3 | Farbe auf das Elend
»Das hätt ich dir schon vor ner Weile sagen können«, meinte ich, Gleichgültigkeit in meiner Stimme. »Is doch kein Zufall, dass der immer mit dem widerlichen Stofffetzen rumrennt.«
»Danke auch.« Fede presste die Zähne aufeinander und sah auf den Nachthimmel, an dem das Feuerwerk langsam erstarb. Nur manchmal explodierte noch eine Rakete, ließ Farbe auf das Elend der unzähligen Plattenbauten um uns herum hinabregnen. Wir befanden uns auf dem höchsten.
»Ich dachte halt, du weiß das. Kann ich ja nichts dafür, wenn du das nich checks.« Ich spuckte über das Dach hinab. Auf den Dreck der Stadt mit ihren widerlichen Menschen.
Fede starrte verbissen vor sich hin, sagte nichts mehr dazu. Vielleicht sollte ich mehr Interesse zeigen. Würde sich ja für mich auch scheiße anfühlen, ehrlich gesagt.
»Sorry«, fügte ich hinzu. Rutschte an ihn ran und legte den Arm um ihn. »Nächstes Mal sag ichs gleich, wenn mir was auffällt.«
»Ja. Und red endlich nicht mehr so respektlos von Leonardo, das ist scheiße.« Er sah mich mit einem bestimmten Blick an, der mich dazu brachte, leicht zu nicken. Fuckte mich einerseits zwar ab, dass ich mich ihm immer wieder fügte, dass er das schaffte und sonst niemand, aber andererseits. War es gar nicht so. Ich machte nur Zugeständnisse, um meinen Willen zu kriegen.
War alles Taktik.
»Und wo ist er jetzt?«, fragte ich nach und wagte mich an ein Bier. Den Kronkorken schmiss ich den Abgrund hinunter.
»Hoffentlich zuhause. Er hat Hausarrest gerade, also darf er sich mit unseren Eltern die ganze Nacht Fernsehshows reinziehen. Mamma ist besser als ne Gefängniswärterin, wenns drum geht, ihn nicht rauszulassen.«
»Das glaubst du doch selber nich. Der Idiot isn Meister im Abhauen. Auch wenn er sons nichts kann.«
Fede seufzte lautstark. Okay, ich sollte mich besser zusammenreißen, sonst würde er sich noch verpissen.
»Und wie gings dann weiter? Also, als du das mit dem Ritzen und so gemerkt hast?«, fragte ich nach und nahm einen Schluck aus meinem Bier.
Einen Moment lang schwieg er. Sah auf die Plattenbauten um uns herum, in deren Fenster heute außergewöhnlich wenige Fernseher flackerten. Nur ein paar einsame Kreaturen hingen auch an Silvester zuhause rum. Er schien nicht zu wissen, ob er weiter mit mir über das Thema sprechen wollte.
»Ey, keine dummen Sprüche mehr. Versprochen. Is mir doch wichtig. Dir zuhören und so.« Schieben wir es mal auf den Alk und die Drogen, dass ich so eine kitschige Scheiße raushaute. Ich fuhr sanft über seine Schulter. Sie lag unter seiner dünnen Jacke und ich zog ihn näher an mich, damit ihm nicht kalt wurde.
„Ja, gut. Letzte Chance."
„Bereuse nich." Ich umarmte ihn enger, in meiner Hand noch das Bier, und zog ihn an meine Brust. „Also, Kumpel, wir machen das so. Du trinks das scheiß Malibu-Gedöns und dann überlegen wir, wie du dem helfn kanns."
Fede nickte zustimmend und löste sich dann von mir, ehe er von dem Maracuja-Saft abtrank, um danach mit dem Alk aufzufüllen.
„Kein Spruch, dass sich nich alle Probleme mit Alk lösen lassen?" Belustigt hob ich meine Augenbrauen.
„Bist halt schlechter Einfluss."
„Und du stehst drauf." Ich grinste und überlegte dann, während ich an meinem Bier nippte. „Hast du eigentlich mit Leonardo drüber geredet? Also gefragt, warum der das macht?"
Langsam zog er seine Schultern hoch und brauchte ein wenig, bis er antwortete. Ich ließ ihm die Zeit, kraulte ihn am Knie, weil ich wusste, dass er das mochte. Dass er sich dann ein wenig entspannen konnte. „Ich habs schon versucht", erzählte er. „Also nicht so direkt gefragt, warum, ich mein, das würd ich dann auch nicht wollen, aber ... ihm halt gesagt, dass er mir wichtig ist und ich immer da für ihn bin und er doch ein toller Mensch ist. Ihn in den Arm genommen. Und warum auch immer er denkt, dass er es verdient hat, sich wehzutun, dass er das nicht hat, weiße." Fede wog die Malibu-Mische in den Händen und füllte dann mit Alkohol nach. „Aber ... er war dann so, dass ... er direkt so abgefuckt war. Dass ich mal nicht so dumm machen soll, dass er sich wegen mir auch oft schlecht fühlt. Warum denn, hab ich gefragt. Wollt er nicht so richtig damit raus, aber ich denke, es ist ... weil ich halt alles so geschafft hab. Weiße, Abi, Studium und so. Meine Eltern waren immer stolz. Aber bei ihm is nur Stress."
„Ey, ich verstehs voll, dass dich das fickt. Aber ganz ehrlich, is halt Pubertät. Da hasse immer irgendwelche Probleme. Ich hab gesoffn und mich geboxt und du gelernt wie so'n Kranker und der macht halt so", überlegte ich und fuhr in sanften Linien über sein Knie.
„Hm. Ja, keine Ahnung. Lass über was anderes reden." Seine Stimme hatte einen entschiedenen Klang, als er erneut einen Schluck aus dem Getränk nahm. Der hatte definitiv n vernünftiges Tempo drauf.
„Okay." Ich grinste und beugte mich zu ihm, um ihm einen Kuss auf seine Wange zu geben. Sie fühlte sich dank seines Barts kratzig an. „Erzählse was zu'n Sternen und so?"
Über sein Gesicht huschte ein Grinsen und auch in dieser Nacht tauchte die Leidenschaft in seinen Augen auf, dieses Funkeln in der Dunkelheit, wie immer, wenn er von seinem Himmelskram labern konnte. Darüber, was beim Urknall passierte und dass es verschiedene Theorien gab. Ob das Universum sich pausenlos vergrößerte oder irgendwann einfach in sich zusammenfallen würde. Machte alles gerade nicht besonders viel Sinn für mich, aber ihm zuzuhören war schön. Weil es ihm so viel gab, darüber zu reden, weil er sich alle Zeit nahm, es mir zu erklären. Nach einer Weile legte ich meinen Kopf in seinem Schoß ab und sah an den Himmel. An die Flugzeuge über unseren Köpfen, das vereinzelte Feuerwerk.
»Pennst du heute bei mir?«, fragte ich ihn nach einer Weile. Ich spürte die Müdigkeit in meinem Körper. Sehnte mich nach meinem Bett, nach Wärme. Aber nur mit Fede.
»Nee, sorry. Ich will lieber nach Hause. Bei Leonardo sein. Klar, das ändert wahrscheinlich nicht so viel, aber er soll sehen, dass er mir wichtig ist. Dass ich für ihn da bin.«
»Dann penn ich bei dir.«
Fede sah mich zögernd an.
»Ey, das voll die Idee, okay. Du weiß ja, Leonardo mag mich. Ich kann sonst auch mal mit dem quatschen.« Ich richtete mich ein wenig auf, keine Ahnung, warum ich das für einen so guten Vorschlag hielt. Aber ich konnte Leonardo abfucken und das machte immer irgendwie Bock.
Entschieden schüttelte er den Kopf. »Vergiss es, Jay. Du bist der letzte, den ich auf meinen Bruder loslassen würde, weil der sich selbstverletzt.«
»Alter, guck mich an. Ich bin Inbegriff von Empathie, ich schwör.« Wahrscheinlich war ich schon mal überzeugender gewesen.
»Empathie bedeutet nicht Egoismus, by the way.«
»Wenn ich will, kann ich das.«
»Merk ich ja so gut bei dir. Ich erzähl dir von meinen Problemen und darf mir erstmal anhören, dass mein Bruder ein Spast ist. Und ich bin kein psychisch labiler Teenager mit zu wenig Selbstwertgefühl.«
»Oh, gerade zwanzig geworden und schon in ner ganz anderen Liga als Teenager«, spottete ich. Sirenen kamen näher und von unten flackerte Blaulicht an den Plattenbauwänden nach oben. Irgendwas schien da unten passiert zu sein.
»Nee. Sonst würd ich ja nicht noch mit denen rumhängen.« Über sein Gesicht huschte ein freches Grinsen, ehe ich ihn näher an mich zog, seine Wange küsste.
»Alter Sack«, murmelte ich neben seinem Ohr. Eine seiner Haarsträhnen kitzelte mich an meinen Lippen.
»Ach, in drei Monaten bist du genauso alt.«
»Wehe, du schenks mir nichs übrigens.«
Fede lachte auf. »Hast du mir denn was geschenkt?«
»Ähm. Ich hab dir einen geblasen an deinem Geburtstag.«
»Du liebst es doch eh, meinen Schwanz in deinem Mund zu haben, das war jetzt nicht unbedingt ein Geschenk.«
Ich zog meine Augenbrauen hoch. »Hattest du jemals einen so guten Blowjob wie von mir? Eben nich. Schätz das mal mehr, Alter.«
»Ja, stimmt, hatte ich nicht. Was aber nur daran liegt, dass mir sonst noch keiner einen geblasen hat.«
»Dann such mal Vergleichswerte. Ich will hören, dass ich der Beste bin.« Auf meinen Lippen tauchte ein selbstüberzeugtes Grinsen auf.
»Und wenns nachher enttäuschend wird?«
»Wird's nich. Ich bin auch der Beste.« Ich grinste, mein Blick ließ keinen Widerspruch an meiner Aussage zu.
Der Ausdruck in seinen Augen wurde sanfter. Nicht so herausfordernd wie eben noch und verdammt, das war selten wie Ticker, die ihre Ware nicht selbst konsumierten. »Weißt du, meistens nervts mich, wenn du so angibst. Aber wenn du dich mit deinen Blowjobs brüstest, ist das schon fast wieder süß. Ich kenn nicht so viele Macker, die sich darin brüsten, wie gut sie Schwänze lutschen können.«
Keine Ahnung, warum, aber irgendwie fühlte es sich gut an, wie er das sagte. Weil er recht hatte, weil das echt was war, worauf ich stolz war. Weil es sich zur Abwechslung ganz gut anfühlte, kein Wichser zu sein. Was für andere zu machen.
„Oha, n Kompliment von dir. Was los", grinste ich und zog ihn in eine Umarmung. Vergrub mein Gesicht an seiner Schulter, weil das irgendwie verdammt gemütlich war.
Ich vernahm sein Lachen an meinem Ohr. Keine Ahnung, wie dieser absolut missratene Abend doch noch schön hatte werden können. »Aber gut. Du kannst heute zu mir mitkommen." Bestimmt drückte Fede mich zurück, um mich mit seinem Blick zu fixieren. „Ein falsches Wort zu Leonardo und ich behandel dich wie du die Leute, die dich hintergehen. Capito?« In seinen Augen lag Ernst und ich zweifelte nicht daran, dass ich es wirklich bereuen würde. Fede war niemand, der laberte und das mochte ich so an ihm.
»Das Problem an der Sache is, dass das keine Drohung is. Ich fänds halt heiß.«
»Wag es nicht«, zischte er an meinen Lippen und packte grob in meine Haare. So grob, dass mir ein genüssliches Seufzen entwich.
»Das macht es jetzt nicht besser.«
»Jay. Reicht jetzt.« Er zog an meinen Haaren und küsste mich dann. Verdammt, ich liebte es, wenn er so autoritär mit mir sprach. Wenn er mich in meine Schranken wies, bestimmte, was ich zu tun hatte und was nicht.
Mein Atem ging schneller. »Ich will dich«, hauchte ich.
»Du bist doch eh zu besoffen, um einen hochzukriegen.« Er grinste frech und hätte damit, hätte ich weniger Selbstbewusstsein gehabt, einen wunden Punkt getroffen. Hatte ja vorher schon nicht geklappt.
»Wichser.« Ich schob ihn von mir und richtete mich ein wenig auf.
»Hab ich da'n Ego verletzt?«
Ich lachte auf. »Träum weiter. Das kriegse nich klein.«
»Du bist so schlecht im Lügen, Jay«, erwiderte er, dabei wussten wir beide, dass er mich mit so ein paar affigen Sprüchen nicht treffen würde. Außerdem hörte ich das heute nicht zum ersten Mal. Die meisten Male, dass ich mit irgendwelchen Mädels im Bett landete, war ich so besoffen und drauf gewesen, dass nicht nur mein Gehirn ausschaltete.
»Junge, es is so lost, seinen kack Selbstwert von seinem Schwanz abhängig zu machen. Das einfach'n Geschlechtsteil, mehr nich. Check ich eh nich, diese ganzen Kerle, die ihr Leben drauf ausrichten. Ob sie'n Großen oder'n Kleinen haben.«
»Sagst du nur, weil deiner auch nicht der Größte ist, gelinde gesagt.« Er grinste fies. Keine Ahnung, was er sich davon erhoffte.
»Nee, das stützt nur meine Theorie. Ich bin auch ohne großen Schwanz der Geilste.«
„Ach, Jay." Fede schüttelte grinsend den Kopf, trank aus seiner Mische. Aber wenigstens war jetzt der nachdenkliche Ausdruck aus seinem Gesicht verschwunden.
Irgendwann wurde es arschkalt. Oder mein Pegel sank, alles nur eine Frage der Perspektive. Bald fanden wir uns in dem dunklen Flur wieder, der roch wie unserer. Nach fremden Gewürzen und abgestandener Luft. Nach Spießigkeit und alten Leuten.
»Wer als erstes unten ist«, lachte ich und rannte durch den Flur. Drückte im Vorbeigehen auf alle Klingeln, die ich erreichen konnte. Wurde immer schneller, aber verdammt, das bockte. Stolperte das Treppenhaus runter.
Auf einmal taumelte ich zur Seite und spürte, wie Fede sich grob an mir vorbeidrückte. Dieser Wichser. Immer musste er gewinnen.
Aber nicht mit mir. Ich packte ihn an seinem hässlichen Parka, das war zwar safe so'n Primark-Ding, aber damit passte er zu den anderen Studenten-Ausgeburten. Er geriet ins Straucheln, versuchte Halt an der Wand zu finden. Riss sich los und sprang die nächsten Stufen hinunter. Im nächsten Stockwerk schaffte ich es, ihn zu überholen. Spürte, wie er nach meinem Arm griff.
Im nächsten Moment raste mir der Boden entgegen. Dummer Hurensohn, sollte das jetzt witzig sein oder wie. Stauchende Schmerzen in meinen Ellenbogen, dann meinen Knie. Irgendwas drückte mich auf den Betonboden und einen Moment später checkte ich erst, dass das Fede war. Scheinbar war er auf mir gelandet.
»Scheiße, geht's dir gut?«, fragte er atemlos.
Ich gab ein undeutliches Geräusch von mir, mein Atem ging schnell. War doch alles anstrengend. Schwerfällig schob ich Fede ein wenig weg, drehte mich auf den Rücken und zog ihn wieder an mich. Ließ ein Ächzen von mir vernehmen. »Lass hier pennen.«
»Sehe schon die Gerüchte vor mir", grinste Fede, in dessen Stimme ein Lallen mitschwang. Keine Ahnung, warum ich das so verfickt heiß fand, wenn er besoffen war. Vielleicht weil es so selten vorkam. „Jonathan Meyer, der größte Dealer Berlins, ist obdachlos gewordn und schläft im Hauseingang.«
»Zusammen mit Federico Benedetto, dem größten Sternenentdecker, der nur Sterne sieht, weil er so besoffn is.« Ich lachte über meinen eigenen Witz.
Fede nicht. Der zog nur seine Augenbrauen hoch. »Echt jetzt? Du hast dir immer noch nicht meinen richtigen Nachnamen gemerkt?«
»Ja, Alter, ich dachte, das di ist unnötig. So ... dings, Füllwort.«
»Du bis auch son Füllwort.«
„Mhm", machte ich und umarmte ihn enger. Meine Augen fielen zu und irgendwie war mir gerade alles scheißegal. Meinetwegen hätte ich ewig in diesem Treppenhaus liegen bleiben können. Um mich herum drehte sich alles und doch hätte es nicht besser sein können.
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