37 | Keine Gefühle
Die Nachricht ging mir auch ein paar Tage später noch nicht aus dem Kopf. Keine Ahnung, wie dieser Wichser das anstellte und was eigentlich so interessant an ihm war. Doch auch als durch den dunklen Durchgang in Richtung von Tareks Hinterhof ging, erwischte ich mich dabei, wie ich einen kurzen Blick auf unseren Chat warf. Federico hatte seither nicht noch einmal geschrieben. Ich genauso wenig.
Okay schade, war das letzte, das da vor meinen Augen flimmerte. Ob er es wirklich schade gefunden hatte und mich irgendwie vermisste?
Vielleicht sollte ich ihm schreiben, dass ich heute Zeit hatte? Dass wir ja was machen könnten?
»Aus dem Weg«, wurde ich im nächsten Moment von einer Frauenstimme angeschnauzt und dann zur Seite geschoben. Seit wann lief ich eigentlich durch die Gegend, ohne auf meine Umgebung zu achten? Das war ja mal absolut nicht meine Art. Ich biss meine Zähne aufeinander. In Zukunft dürfte ich nicht mehr so nachlässiger sein, auf keinen Fall. Man konnte nie wissen, wer dort auf einen lauerte und einem schaden wollte.
Ich hob meinen Blick und in mein Blickfeld geriet eine Frau in engen, aber sportlichen Klamotten, die ein paar Jahre älter war als ich. Imara.
»Oh, hey, Jay. Du bist das.« Über ihr Gesicht huschte ein kurzes Lächeln und sie warf sich ein paar ihrer schwarzlila Braids über die Schultern nach hinten. Auf dem Kopf trug sie eine Wollmütze und in ihrem Nasenflügel glitzerte ein Piercing, das sich silbern von ihrer dunklen Haut abhob. »Lang nicht gesehen, was?«
»Zum Glück.« Ich tauschte mein Handy gegen meine Zigarettenschachtel und fummelte eine daraus hervor.
»Ganz meinerseits.«
Ich hätte fragen können, was sie hier machte, warum sie wieder bei ihrem Ex aufgelaufen war, doch ich sparte es mir. Bis auf eine dumme Antwort konnte ich mir nicht viel erhoffen.
»Krieg ich auch 'ne Kippe?«
»Klar, immer.« Ich streckte ihr die Schachtel hin. Weil sie und Tarek während ihrer Beziehung auch eine Weile zusammengewohnt hatten, hatten wir zwangsläufig zu viel Zeit miteinander verbracht. Im Grunde genommen fand ich Imara ganz okay. Sie provozierte nicht unnötig, war trotzdem kein Arschkriecher und so war es recht entspannt mit ihr gewesen.
Einen Moment lang standen wir beieinander, während wir beide unsere Kippen anzündeten. Imara fuhr sich durch das Gesicht, das wie immer ungeschminkt war, seufzte. Kurz kniff ich meine Augen zusammen, dann merkte ich, wie durcheinander sie wirkte.
Boah, wahrscheinlich hatte es irgendein Drama zwischen den beiden gegeben. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Eigentlich sprach genau so etwas dafür, dass ich mich nicht mehr bei Fede melden sollte, ich wollte garantiert nicht wie Tarek enden, der seiner Ex noch immer nachtrauerte.
»Hau rein, Alter«, verabschiedete ich mich von ihr, ehe ich auf den Hinterhof zusteuerte. Dort stand ein ausgebranntes Auto herum, Müll und ein paar Fahrradleichen. Genauso regelmäßig, wie Tarek seine Schrottkarren wechselte, landete er auch in anderen Wohnungen. Aktuell war es eine unscheinbare Mietskaserne.
Der Schnee, der überall in der Stadt lag, strahlte dank des Sonnenlichts ekelhaft weiß, sodass ich meine Augen zusammenkneifen musste. Auf gar keinen Fall wollte ich wie die beiden werden und mich in irgendwelchen unsinnigen Liebesdramen verlieren, darum war es vielleicht sogar besser, Fede einfach nicht zu schreiben. Dabei war es bei ihm und mir ohnehin nie um mehr als nur Vögeln gegangen.
Um mehr nicht.
»Ey, was wollt'n die jetzt hier?«, fragte ich, als ich mich auf Tareks Ledercouch fallen ließ. Die Bude war so vollgequalmt wie immer und genauso aufgeräumt wie sonst auch. Eine Waage auf dem Glastisch, in Alu verpackte Koksplatten, die er zu kleineren Lieferungen verarbeitete. Ein Stück davon war ein Kilo schwer, alles in allem verdammt viel Geld, das hier herumlag. »Ich dachte, die hat keinen Bock mehr auf dich.«
»Ach, keine Ahnung, sie war hier, weil ...« Tarek stockte und sah auf seine Kippe, von der er die Asche abklopfte. Seine Stimme klang ein wenig brüchig und verdammt, ich wünschte mir, mir würde das einfach am Arsch vorbeigehen. Aber irgendwie tat es das nicht. »Wir haben jedenfalls viel gelabert und dann gevögelt und dann richtig mies gestritten. Aber egal, lass nicht drüber reden, Bruder.«
»Alter, soll ich die Fotze fertigmachen? Die einfach zusammenschlagen?«, bot ich ihm an und legte eine Hand auf seine Schulter.
»Kannst es ja mal versuchen«, erwiderte Tarek und schüttelte den Kopf, während sich ein leichtes Grinsen auf seine Lippen stahl. Vielleicht konnte ich es ja echt schaffen, ihn ein wenig aufzumuntern. »Aber ich bin mir sicher, dass du ziemlich kassieren würdest.«
»So wie du, ne?« Ich verzog meine Lippen zu einem gehässigen Grinsen, während ich mich an Tareks Erzählung erinnerte, als er besoffen Imara mal eine Ohrfeige verpasst hatte und danach hart von ihr vermöbelt worden war.
»Erinner mich nicht dran.« Er boxte nach mir.
»Macht die Olle nicht sogar Muay Thai oder so?«
»Ja. Und du vergisst, dass sie Türsteherin ist«, grinste Tarek und an der Art, wie er von ihr sprach, war überdeutlich zu hören, dass er sie immer noch gerne regelmäßig ficken würde. »Von 'nem Strip-Club. Sie verbringt viel Zeit damit, nervigen Typen aufs Maul zu hauen.«
»Du redest mir viel zu positiv von der, ey.« Ich verdrehte die Augen.
Tarek wandte seinen Blick ab und schwieg einen Moment. »Ich vermisse sie auch. So richtig, Alter.«
Keine Ahnung, warum es bei ihm so normal wirkte, offen über Gefühle zu sprechen. Denn das war absolut nicht normal und eigentlich total beschissen. Was brachte es einem schon, sich freiwillig noch verletzlicher zu machen?
Auch wenn das bei Tarek nie der Fall war. Bei ihm funktionierte das. Was auch immer das war, das er im Leben verstanden hatte. Für einen Sekundenbruchteil fand ich es irgendwie gut, dass er nicht mit sich ficken ließ und doch zu seinen Gefühlen stand.
Vielleicht kam ich deshalb – oder auch dank des Alkohols, den wir tranken, während wir die Koksplatten zerstoben – auch auf die Idee, mit einem noch viel dümmeren Thema anzufangen. Als wäre das hier eine Therapiesitzung. War doch lächerlich, Alter. Es gab verfickt nochmal keinen Grund, über gewisse Dinge zu sprechen.
»Was war dein seltsamster Kuss?«, hörte ich mich fragen, während ich uns beiden eine Portion Whisky nachschenkte. Eines musste man Tarek zu gute halten: Was Alk anging, hatte Tarek einen verdammt guten Geschmack und scheute sich nicht davor, für guten Whisky auch etwas liegen zu lassen.
»Wie kommst du jetzt darauf?«, lachte er. Im Hintergrund lief eine Folge Frauentausch, über die wir uns in der letzten Stunde ziemlich lustig gemacht hatten. Ein Blick in unserer Viertel zeigte leider viel zu gut, dass diese dreckigen Existenzen keine Erfindung von RTL waren.
»Sag halt«, forderte ich Tarek auf und drückte ihm sein Glas in die Hand. »Und trink, das ist mir viel zu langsam hier.«
»Mhm, okay. Ich muss überlegen.« Er legte die Stirn in Falten. »Ich schätze mal, das war mein erster Kuss. Das war ich und eine Klassenkameradin, die bei mir zuhause war. Und weil meine Eltern halt übel streng waren, was sowas angeht, mussten wir die Tür offenlassen. Als wir uns dann geküsst haben, mussten wir die ganze Zeit kichern und uns voll zusammenreißen, dass das keiner hört. Wir haben uns die ganze Zeit an unserer Spucke verschluckt. Vallah, das war seltsam.« Er schüttelte lachend den Kopf.
Kurz sah ich auf den großen Flachbildschirm, auf dem eine der Tauschmütter davon laberte, dass Bio für sie Abfall ist und sie niemals kochen würde. Zumindest eine vertretbare Einstellung.
»Kennste das, dass du mal so 'ne Olle geküsst hast und die keinen Bock auf dich hat?«, wandte ich mich dann an Tarek und trank einen Schluck aus meinem Whisky. Ich bemühte mich, meine Frage beiläufig klingen zu lassen, als wäre das irgendein random Scheiß, der mir eben in den Kopf gekommen war, aber so wirklich gelang mir das nicht.
»Gibt's da 'n Mädchen, für das du dich interessierst oder wie?«, fragte Tarek fast schon erwartungsvoll nach. Seine Stimme war längst nicht mehr brüchig, auch wenn der traurige Glanz in seinen Augen noch manchmal zu sehen war.
»Nein.« Meine Antwort kam geschossen wie aus einer MP-5, die ich bei CoD oft spielte, so schnell, dass es schon wieder unglaubwürdig wirkte. Dabei war es die fucking Wahrheit.
»Aha«, grinste Tarek und wackelte mit den Augenbrauen. Er beugte sich ein wenig vor, sodass sein Körper meinen Blick auf die minderbemittelte Gestalt auf dem Fernseher verbarg. »Willst du erzählen?«
»Vergiss es«, schnauzte ich und widmete mich wieder dem Koks. »Da gibt's nichts zu erzählen.«
»Ich respektiere das natürlich, aber Alter, manchmal wüsste ich schon gerne, was in deinem Kopf so vorgeht. Der ist so undurchdringlich. Und weiß'e, ehrlich, ich glaub's dir nicht, dass da so viel Hass ist, wie du tust.«
»Bla bla.« Ich verdrehte die Augen und presste meine Zähne aufeinander. Er hatte recht. Dabei wäre es verdammt schön gewesen, nichts anderes als Hass zu empfinden. Denn dann würde ich mir garantiert keine Gedanken darüber machen, wie ich Fede am besten anschreiben könnte.
Und dann hätte ich auch ein paar Minuten später nachdem Pissen nicht die bescheuerte Idee, ihm tatsächlich eine Nachricht zu schicken.
Wie siehts aus heute abend zeit, tippte ich ein, als ich an die hellen Wandfliesen gelehnt dastand. Schickte es ab, ohne zu zögern. Endlich.
Tief atmete ich durch und begegnete in Tareks Spiegel, der fast auffällig sauber war im Gegensatz zu unserem, meinen Blick. Die Prügelei mit Rashid hatte ihre Spuren in meinem Gesicht hinterlassen, nachdem die Wunden aus der Junkiebude schon fast verschwunden waren.
Ich sah auch das kurze, viel zu freudige Grinsen, das über meine Lippen huschte. Ein wenig fühlte es sich an, wie wenn man nach dem Training die schweren Gewichte absetzte und sich die Muskeln wieder entspannen konnten. So erleichtert war ich, dass ich ihm endlich geschrieben hatte. Tief in mir war so etwas wie Vorfreude auf seine Antwort, die hoffentlich bald kommen würde.
Mit jedem Blick, den ich auf mein Handy warf, wurde ich enttäuschter. Spürte ich noch mehr den stechenden Schmerz in meiner Brust. Egal, ob es in der Nacht nach meinem Besuch bei Tarek war, als ich außer Atem danach griff, kaum, dass ich die Langhantel abgesetzt hatte. Während des Joints, den ich noch später vor dem Fernseher rauchte oder als ich mir die Pizzareste, die in meinem Zimmer herumstanden, zum Frühstück einverleibte.
Da war nichts. Nicht einmal gelesen hatte er die Nachricht.
Auch abends, als ich zum Kickboxen ging, war noch keine Antwort auf meinem Handy eingegangen. Dieser Wichser. Der spielte doch nur seine verkackten Spielchen, um mich zu verarschen, weil er das lustig fand. Wahrscheinlich stand Fede einfach darauf, mich lachhaft zu machen. Mehr nicht.
»Komm, konzentrier dich«, versuchte mich mein Trainingspartner Benji anzufeuern, nachdem ich schon die dritte Schlagkombination verkackt hatte. Normalerweise hatte ich kein Problem damit, neue Techniken zu lernen und sie so präzise wie möglich auszuführen, heute klappte einfach gar nichts. »Komm, bist doch kein Anfänger.«
Seiner Aussage folgte ein kumpelhaftes Grinsen und auch wenn ich wusste, dass er mich nur motivieren wollte, zog sich die Wut in meinem Magen zusammen.
»Halt die Fresse«, zischte ich, denn das war echt das letzte, das ich gebrauchen konnte. Dass diese Wichsgeburt mein Versagen auskostetete. Ich holte aus und schlug so fest gegen das Boxpad, dass Benjis Arm zurückschnellte. Schließlich hatte er nicht damit gerechnet und es gerade ein wenig abgesetzt, um sich über die Stirn zu wischen. Nach knapp einer Stunde tropfte uns allen der Schweiß aus den Poren.
»Is' gut jetzt«, sagte Benji und fixierte mich mit seinem Blick. Im Hintergrund war das laute Geräusch zu hören, wenn die Fäuste der anderen auf das Leder trafen. Ich hasste seine dumme Überlegenheit, wie er sich für etwas besseres hielt, nur weil er gerade einen Ticken entspannter war.
»Wer is' hier der Anfänger? Halt das ma' vernünftig, Alter, so kann keiner trainieren.« Ich holte aus und trat mit einem schwungvollen Middlekick in seine ungeschützte Seite. So schnell, dass er sich nicht mit den Boxpads dagegen halten konnte. Provokant grinsend funkelte ich ihn an.
»Übertreib nicht.« Drohend zog er seine Augenbrauen zusammen.
»Was bist du für 'ne Pussy?«, lachte ich überheblich. »Wir sind hier um das zu kernen, Alter.«
»Du nervst. Lass einfach weitermachen.« Er brachte sich wieder in Position und hielt die Boxpads hoch, sodass ich dagegen schlagen könnte. »Gerade rechts, linker Haken, Roundhousekick«, erinnerte er mich an die Kombination, die wir gerade übten.
»Mimimi, mein Name ist Benji und er schlägt mir zu fest zu, mimimi«, äffte ich ihn nach und wurde direkt in der nächsten Sekunde von ihm zurückgestoßen.
»Du willst doch echt aufs Maul«, zischte Benji.
Ich zögerte keine Sekunde und holte aus, bereit, ihm die Fresse zu richten. Er hatte dank der Boxpads an seinen Armen ohnehin nicht viel Chancen, schaffte es aber, nach hinten zurückzuweichen und so meinem Schlag zu entgehen.
»An die Boxsäcke! Jay, du kommst zu mir«, erklang die laute Stimme unserer Trainers, die immer einen fast schon militärischen Unterton hatte. Wie immer entging ihm natürlich nichts, dass sich auf der abgenutzten roten Matte ereignete.
Genervt verdrehte ich die Augen und zog mein Shirt noch oben, um mir den Schweiß von der Stirn zu wischen.
Unser Trainer war ein breiter Schrank mit tätowierten Armen, an denen kein Stückchen freie Haut zu sehen war, und einem Vollbart, der an einer Stelle von einer tiefen Narbe unterbrochen wurde. Eisig blaue Augen, die von Lachfältchen umgeben waren. Was genau er früher gemacht hatte, wusste ich nicht, aber es wurden immer wieder kriminelle Storys laut. Von Autoknacker, Knastinsassen, Auftragsschläger und eigentlich harmlosem Alki war da alles dabei.
Seither holte er ganze Generationen an Menschen von der Straße – oder lieferte ihnen genau die Skills, die sie für den Kampf dort brauchten, wie es bei mir der Fall war.
»Was'n?«, maulte ich ihn an.
»Wir sind keine Gegner. Wir üben gemeinsam«, erklärte er mit ruhiger Stimme und wandte sich den anderen zu, die sich mittlerweile vor den Boxsäcken aufgebaut hatten. »Okay, Jungs und Mädels, wir machen jetzt so. Freiboxen. Eine Minute so schnell ihr könnt, dann langsam und auf Kraft. Los!«
»Geh mir nich auf'n Sack mit dei'm Hippiegelaber«, stöhnte ich. Warum mussten es sich eigentlich immer alle Menschen zur Lebensaufgabe machen, mir sämtliche Nerven zu rauben? Ja, okay, mir war schon bewusst, dass da auch viel meines eigenen Verhaltens reinspielte, aber trotzdem.
»Ich will so etwas nicht mehr sehen. Entweder du reißt dich jetzt zusammen oder du gehst in die Umkleidekabine.« Seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu.
»Ja, tschüss.« Ich wandte mich ab und griff nach meiner zerdrückten Plastikflasche, die bei den anderen am Rand lagen. Ich hatte eh keinen Bock mehr auf die Scheiße. Darauf, mich zusammenzureißen, obwohl es gerade irgendwie nicht ging.
Auf nackten Füßen lief ich in den dunklen Flur, der nur mit schwachem Neonlicht beleuchtet war und der zu den Umkleidekabinen führte. An den Wänden hingen große Poster von Kampfsportlegenden und Fotos, die bei den Fights unseres Trainers entstanden waren. Kaum, dass ich den Raum betrat, riss ich mir die Boxhandschuhe von den Händen und schmiss sie auf meine Sporttasche, gefolgt von meiner Trinkflasche. Mit einem Rumpeln fiel sie zu Boden.
Erschöpft ließ ich mich auf einer der hölzernen Bänke nieder. Dank des anstrengenden Trainings ging mein Atem rasend. Doch nicht allein deshalb, sondern die Aufregung, die in meinem Bauch grummelte, tat ihr Übriges.
Scheiße, scheiße, scheiße. Was war nur los mit mir in letzter Zeit? Ich nahm das mit Fede viel zu ernst. Erstens hatte es gar nichts zu bedeuten, dass er sich ein paar Tage lang nicht meldete, das passierte jedem Mal. Vielleicht musste dieser Streber ja gerade auch auf die nächsten Klausuren lernen und allzu lange zum Abi war es nicht mehr.
Langsam beruhigte sich mein Herzschlag wieder.
Ich stützte meine Ellenbogen auf meinen Oberschenkeln und meinen Kopf in meinen zitternden Händen auf. Der Geruch des Schweißes, der in meinen Boxbandagen steckte, stieg in meine Nase, während ich wachsam auf jedes Geräusch aus dem Gang achtete. Doch noch konnte ich die lachenden Stimmen der anderen nicht vernehmen. Nur dass gleichmäßige, weit entfernte Klopfen, wenn ihre Fäuste auf die Sandsäcke trafen.
Gut so. Ich wollte nicht, dass mich jemand sah, wie ich einen halben Nervenzusammenbruch schob.
Eigentlich wünschte ich mir nur ein wenig Ruhe nach den letzten Wochen, die so verfickt stressig gewesen waren. Die Waffe und der Auftrag, den ich verkackt hatte. Die Angst vor Kiral. Das ganze Hin und Her mit Fede. Der enttäuschte Blick meiner Mutter, der sich viel zu tief in mein Herz gebrannt hatte. Die vielen Aggressionen aus den letzten Tagen, die mir keine entspannte Minute gegönnt hatten.
Atmen.
Ich wollte doch nur ... keine Ahnung, dass das mit Fede was werden würde. Weil, das war mir schon klar, es war die ganze Zeit Bullshit gewesen, dass ich mir eingeredet hatte, wie wenig er mir doch bedeuten würde und dass ich eh nicht mehr wollte als Sex. Dass wir vielleicht ein bisschen schöne Zeit zusammenverbringen könnten, sowas. Dass ich mich öfter so fühlen konnte wie es war, wenn ich mit ihm war.
Losgelöster. Nicht ganz so angespannt.
Ich konzentrierte mich noch ein paar Momente lang darauf, tief durchzuatmen und fühlte, wie sich meine Gefühle wieder langsam beruhigten. Sie waren zwar noch immer ein einziger Matsch, der nicht wirklich Sinn machte. Ein wirres Mischmasch aus allem, was nur ging, aber das war ich schon gewöhnt.
Schließlich beeilte ich mich damit, meine Boxbandagen abzuwickeln und die kurzen, verschwitzten Trainingsklamotten gegen meine graue Jogginghose und einen dicken Sweater zu tauschen. Ich warf meine Sporttasche über die Schulter und lief mit schnellen Schritten aus dem Boxclub, um ja weder Benji noch Endris noch sonst jemandem zu begegnen.
Als ich die Kellertreppe nach oben trat, hinterließ ich Fußstapfen in dem tiefen Schnee, der während meines Trainings nochmal etwas mehr geworden war. Augenblicklich fühlte sich meine Gesichtshaut eisigkalt an und meine Atemluft hob sich in kleinen Wölkchen von der Nacht ab, als ich meinen Blick über den dunklen Hinterhof gleiten ließ.
Wie immer lag er verlassen da. Mit warmen Licht hinter den vielen Fenstern, manchmal auch Schatten, die sich hin und her bewegten. Menschen, die ihre Leben lebten.
Doch halt. Ich kniff die Augen zusammen, um einen Typen zu fokussieren, der dort an die Hauswand gelehnt dastand.
Irgendetwas an seiner Ausstrahlung war mir suspekt, gab mir ein wirklich ungutes Gefühl. Ich konnte nicht einmal klar sagen, was es war. Möglicherweise lag es daran, dass er genau wie ich seine Umgebung im Blick behielt. Vielleicht wurde ich langsam aber sicher auch einfach paranoid?
Ich lief weiter, während ich ihn aus dem Augenwinkel heraus im Blick behielt. Kurz schaute ich zur Seite, dass mir auch sonst nichts entging, dann wieder zu ihm.
Auf einmal stieß er sich von der Hauswand ab und stellte sich mir in den Weg. Ein Teil von mir wollte triumphieren, weil mich mein Gefühl wie immer nicht betrogen hatte, ein anderer war einfach nur angepisst. Nicht noch mehr Menschen, die irgendetwas von mir wollten. »Du bist Jay, nich'?«
»Ja, wieso?« Ich kniff meine Augenbrauen zusammen und musterte ihn wachsam. Glich ihn mit sämtlichen Menschen ab, die ich nur flüchtig getroffen hatte. Doch ich kannte ihn nicht, hatte diese Fresse nie zuvor gesehen. Seine Augen waren hinter einer schwarzen Sonnenbrille verborgen, dazu trug er kurzrasierte Haare und einen dunklen Bart.
Der Typ grinste ein wenig, doch es wirkte alles andere als freundlich. »'n guter Freund von mir will dich sehen. Ich glaube, du kennst seinen Namen. Kiral.«
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