19 | Hol mich ab


Holst du mich ab und wir fahren rum? Ich muss dringend raus, leuchtete auf meinem Handy auf, als ich bei Tarek saß und die Koksplatten in kleinere Päckchen umfüllte. Weil wir mittlerweile alle Folgen von Shopping Queen kannten, waren wir auf Das perfekte Dinner umgestiegen.

Ich schluckte, als ich Fedes Namen las. Eigentlich hatte ich zu tun. Der Scheiß hier erledigte sich auch nicht von alleine. Aber ... wenn Fede mir schon schrieb, weil er mich irgendwie brauchte, wollte ich diese Chance auch nicht verfallen lassen. Wahrscheinlich gings ihm noch schlecht, wegen der Sache mit Leonardo.

Was für eine kitschige Scheiße. Ich sollte dringend aufhören, mich von meinen Gefühlen leiten zu lassen. Meine Ziele gingen vor. Ich legte mein Handy weg und konzentrierte mich wieder auf das, was zu tun war. Abwiegen. Verpacken.

Tarek war heute ebenfalls schweigsam. Irgendwas beschäftigte den, das merkte ich, wie die Stirn konstant ein bisschen gerunzelt war. Vorhin hatte ich schon versucht, rauszukriegen was los war, aber da war nichts zu machen.

Ich sah wieder auf den Fernseher. Da wurde gerade die fette Villa der Gastgeberin gezeigt und keine Ahnung, warum reiche Leute sich immer so weirdes Zeugs in ihre Häuser hingen. Abstrakte Kunst. Irgendwelche riesigen Vasen. Ledercouches, die sau ungemütlich aussahen.

Da vibrierte mein Handy erneut. Eigentlich wollte ich nicht draufgucken, wollte es wegignorieren. Und sah doch Fedes Namen. Nur vier Zeichen. Jay?

Hey sorry das soll echt nicht aufdringlich rüberkommen. Ich dachte nur ..., tauchte eine Sekunde später auf, der Rest wurde mir auf meinem Display nicht angezeigt.

Ich ging auf den Chat und sah, dass er die Nachrichten bereits wieder gelöscht hatte. Über mein Gesicht huschte ein kurzes Grinsen. Schon witzig, wie schwer der sich tat, sich anderen zu öffnen.

Damit konnte ich noch meinen Spaß haben.

Was hast gelöscht, fragte ich nichtsahnend.

Nicht so wichtig. Hast bestimmt gerade zu tun und ich wollt dich nicht bedrängen :D

Sag halt

Los, setzte ich noch hinzu.

Ist wegen Leonardo ... mache mir da schon Vorwürfe, hab mich oft nicht korrekt verhalten. Aber eigentlich wollte ich nur fragen, ob du Zeit hast was zu machen

Fede brauchte mich und das fühlte sich verdammt gut an. Hatte er mir doch so lange das Gefühl gegeben, ich ginge ihm völlig am Arsch vorbei.

»Jetzt hau schon ab zu deiner Verflossenen«, sagte Tarek mit einem Seitenblick in meine Richtung. Er klang griesgrämig. Fuhr sich mit Zeigefinger und Daumen über den Bart, griff dann in die Schale mit Sonnenblumenkernen auf dem Tisch.

»Nee, Mann, Arbeit geht vor. Da gibt's keine Diskussion«, erwiderte ich entschlossen. Zerstampfte die Platte energisch. Fede würde warten müssen, daran konnte er sich ruhig mal gewöhnen. Er war garantiert nicht meine Nummer Eins, das würde niemand sein. Außer ich selbst, versteht sich.


Nacht legte sich über die Straßen, drängte die letzten Streifen des Abendrots zurück. Mit laufendem Motor blieb ich in der Feuerwehreinfahrt vor Fedes Haus stehen. Wurde Zeit, dass ich den mal auf andere Gedanken brachte. War ja nicht gesund, sich so viele Sorgen zu machen. Zeit verstrich. Eine Kippe, zwei. Kein Bock mehr, hier rumzuhängen. Ich schrieb Fede, dass er gefälligst seinen Arsch runterbewegen sollte. Keine Antwort. Seufzend stellte ich den Motor ab und stieg aus, lehnte mich gegen meine Karre. Ich ließ meinen Blick über das Hochhaus und die da hinter liegenden gleiten, die zahllosen Fenster, hinter denen sich die vielen Leben abspielten. Die ganze Sache mit Leonardo und dem Rettungswagen vor paar Tagen fühlte sich so fern an.

Heute brüllte hier jemand rum, erst die Stimme einer Frau, dann eines Mannes. Ich verstand sie nicht, aber es klang wie Russisch. Ein paar junge Mädels kamen aus der Tür von Fedes Haus. Leggings, Turnschuhe, bauchfreie Tops. Sie unterhielten sich angeregt und sahen immer wieder Richtung Straße. Warteten scheinbar auf jemanden. Eine von ihnen sah immer wieder zu den beleuchteten Fenstern, wirkte hektisch, als fürchtete sie ihre Familie. Von irgendwoher zog mir der Geruch nach Curry in die Nase.

Wenn der gleich nicht rauskam, haute ich ab. Ich hatte es garantiert nicht nötig, auf irgendwen zu warten. Mich ließ auch niemand warten, soweit kams noch. Also bitte. Wäre ja noch schöner.

Stotternder Motorenlärm erklang, als wäre das dazugehörige Vehikel fast am Abkratzen und aus dem Augenwinkel sah ich zwei Typen auf einer verbeulten, rostbraunen Vespa. Sie hielten bei den Mädels an, ein paar Wortfetzen klangen zu mir rüber. Ein kurzer Handschlag, ich war mir sicher, sie tauschten etwas aus. Dann heulte der Motor wieder auf und ich beobachtete, wie die Mädchen, die Arme beieinander eingehakt, sich in Richtung Unterführung verzogen. Aufgeregtes Lachen.

Noch eine Minute gab ich Fede und schmiss meine Kippe weg. Oder vielleicht auch zwei, keine Ahnung, ich wollte ihn ja auch nicht allein lassen, wenn er mich brauchte.

Letzten Endes vergingen bestimmt fünf Minuten, bis die Tür wieder aufschwang und ich Fede hinaustreten sah. An seiner Seite ein etwas kleinerer Typ, der sich seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte und die Hände in den Hosentaschen vergraben hatte. Leonardo.

Die beiden kamen mir entgegen. Anstatt mich wie sonst mit einem Handschlag zu begrüßen und einen Schwall an Worten über mich zu ergießen, nickte Leonardo mir nur knapp zu und sah dann weg. Sein Blick huschte nur flüchtig über mich.

»Hey, Jay.« Fede warf mir ein leichtes Grinsen zu, das ich erwiderte. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten und die Haare waren zerzaust, am Ansatz fettig. »Hast du was dagegen, wenn wir Leonardo kurz zu Vince bringen?«

»Klar.« Ich klang skeptisch, stieß mich von meinem Auto ab. Was auch immer Fedes Plan war.

»Musst nich«, warf Leonardo sofort ein, weiterhin ohne mich anzuschauen. Ich bemerkte, wie er seine linke Hand nervös in der Hosentasche ballte. Aus seinem Pulliärmel guckten ein paar Millimeter weißer Verband hervor.

Fede warf ihm einen Blick zu, den ich als sowas wie: Komm schon. Es ist das beste deutete.

»Perche sempre devi dirigermi«, nuschelte Leonardo undeutlich. Er zog die hintere Tür auf und ließ sich auf die Rückbank fallen.

Fast schon überrascht öffneten sich Fedes Augen. Er murmelte irgendwas in die Richtung von »Ich meins doch nur gut«, genau verstand ich ihn nicht. Und in mir war auf einmal das Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen. Ihn zu drücken und ihm das Gefühl zu geben, dass alles irgendwie gut werden würde. Das tat ich nicht, strich nur schnell und unauffällig über seinen Rücken.

Ich nahm auf dem Fahrersitz Platz und verband mein Handy via Bluetooth. Öffnete Spotify und startete meine Playlist. Break it von Limp Bizkit begann. Im Rückspiegel sah ich, wie Leonardo angestrengt aus dem Fenster schaute. Ganz weirde Situation. Ich mein, der Kerl war fünfzehn und damit ja wohl in der Lage, allein mit der U-Bahn zu fahren. Wahrscheinlich dachte Fede in seinem Kopfkino, er müsste Leonardo jetzt beschützen, aber so ne 1 zu 1-Bewachung brachte halt auch nichts.

Na ja. Nicht mein Bier.

Ich startete den Motor, während Fede sich neben mir niederließ. »Wohin jetzt?«

»Hast du noch Datenvolumen?«, erkundigte er sich. »Meins ist nämlich leer. Dann mach ich Navi auf deinem Handy an.«

»Klar.« Ich reichte ihm mein Handy, meinen Code kannte er bereits. Er öffnete Maps und fragte Leonardo nach der Adresse von seinem Kumpel.

»Niemetzstraße 14«, erwiderte der und ich fuhr los. Die Fahrt verlief schweigend. Fede sah immer wieder auf das Navi, als hätten sich dort spannende Erkenntnisse über das Weltall versteckt. Einmal sah ich in den Rückspiegel und begegnete Leonardos Blick, der schnell wieder wegsah. Angst lag in seinen Augen.

Wir fuhren eine Weile, noch dazu zog sich die Fahrt wie altes Kaugummi und die Tatsache, dass ich mich kurz vor Ankunft verfuhr, machte es nicht besser. Dann hielt ich in einer Seitenstraße zur Sonnenallee vor der Einfahrt zu einem Hinterhof an. In dem Gebäude befand sich ein Blumenladen, Sandra's Rosenparadies stand in geschwungenen lilafarbenen Lettern über dem Eingang. Jetzt lagen die Schaufenster in Dunkelheit da. Nur ein Licht im hinteren Teil des Ladens verriet, dass da jemand noch zugange war.

Leonardo zog bereits die Tür auf, noch bevor ich den Motor abgestellt hatte. »Danke«, nuschelte er.

»Wart mal«, hinderte ich ihn am Aussteigen und suchte seinen Blick. »Ey, ich denk jetzt nich schlecht von dir oder so. Ich denk gar nichts. Ist alles vergessen, okay«, sagte ich dann.

In diesem Moment sah Leonardo mich das erste Mal an diesem Tag richtig an. Seine Augen leuchteten ein wenig auf. »Danke«, sagte er und räusperte sich, wiederholte es noch einmal lauter. »Weiß ich zu schätzen.«

Musste er ja nicht wissen, dass die ganze Sache alles andere als vergessen war, sondern zu jenen Dingen gehörte, die ich mir merkte, weil sie mir eines Tages bestimmt nützlich sein würden. 


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Perche sempre devi dirigermi - Warum musst du mich immer rumkommandieren

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