19 | Taten und Träume

Ich hatte mir immer vorgestellt, dass mein Leben genauso ablaufen würde. Voller Gewalt und Drogenstreitigkeiten, die immer wieder in Massenschlägereien oder auch Schießereien gipfelten. Der ewige Kampf um Respekt, an dessen Spitze ich irgendwann stehen würde. Alles, was Kiral von mir verlangte, war ein Schritt in genau diese Richtung.

Und trotzdem hinterließen seine Worte nicht ansatzweise ein so gutes Gefühl, wie ich es mir immer gewünscht hätte. Sondern irgendwie ziemlich scheiße. Sie stressten mich. Verursachten ein unruhiges Grummeln in meiner Magengegend und mit einem Mal war da die Überforderung. Was sollte ich mit diesem Ding anstellen? Erwartete er ernsthaft, dass ich einen Menschen abknallte?

Scheiße, Mann, das hier war gar nicht gut. Es fühlte sich auch nicht richtig an, obwohl es das definitiv hätte müssen.

Ich sollte mich mal nicht so anstellen, echt nicht. Außerdem musste ich damit ja auch nicht wirklich ein Leben auslöschen. Bisschen Drohen genügte wahrscheinlich und die würden tun, was ich ihnen sagen würde. Eigentlich war es doch etwas Positives, dass Kiral mir so vertraute. Dass er mir so viel Macht in die Hand gab.

»Geht's dir gut?« Seine scheinheilige Besorgnis trieb mir auf einmal beinahe den Mageninhalt die Speiseröhre hoch, dabei käme es alles andere als super, ihn anzukotzen. Er sollte nicht so dumm tun. Er sollte keine Sekunde daran zweifeln, dass ich nicht bereit war, das zu tun, was nötig war.

Das musste ich sein.

Das würde ich sein.

»Klar«, räusperte ich mich und streckte meine Hand nach der Waffe aus, spürte ihr Gewicht zwischen meinen Fingern. So langsam, wie ich sie von dem Tisch aufhob, machte ich schon diesem aufgeblasenen Gockel Konkurrenz. Schien abzufärben oder so. Wohin jetzt mit dem elendigen Teil? Und wie sollte dieser Bullshit namens Denken funktionieren, wenn die Gedanken viel zu schnell rasten?

»Wir sehen uns.« Knapp nickte ich ihm zu und verstaute die Waffe dann in der Innentasche meiner Jacke. Sie fühlte sich schwerer an als sie eigentlich war, zog mich mit sich auf den Boden, als ich mich aus dem Sessel hochdrückte. Irgendwie fand ich die Vorstellung, das Teil nach Hause zu transportieren und morgen dann damit rumzurennen, echt anstrengend. Machte eigentlich keinen Sinn, wenn ich normalerweise mit Drogen unterwegs war, die genauso Knast für mich bedeuten würden.

Aber trotzdem.

»Ich bin mir sicher, dass du mich dieses Mal nicht enttäuschen wirst, Jay«, verabschiedete er sich und mit einem Mal wünschte ich mir, dass ich einfach nicht gekommen wäre. Dass ich auf die paar hundert Euro geschissen hätte und mir lieber einen gemütlichen Abend mit Tarek im Café gemacht hätte. Irgendwie war mir diese Sache hier doch ein bisschen zu krass

Aber egal. Ich hatte mich für diesen Weg entschieden und dann würde ich ihn auch gehen.

Nichts, das hier zur Diskussion stand.

Ein kurzer Handschlag, dann übergab ich Maxim sein bestelltes Gras und nahm stattdessen das Geld entgegen, das er mir in Form eines zerdrückten Zwanzigers zwischen die Finger drückte. Wahrscheinlich hatte er dafür seine Mami anbetteln müssen, denn dieser Penner tat doch nichts anderes, als vor seinem PC herumzuhängen und irgendwelche Beats zu produzieren.

»Ey, Digga, haste Bock noch einen durchzuziehen?«, fragte er und rückte seine Cappy zurecht. Mittlerweile hatte es aufgehört zu schneien, doch auf dem asphaltierten Boden hatte sich ein wenig brauner Schneematsch gesammelt, der sich mit ausgedrückten Kippen und den Scherben zerbrochener Glasflaschen vermischte.

»Okay«, willigte ich ein, ohne groß nachzudenken. Seine Gesellschaft war immer noch besser, als allein in meinem Zimmer herumzuhängen. Allein mit der Knarre in meinem Schrank, die ich dort unter ein paar Klamotten versteckt hatte. Und Maxim war immer noch besser als Rashid, dem ich immer noch nicht seine Kohle geben konnte, oder Tarek, der mit einem seiner durchleuchteten Blicke raffen würde, dass ich irgendwie gestresst drauf war.

Maxim verzog seine Lippen, die von der Kälte ziemlich spröde waren, zu einem breiten Grinsen. »Ja, nice, perfekt«, nickte er, während ein aufgetunter BMW an uns vorbeipreschte und aus einer Pfütze eine Ladung Schmutzwasser in meine Richtung spritzte. Der Stoff meiner Jogginghose wurde ekelhaft feucht an der Wade.

»Verfickter Hurensohn«, fluchte ich und zeigte dem Kerl den Mittelfinger, auch wenn er bereits am Ende der schmalen Straße angelangt war. »Is' eh erbärmlich, wie die denken, ihr Schwanz wird länger, wenn sie so'n nervigen Sportauspuff einbauen.«

»Aber irgendwie ist das schon cool«, widersprach Maxim, anerkennend nickte er.

»Es ist erbärmlich. Wenn man sonst nichts hat.« Mit Verachtung rotzte ich auf den durchnässten Bürgersteig. »Das sind so Typen, die sich bei jeder Prügelei verpissen würden, weil sie verfickt nochmal keine Eier haben. Aber stattdessen sind sie geil auf Aufmerksamkeit. Super.«

Okay, ich sollte echt mal chillen. Brachte jetzt nichts, mich wegen der Pistole freiwillig zu einer Lachnummer zu machen. Mit einer fahrigen Bewegung kramte ich meine Kippen aus der Hosentasche hervor, dann das Feuerzeug.

»Lass mal da auf den Spieler zwei Straßen weiter gehen«, schlug er vor, ohne weiter auf mich einzugehen. Er holte sein Handy aus der Hosentasche seiner weiten Baggyjeans, für die Teile wurde er wohl nie zu alt. Und hoffentlich fing er jetzt nicht an, mir einen neuen seiner Songs zu zeigen, dafür war ich jetzt definitiv nicht stoned genug. »Ich sag' meiner Freundin, dass bisschen später wird.«

»Du hast 'ne Freundin?« Ich warf ihm einen skeptischen Blick zu, als wir uns in Bewegung setzten und die Seitengasse hinter uns ließen.

»Ja, Alter. Seit sechs Monaten. Boah, die is' echt heiß«, laberte er los und ich zog eine Augenbraue hoch, zu schlecht gelang mir die Vorstellung, dass irgendein Mädel freiwillig eine Beziehung mit ihm führte. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit ihm etwas anzufangen. Echt nicht.

Während Maxim mich damit zutextete, wie er seine Olle im Xenon kennengelernt hatte, wie gut sie in ihrer schulterfreien Bluse ausgesehen hatte, dachte ich darüber nach, warum ich so selten Menschen auf den ersten Blick heiß fand. War super praktisch eigentlich, denn so dumm sabbernd wie Maxim würde ich nie dasitzen, aber ja. Keine Ahnung.

Natürlich hatten mir die Körper der Frauen, mit denen ich bisher Sex gehabt hatte, gefallen und ich hatte es genossen, mit meinen Händen ihre harten Nippel zu berühren, meine Finger in ihren Ärschen zu vergraben. Und abgesehen von Fede war ich in den letzten Jahren vielleicht einen oder zwei Typen begegnet, bei denen ich fand, dass sie nicht schlecht aussahen.

Aber so begeistert wie Maxim würde ich nie über das Aussehen von anderen Menschen sprechen. War irgendwie total sinnfrei und langweilig.

»Mann, ey. Dass wir endlich mal wieder kiffen«, grinste er, als wir den Spielplatz erreicht hatten, der vom hellen Licht der umliegenden Straßenlaternen beleuchtet wurde. Verlassen befanden sich das Klettergerüst, die Rutschbahn und die Schaukel vor uns.

»Total cool«, merkte ich mit so viel Ironie an, dass man sie eigentlich gar nicht überhören konnte. Er schaffte es trotzdem. Reife Leistung, das musste man schon sagen.

Am nächsten Morgen weckten mich Sonnenstrahlen, die mir unverschämterweise mitten ins Gesicht schienen. Genervt zog ich mir die nach kaltem Rauch und Schweiß stinkende Bettdecke über den Kopf und drehte mich auf den Bauch. Ich brauchte echt mal neue Jalousien, meine brachten nämlich exakt null und wer mit hellem Licht in der Fresse pennen konnte, war reif für die Klapse, anders konnte das nicht sein.

Irgendwie war mir schlecht. Es dauerte ein paar Momente, dann wurde mir klar, woher dieses Gefühl kam. Von der verfickten Knarre, die sich in meinem Sperrholzschrank befand, unter den Klamotten, die mir schon seit Jahren zu klein waren.

Ich drückte meine Lippen aufeinander, schmeckte das Pappmaul von gestern Abend. Ich hatte noch nie in meinem Leben geschossen, schon gar nicht auf einen Menschen. Alles, was ich über Waffen wusste, stammte aus Filmen und ganz ehrlich, da bekam man auch nicht erklärt, wie genau so ein Ding funktionierte. Entsichern musste man das, das war schon klar,

Warum machte ich mir überhaupt so viele Gedanken? Ich würde heute dahin gehen, die Kohle einstauben, nicht dieselben Fehler wie beim letzten Mal machen. Ganz einfach durchdacht und besonnen an die Sache rangehen, dann konnte da gar nicht schief gehen.

Unruhig trete ich mich auf die andere Seite, wo ich auf das Chaos in meinem Zimmer sehen konnte. Jetzt schienen mir zwar keine Sonnenstrahlen mehr mitten in die Fresse, dafür aber war die Sicht frei auf meinen Schrank.

Verdammt.

Ich musste mich ablenken. Bis heute Abend war noch lang und so früh morgens hatte ich auch noch keine Kunden, die ich treffen musste. Kurz dachte ich daran, ob ich ins Gym gehen sollte, oder vielleicht auch einfach bei Tarek vorbeigucken, dem ein bisschen auf den Sack gehen, doch dann kam mir eine bessere Idee. Ein flüchtiges Grinsen huschte über mein Gesicht, als ich nach meinem Handy auf dem staubigen Fensterbrett griff, das dort zum Laden lag. Ich öffnete den Messenger und scrollte dann zu Federicos Chat runter. Er war zuletzt um 07:11 online gewesen, verriet mir das Display. Kein Wunder, er saß bestimmt bereits vor dem Klassenzimmer und ging ein letztes Mal seine Unterlagen durch, um perfekt auf den Unterricht vorbereitet zu sein. Oder er quatschte mit Bahar und es klang, als hätten sie eine harte Behinderung, weil sie sich mit Physik-Formeln statt Worten unterhielten.

Kommst vorbei? zocken?, tippte ich einhändig ein, während ich mit der anderen Hand meine Zigarettenschachtel vom Nachttisch nahm. mario kart hab ich auch noch irgendwo

Noch ehe ich den Chat wieder schließen konnte, verfärbten sich die Häkchen blau und er wurde als online angezeigt.

Ich hab schule gleich, konnte ich lesen und ich spürte die Enttäuschung, die in meinem Bauch aufwallte. Typisch, dass dem Wichser sein langweiliger Unterricht wichtiger war als alles andere, das war doch erbärmlich.

komm als ob du nicht schwänzen würdest. bist doch kein streber

Warte, was ist los? Sonst nutzt du doch jede Gelegenheit mich als Streber zu bezeichnen, dazu zwei Lachsmileys.

Ich kaute auf dem Filter der Zigarette herum. nerv nicht

Finds auch schön wie du mich anschreibst und meinst ich soll nicht nerven

Ich komm irgendwann nach 9.30. Physik gebe ich mir noch

Mit einem immer breiter werdenden Grinsen auf den Lippen sperrte ich mein Handy und schmiss es auf mein Kissen. Dann erst bemerkte ich, dass noch immer in meinem Mundwinkel die Kippe klemmte und ich vergessen hatte, sie anzuzünden. Knapp zwei Stunden noch.

Zwei verfluchte Stunden.

Irgendein Gefühl grummelte da tief in mir, das ich anfangs gar nicht richtig deuten konnte, doch während ich mein Feuerzeug aufflammen ließ, wurde es mir auf einmal klar: Es war Vorfreude auf nachher.

Keine Ahnung, wieso, aber das war viel schöner als gedacht.

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