoluter Hurensohn sein zu müssen. »Weißt schon, Linksextreme und Zerstörungswut ... und so.«
Er lachte. »Und du hast nichts damit zu tun?«
»Absolut nichts.« Das Feuerzeug brannte nicht. Scheiß Missgeburt. Schwungvoll schmiss ich es durch mein Zimmer, ehe ich mich erhob und ein anderes vom Schreibtisch nahm.
»Genauso wenig wie mit den Blutergüssen in deinem Gesicht, oder?«, lachte er. »Ich mein, du schaffst ja echt keine Woche, ohne dich zu prügeln.«
»Hä? Also das ist ja jetzt mal voll der Bullshit«, sagte ich mit ernstem Blick und setzte mich zu ihm.
Fuck, irgendwie liebte ich es, wie skeptisch er gucken konnte. Seine rechte Augenbraue wandte sich ein wenig nach oben. Im Gegensatz zu mir versuchte er auch nie sein Lachen zu unterdrücken, sondern es kam einfach nach draußen, lebhaft und ausgelassen. Sogar jetzt, wo er bedrückter als sonst wirkte.
»Ich schaff ja nicht mal zwei Tage«, grinste ich, während aus dem Fernseher Kampfgeräusche klangen. Sie vermischte sich mit dem Babygeschrei aus der angrenzenden Wohnung. Das war etwas, von dem ich nicht glaubte, dass es je aufhören würde. Meine Nachbarn waren eifrige Verfechter der Idee, im Jahrestakt ein neues krüppliges Baby zu auf die Welt zu setzen. Hinein in dieses Viertel, in dem es doch schon genug Existenzen ohne jegliche Perspektive und Hoffnung gab.
»Ja, gut.« Fede trank aus seinem Bier und sah auf den Fernseher. Für einen Moment zogen sich seine Augenbrauen zusammen, als würde er angestrengt über etwas nachdenken.
»Du hast vorhin gesagt, dass alles drunter und drüber ging. Was war los?«, fragte ich nach und ließ meinen Blick auf ihm ruhen.
»Oha«, lachte Fede. Überrascht hob er die Augenbrauen.
»Was'n?«, fuhr ich ihn an.
»Damit hab ich nicht gerechnet. Dass du nachfragst. Find ich aber schön«, sagte er.
»Erzähl«, forderte ich ihn auf, während seine Worte eine seltsame Wärme um mein Herz erzeugten. Eine, die ich am liebsten wieder vertrieben hätte, denn das war gar nicht gut.
Kurz schwieg er noch, als würde er nach dem richtigen Anfang suchen. »Naja, weißte ... es ist im Moment echt schwierig mit Leonardo. Ich komm gar nicht mehr an ihn ran, dabei war ich sonst immer derjenige, dem er alles vertraut hat. Er baut nur noch Scheiße, schwänzt ständig. Ist oft besoffen, auch unter der Woche. Ehrlich, ich hab keine Ahnung, wo das hinführen soll mit dem.«
Beim Reden sah Federico auf seine Bierflasche und strich über den rotweißen Aufkleber auf braunem Glas.
»Junge«, merkte ich an und hob grinsend die Augenbrauen, gefolgt von einem Kopfschütteln. »Das' doch normal in diesem Alter. Die Phase hat jeder. Das macht man halt durch, ging mir auch so.«
»Wow, ich fänd's ganz cool, wenn mein Bruder kein Dealer werden würde. Du bist nicht das perfekte Vorbild, Jay.«
»Dabei dachte ich, du findest es gut, dass ich Ehrgeiz hab und für meine Ziele kämpfe.«
Fede grinste ein wenig, in seinem Blick war Zustimmung zu erkennen. »Aber naja, auf jeden Fall hat vor ein paar Tagen die Polizei bei uns angerufen. Sie haben ihn erwischt, weil er bei MediaMarkt geklaut hat und dann versucht hat, dem Mitarbeiter aufs Maul zu hauen. Also der, der ihn erwischt hat und ins Büro bringen wollte. Ich mein, guck dir den mal an. Leonardo wär nie stark genug, jemanden ernsthaft wehzutun, ich kann mir das gar nicht vorstellen. Mamma war richtig enttäuscht. Also, als wir dann auf Polizeiwache waren. Jedenfalls ... sie hat fast keinen Wort gesagt und sah richtig traurig aus. Nicht wütend. Einfach nur traurig.«
Ich raffte echt nicht, dass er sich das so zu Herzen nahm. Ich würde mir nie Gedanken um das Leben meiner Schwester machen.
»Das gibt jetzt auf jeden Fall richtig Stress, weil's halt nicht das erste Mal war. Ich versteh nicht, warum er sich sein Leben so verbauen muss. Und trotzdem, die Bullen waren richtige Arschlöcher, ja?« Wütend ballte er seine Fäuste. »Die haben so richtig dumm getan, weil ich Mamma das übersetzen musste. Ja, wow. Ich würd' die gern mal sehen, wenn sie in einem fremden Land sind und nicht wissen, wie sie ihre Kinder durchkriegen, ob die dann noch so viel Zeit haben, die Sprache zu lernen. Zumal das 'ne emotionale Ausnahmesituation war. Normal versteht sie schon mehr. Ich war echt kurz davor, die richtig anzuschnauzen, aber meine Mutter würd' ja nie auffallen wollen. Bloß nichts falsch machen. Immer schön Respekt vor sämtlichen Autoritäten haben.« Mit einem genervten Aufstöhnen beendete er seine Rede. Ihn umgab eine aufgebrachte Ausstrahlung, vermischt mit kalter Wut, die in jedem Wort mitschwang.
»Sowas versteh ich eh nicht«, stimmte ich zu. »So ganz ehrlich, du trägst 'ne Uniform. Ja, schön für dich. Als müsste man jetzt automatisch Respekt haben.«
»Eben!« Fede atmete tief durch und sah auf seine Fäuste, ehe er sie wieder lockerte. Die Adern an seiner Handoberfläche traten deutlich hervor.
Fuck. Es machte mich wahnsinnig. Ich wollte unbedingt näher an ihn ranrutschen, ihn berühren, das Verlangen danach wurde mit jedem Wort, das seine Lippen verließ, mit jedem Moment, der verging, noch größer. Aber ich tat ... nichts. Weil ich es nicht wieder kaputt machen wollte und irgendwie spürte ich auch, dass er gerade viel zu durcheinander war, um mit mir rumzumachen. Oder zu vögeln. Oder sonst was.
»Weißt du«, fuhr er dann fort, »zuhause ist es richtig eskaliert. Mamma hat geweint, Leonardo ist ausgerastet, dann hat er rumgebrüllt, weil ja immer alle gegen ihn sind, und Alessia hat geflennt, und Papà war wütend, weil's ihm eh scheiße ging mit seinem Arbeitsunfall. Ich hab versucht, die zu beruhigen und dann waren alle gegen mich. Ja, so danke. Ganz ehrlich. Das ist so ein Drama mit denen. Manchmal würd ich einfach abhauen am liebsten, ganz ehrlich. Aber ich will meine Familie auch nicht im Stich lassen. Die brauchen mich ja.«
»Ich glaub, du bist der einzige von denen, der normal ist.« Ich grinste ein wenig und trank mein Bier leer, ehe ich nach Fedes Rucksack griff, um eine weitere Flasche herauszuholen. Er dagegen hatte noch immer ziemlich übrig. Wie beim Essen ließ er sich auch beim Trinken Zeit.
»Mamma macht alles auf jeden Fall noch schlimmer. Sie setzt Leonardo total unter Druck und vergleicht ihn mit mir. Mann, das regt mich so auf! Und tut mir auch weh. Ich will nicht, dass es meinem Bruder schlecht geht, weil ich daneben immer Erfolg hab und er dann das Gefühl kriegt, er ist so nicht gut genug. Ist er doch, definitiv! Leonardo ist perfekt so, wie er ist. Und es geht ja auch nicht um Schulnoten oder so, das ist eben nicht das Ding von jedem. Da strugglet er halt, wegen ADHS. Aber das ist doch Bullshit, dass die ganze Gesellschaft erwartet, dass jeder Mensch in den gleichen Sachen gut sein muss. Gott, ey, das regt mich alles so auf. Alle Menschen machen sich gegenseitig kaputt und keine Ahnung, ich bin eh auch nicht viel besser, aber ... Argh, ach, keine Ahnung. Lassen wir das.«
Fede nahm ein paar große Schlucke aus seinem Bier. Mit der freien Hand nestelte er an seinem Pulliärmel herum, der am Bändchen ein wenig zerschlissen war.
Mit nachdenklich gerunzelter Stirn sah ich ihn von der Seite her an. Ich fühlte all die Wut, die in ihm am Brodeln war, schließlich kannte ich sie selbst so unglaublich gut ... auch wenn sie bei mir ganz anders war. Doch sie war da, lag auch bei ihm greifbar in der Luft und für den Moment verband uns das miteinander.
»Also ich würd dir raten: Mach deinen Scheiß. Schau nach dir. Du kannst deinen Bruder nich' retten, der muss seine eigenen Erfahrungen machen.« Ich zögerte kurz. »Aber sag ihm das, was du gerade gesagt hast. Dass er perfekt so ist. Das muss er vielleicht einfach hören.«
Langsam nickte Fede, während ich beim besten Willen nicht verstand, was hier abging. Schließlich gab ich hier gerade anderen Menschen ernstgemeinte Ratschläge. Das stand auf der Liste der Sachen, die ich nie machen wollte, sehr weit oben. Mir bloß keine Mühe machen, um anderen zu helfen.
»Alter«, sagte Fede und seufzte. Auf seinen Lippen tauchte ein Grinsen auf, als er ein wenig ungläubig mit dem Kopf zu schütteln begann. »Es ist echt lang her, dass ich so viel über so Zeugs gelabert hab. So mit Bahar kann ich schon darüber reden, aber ich schluck sowas lieber runter.« Er zuckte mit den Schultern.
»Gern geschehen.« Auch ich grinste ein wenig, in meiner Stimme ein Haufen Selbstgefälligkeit. Jetzt, nachdem alle Probleme geklärt waren, konnten wir uns vielleicht endlich daran machen, der Sache zwischen uns einen neuen Status zu verleihen.
Mit definitiv mehr Sex und Küssen, die aus Prügeleien gipfelten.
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