Kapitel 6 - Willkommen in Winterfels

Jans erste Woche in Winterfels war aufregender als jede Projektwoche oder Klassenfahrt an seinen alten Schulen je gewesen war. Am Mittwoch lernte er gleich zwei neue Fächer kennen. Der Tag fing an mit Zaubertränke bei Herrn Jorski und Jan musste zugeben, dass die älteren Schüler ihm gegenüber nicht ganz unrecht gehabt hatten. Zwar war Herr Jorski sehr freundlich und schien sich mit Zaubertränken bestens auszukennen, ein guter Lehrer war er allerdings nicht wirklich – und seine Deutschkenntnisse erschwerten es zusätzlich, dem Unterricht zu folgen. Trotzdem bemühte sich Jan, die Erklärungen über verschiedene Zutaten und deren Wirkungen so gut wie möglich zu verstehen.

Er bekam aber auch mit, dass es ganz andere Haltungen zu Herrn Jorski gab.
»An unserer Privatschule wäre so jemand nach einem Tag rausgeflogen«, flüsterte eine Kesten in der Reihe hinter ihm ihrem Sitznachbarn zu. Dieser sah mit zweifelndem Blick zu Herr Jorski, der gerade »grine Bleter« aus dem Schrank hinter sich holte.
»Nach einem halben Tag«, bestätigte er dann.
Filio schien Herrn Jorski ebenfalls gewöhnungsbedürftig zu finden. Wenn der Junge aus Jans Schlafzimmer, der seine Koffer immer noch nicht alle ausgeräumt hatte, drangenommen wurde, machte er in einer schrecklich passenden Art den Akzent des Lehrers nach.
Und auch wenn Jan Herrn Jorski nicht ganz so schrecklich fand wie die Kestens hinter ihm, war auch er froh, als der Lehrer den Unterricht beendete und er sich mitsamt seinen Unterlagen auf den Weg zum Klassenraum der Ehuras machen konnte.

Das zweite neue Fach lernte Jan in der letzten Doppelstunde des Tages kennen. Während er gegen Ende der Mittagspause noch mit Filio und Levi am Esstisch saß, begann auf seinem Stundenplan das Feld Verteidigung gegen die dunklen Künste zu leuchten.

»Das Feld leuchtet erst gelb«, erkannte Filio und sein Blick huschte zu der Auflaufform vor ihm, in der sich noch ein letzter Rest Kartoffelgratin befand. »Ich kann mir nochmal nachnehmen.«
»Du weißt, dass kein Frühstück mehr ist?«, fragte Jan scherzhaft.
»Mittags soll man essen wie ein König«, verteidigte sich Filio, der den Rest des Auflaufs bereits auf seinen Teller geschaufelt hatte. Jan beobachtete fasziniert wie die nun leere Auflaufform sich vom Tisch erhob und zum Geschirrwagen am Rand des Innenhofs schwebte.

»Das ist ganz schön beeindruckend«, war das Einzige, was er hervorbrachte.
»Warte nur ab, bis du mal in einem richtigen Restaurant bist«, meinte Levi schmunzelnd. »Da faltet sich die Speisekarte automatisch zur Serviette, wenn du bestellt hast. Und nicht zu vergessen ist die Pizza, die sich vor deinen Augen selbst zusammenlegt.«
»Aber die ist doch dann noch roh«, erwiderte Jan. Von Levi kam bloß ein Schmunzeln.
»Manchmal wünsche ich mir, dass mir Zauberei auch erst mit zwölf begegnet wäre. Es muss schön sein, die ganzen Dinge, die für mich normal sind, zum ersten Mal zu sehen.«

»Und wenn man nicht damit groß wird, hört die Faszination dafür nie auf«, ergänzte Filio mit halbvollem Mund. »Mein Vater ist Muggel. Und er staunt jeden Tag aufs Neue, wenn meine Mutter das Geschirr einfach sauber zaubert.«
Jan grinste bei dieser Vorstellung. Aber er hoffte, dass er sich irgendwann an die Welt der Magie gewöhnen würde. Denn auch wenn der Zauber, der an all den neuen Dingen haftete, unbeschreiblich schön war, glaubte er nicht, dass er das nötige Selbstbewusstsein hatte, um auch mit dreißig Jahren noch fasziniert dem fliegenden Geschirr hinterherzuschauen.

»Ihr seid ja auch noch hier«, ertönte in diesem Moment eine gut gelaunte Mädchenstimme hinter ihnen. Jan drehte sich überrascht um und entdeckte Lina und Marina, zwei der Erstklässlerinnen, die die Gründerbäume ebenfalls nach Haistra einsortiert hatten.
»Wir haben doch noch Zeit«, meinte Filio bemüht entspannt und deutete auf das Feld auf Levis Stundenplan. »Ein schönes Melonengelb.«
»Das ist wohl eher orange«, bemerkte Lina spitz.
»Signalorange«, ergänzte Marina. »Ich glaube, es wäre echt gut, wenn wir so langsam losgehen würden.«
Eilig stopfte sich Filio die letzten Scheiben seines Kartoffelgratins in den Mund und zeigte einen Daumen nach oben. Zu fünft machten sie sich dann auf den Weg zu Verteidigung gegen die dunklen Künste.

»Raum K-03«, las Levi von seinem Stundenplan ab. »Hat sich jemand von euch behalten, wo der ist?«
Er bekam kollektives Kopfschütteln zur Antwort.
»Dann begeben wir uns mal auf die Suche«, meinte er dann zuversichtlich. »K könnte für Kesten stehen. Vielleicht sollten wir in der Nähe ihres Klassenraums suchen.«
»Gute Idee«, stimmte Marina zu.
»Hoffen wir mal, dass sie stimmt«, ergänzte Lina mit Blick auf ihren Stundenplan. »Denn mittlerweile würde nicht einmal Filio auf die Idee kommen, das Feld für Verteidigung gegen die dunklen Künste als gelb zu bezeichnen.«
»Wirklich?«, fragte der skeptisch und warf einen Blick über ihre Schulter auf den Plan. »Also ich finde, da ist immer noch ein gewisser Interpretationsspielraum. Aber du hast schon recht, es ist ein sehr dunkles Gelb.«

Lachend machten sie sich auf den Weg zum Klassenraum der Kestens. Doch sobald sie dort angekommen waren, mussten sie feststellen, dass sich Levis Idee zwar schön angehört hatte, aber weit und breit kein Raum K-03 zu sehen war.
»Der Klassenraum der Kestens ist neben unserem Klassenraum und dem der Ehuras«, erkannte Jan. »Das wussten wir doch.«
»Und die heißen E-32, E-33 und E-34«, ergänzte Levi. »Wir sind hier völlig falsch.«

Nachdenklich sah Jan auf das Schild, das an der kastanienbemalten Tür hing. Die Abkürzung E erinnerte ihn an den Aufzug im Krankenhaus, wo er seinen Opa einmal besucht hatte. E stand für Erdgeschoss. Auf einmal kam ihm eine Idee, was es mit dem K auf sich hatte.
»Gibt es hier einen Keller?«
Schlagartig hellte sich Levis Blick auf.
»Ein Keller«, wiederholte er und schlug sich mit der Hand gegen die Tür. »Natürlich. Da hat mein großer Bruder mir von erzählt. Er hat mit seinen Freunden in den Ferien einmal Verstecken durch die ganze Burg gespielt. Er hat sich in irgendeiner Vorratskammer im Keller versteckt. Da unten muss der Fachraum für Verteidigung gegen die dunklen Künste sein.«

Und genau so war es auch. Völlig außer Atem und mit einem feuerroten Feld auf dem Stundenplan kamen sie schließlich vor Raum K-03 an. Levi klopfte höflich an die Tür, bevor die fünf Haistras in den Raum eintraten. Die beiden anderen Haistras, Anna und Hannes, waren bereits da, ebenso wie die Erstklässler aus Furho, mit denen sie diese Stunde gemeinsam hatten. Herr Königs Mundwinkel zuckten belustigt, während die fünf verspäteten Schüler sich eilig einen Platz suchten.

»Am zweiten Unterrichtstag schon acht Minuten zu spät«, stellte er fest und schüttelte scherzhaft den Kopf. »Ich gehe davon aus, ihr habt den Raum nicht gefunden?«
Eilig bejahten die fünf Haistras.
»Das geht vielen Erstklässlern so. Keine Sorge, dafür lasse ich euren Baum nicht nach unten wachsen. Wir sind hier ja schließlich nicht in Amerika.«
»In Amerika?«, wiederholte Filio verwundert.
»Die Zauberer in den Vereinigten Staaten haben sehr rückschrittliche Gesetze«, erklärte Herr König. »Bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein, durften Muggel und Zauberer nicht einmal einander heiraten. Er würde mich nicht wundern, wenn sie Schüler für Zuspätkommen schon eine Strafarbeit aufhalsen würden.«

»Und was ist passiert, wenn sie trotzdem geheiratet haben und es dann jemand herausgefunden hat?«
»Das wird euch mein Kollege für Magische Politik und Wirtschaft schon noch alles erklären«, antwortete Herr König. »In unserem Fach beschäftigen wir uns mit gefährlichen Kreaturen und  Flüchen und ihr lernt, wie ihr euch dagegen verteidigen könnt. Da ihr im ersten Jahr in Einfache Zauberei schon genug lernt, eure magischen Fähigkeiten zu kontrollieren, konzentrieren wir uns hier erst einmal auf eine theoretische Grundausbildung über die verschiedenen Ungetüme, die es da draußen so gibt. Und heute gibt es schon einmal einen kleinen Überblick, was wir in diesem Jahr alles so behandeln werden.«

Er fuhr elegant mit seinem Zauberstab durch die Luft und hinterließ dabei fluoreszierende Nebelschwaden. Mit jedem Schwenk seines Zauberstabs wurde die Form, die sich daraus ergab deutlicher zu erkennen. Zuerst sah es aus wie ein Kind, dann erkannte man allerdings eine auffällig spitze Nase und unheimlich lange Finger.
»Wer kann mir sagen, was das ist?«

Einige Finger schossen in die Höhe. Jan kam sich angesichts dessen etwas dumm vor, denn er hatte keine Ahnung, was das Hologramm darstellte, das nun vollendet in der Luft schwebte. Und er konnte sich erst recht nicht vorstellen, dass so etwas in Wirklichkeit existierte.
»Ein Kobold«, sagte ein Junge aus Furho, sobald Herr König ihn drangenommen hatte.

Herr König schüttelte den Kopf.
»Es gibt gewisse Ähnlichkeiten, das stimmt«, antwortete er. »Aber ein Kobold wird niemals in diesem Fach behandelt werden. Denk daran, es geht um Kreaturen, die uns gefährlich werden! Was denkst du, was es ist, Anna?«
»Ein Erkling?«
»Ganz genau. Das ist ein Erkling. Eigentlich hatte man Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gehofft, sie ausgerottet zu haben. Aber leider tauchen in letzter Zeit wieder vermehrt welche auf, hauptsächlich in Deutschland. Deshalb werden diese kleinen Widerlinge das Erste sein, womit wir uns beschäftigen.«
Er verwandelte den Erkling mit ein paar geschickten Bewegungen in ein kräftigeres, muskelbepacktes Geschöpf, dessen Kopf im Vergleich zum Rest des Körper ziemlich klein war.
»Und wer weiß, was das ist?«

So ging es noch lange weiter. Fasziniert und erschrocken zugleich betrachtete Jan die Abbildungen von Erklings, Riesen, Bergtrollen und anderen magischen Wesen und überlegte, was Muggel dafür geben würden, solche Hologramme wie Herr König erzeugen zu können. Die Ergebnisse jahrzehntelanger Technologieforschung konnten dem Werk von Herrn König nicht ansatzweise das Wasser reichen.

Als Herr König sie schließlich in den freien Nachmittag entließ, war Jan zwar vollkommen begeistert von diesem interessanten Tag, aber sein Kopf qualmte auch vor lauter neuen Informationen. Ob er sich alles behalten konnte, was er hier lernte, wenn das die nächsten Tage so weiterging?

Umso erleichterter war er, als Herr Lurcus beim Abendessen zu ihnen kam und verkündete, dass sie in den nächsten zwei Tagen keinen Unterricht, sondern sogenannte Kennenlerntage mit ihrem Hauslehrer haben würden. Dabei sollten sie sowohl die Schule als auch ihre Hauskameraden besser kennenlernen. Und auch wenn Jan nicht ganz verstand, warum man das nicht schon vor zwei Tagen gemacht hatte, freute er sich doch auf die bevorstehende Zeit. Er konnte es kaum erwarten, weitere Geheimnisse von Burg Winterfels kennenzulernen.

Seine Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Am nächsten Tag gab es nach dem Frühstück einen ausführlichen Rundgang durch die Burg und die Außenanlage. Zuerst zeigte Herr Lurcus den Erstklässlern die besonderen Räume im Erdgeschoss. Dort gab es ein Lehrerzimmer, die Schulküche, die Räume der Klassen 1 bis 4, einige Fachräume, sowie einen Kiosk, der von zwei älteren Schülern geleitet wurde. Als nächstes stiegen sie die kalten Steintreppen in die Kellerräume hinab. Wie die jungen Haistras am Mittwoch schon festgestellt hatten, befanden sich dort die Fachräume für Verteidigung gegen die dunklen Künste. Aber Herr Lurcus zeigte ihnen auch die Lagerräume, die dort unten eingerichtet waren, führte sie an den Räumen der Fünftklässler vorbei und ging schließlich mit ihnen über eine Wendeltreppe wieder nach oben.

Doch die Führung war hiermit noch keinesfalls vorbei, denn in den oberen Burgetagen gab es noch so viel mehr zu entdecken. Der Hauslehrer führte sie in den Bibliotheksflügel, einen einen beeindruckenden Zimmerkomplex an der Rückseite der Burg, der vollgepackt war mit büchergefüllten Regalen. Nachdem sie  sich dort ausgiebig umsehen durften, zeigte er ihnen die Krankenräume. Das waren einige Zimmer, in denen verletzte oder kranke Schüler von ihren Leiden auskuriert wurden. Die dort arbeitende Ärztin Tilde Elverhøj war eine kleine, nordisch aussehende Frau, die auf Jan einen recht freundlichen Eindruck machte.

Danach führte Herr Lurcus sie an den Büros der Lehrer vorbei. Jan merkte, dass seine Beine langsam schwer wurden. Er hätte niemals gedacht, dass Winterfels so viel zu bieten hatte. Der ganze Stolz seiner alten Schule war der neu eingerichtete Computerraum gewesen. Und die Schulleiterin hatte gerne die Bedeutung des Aquariums hervorgehoben, das im Klassenraum einer siebten Klasse gestanden hatte. Im Vergleich zu Winterfels wirkte das ziemlich kläglich. Doch Herr Lurcus wollte ihnen noch die wichtigen Orte außerhalb der Burg zeigen. Damit meinte er die Stallungen und die Gewächshäuser, die sich rechts von der Schule befanden. Dort würde der Unterricht in magische Tierwesen und magische Pflanzen stattfinden. Jan schaffte es einmal, einen Blick durch ein Stallfenster zu erhaschen. Er war der festen Überzeugung, ein Pferd mit einem Horn auf der Stirn gesehen zu haben. Gab es etwa wirklich Einhörner?

Der letzte Ort, den Herr Lurcus ihnen zeigen wollte, war ein sogenanntes Quidditchfeld. Dafür mussten sie das Burggelände von Winterfels verlassen und auf die andere Seite des Bergs gelangen. Unterwegs versuchten die anderen Haistras Jan die Spielregeln von Quidditch zu erklären, doch aus ihren Erklärungen wurde er nicht wirklich schlau. Als er aber das gigantische Stadion sah, das Herr Lurcus ihnen stolz präsentierte, konnte er sich unter den Erzählungen seiner Freunde schon etwas mehr vorstellen.
Es sah so ganz anders aus, als die Fußballstadien, die Jan aus der Muggelwelt kannte. Denn auf dem Boden, wo sich normalerweise der wichtigste Teil des Spielfelds befand, war nur eine große Fläche aus Sand. Tore fand Jan beim besten Willen nicht, stattdessen waren auf beiden Seiten in gut zwanzig Meter Höhe drei Ringe auf Stangen befestigt. Filio hatte gesagt, das seien die Tore. Aber Jan konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie man da einen Ball hineinbekommen sollte. Er erinnerte sich, dass Levi auch etwas von Fliegen erzählt hatte. Spielte man dieses Quidditch etwa in einem Carl?

Doch auch wenn er Quidditch nicht wirklich verstand, verspürte er ein ehrfürchtiges Staunen, während er das gewaltige Stadion betrachtete. Das bei weitem Faszinierendste war nicht das Sandfeld oder die Torringe, sondern die Tribüne, die unbefestigt in der Luft schwebte. Sie bestand aus mehreren Teilen, die nicht miteinander verbunden waren und die verschiedensten Formen hatten. Ein Teil der Tribüne hatte die Form eines Schiffs und schaukelte wie von Wellen getragen im Wind. Jan wurde beim bloßen Gedanken schlecht, darin sitzen zu müssen. Dennoch war er fasziniert von der gewaltigen Anlage und anhand der Geräusche, die die anderen Haistras von sich gaben, schlussfolgerte er, dass es ihnen ähnlich ging.

Und als wäre es nicht schon faszinierend genug, das gewaltige Stadion anzusehen, zielte Herr Lurcus mit seinem Zauberstab auf einen grün gefärbten, würfelförmigen Tribünenteil, der direkt über ihren Köpfen schwebte.
»Descendo!«, sagte er klar und deutlich. Kurz darauf segelte eine hölzerne Strickleiter von der Tribüne herunter. Begeistert sahen sich die Schüler an. »Können wir das auch irgendwann?«, platzte es aus Filio heraus, der ganz gebannt auf die Leiter starrte. »Wenn ihr fleißig lernt, schon in wenigen Jahren«, antwortete Herr Lurcus und machte eine einladende Handbewegung. »Aber jetzt erstmal hoch mit euch!« Unsicher sah Jan zu den anderen Schülern und atmete erleichtert auf, als Levi mutig den Anfang machte. Auch wenn er es kam abwarten konnte, das Quidditchfeld von oben zu sehen, wurde ihm doch etwas schwindelig, wenn er an die gewaltige Höhe dachte.

Doch Levis begeisterte Rufe, als er oben angekommen war, ermutigten ihn, nach Marina ebenfalls die Sprossen der Strickleiter zu ergreifen. Das Klettern nach oben kam ihm erstaunlich leicht vor. War die Strickleiter etwa mit einem Zauber belegt, der Personen näher an sie zog, um Herunterfallen zu verhindern? Nach all dem, was er schon von der Welt der Zauberer erlebt hatte, klang es für ihn keineswegs unrealistisch, dass es so etwas gab.
Ohne große Mühen zog er sich auch an der letzten Sprosse hoch und erklomm die Tribüne. Sie war mit vielen Stühlen und Stufen ausgestattet, sodass man an jeder beliebigen Position des Würfels Platz nehmen konnte. Sogar ein mit unzähligen Zahnrädern geschmücktes Fernglas war am Rand der Tribüne aufgestellt. Begeistert stellte er sich neben Lina, Levi und Marina an das Geländer und genoss den Anblick über das gesamte Spielfeld. Nach und nach folgten auch die anderen Haistras auf die Tribüne und zum Schluss folgte Herr Lurcus. Der Lehrer sah mit schmunzelndem Gesicht auf die faszinierten Gesichter der Schüler, auch wenn er die Augenbrauen verwundert hochzog, als er erblickte, wie Filio interessiert an den Zahnrädern des Fernglases drehte. »Circumrota«, sagte er mit auf die Sitzplätze gerichtetem Zauberstab, woraufhin sich die Tribüne leicht drehte und eine Aussicht auf das Tal unter den Berg, auf dem Burg Winterfels gebaut war, offenbarte. »Willkommen in Winterfels, liebe Haistras! Für die nächsten Jahre wird das euer Zuhause sein.«

Nachdem sie eine ganze Zeit lang schweigend dagestanden hatten, unfähig ihre Gefühle in Worte zu fassen, richtete Herr Lurcus seinen Zauberstab wieder auf die Mitte der Tribüne und sagte den gleichen Zauber, wie eben, woraufhin sich der grüne Würfel wieder in seine ursprüngliche Position drehte. »Dann lasst uns wieder nach unten gehen«, entschied der Lehrer und sah in Richtung der Strickleiter. »Ihr zuerst!«
Anna begann als erste den Abstieg und die blasse Farbe in ihrem Gesicht deutete Jan als eine leichte Höhenagst. Sie schien schnell wieder hinunter zu wollen. Ihr folgten geordnet die anderen Haistras und als letzter kletterte auch Herr Lurcus wieder die Treppe hinunter.

»Wir gehen noch einmal zu den Ställen«, verkündete der Lehrer, als er unten angekommen war und deutete mit der Hand in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Euren zweiten Kennenlerntag werden wir da verbringen. Dort werdet ihr euch selbst und die anderen aus eurem Haus besser kennen lernen. Schließlich müsst ihr ein gutes Team werden, wenn die Buche am Ende des Jahres der höchste Baum im Innenhof sein soll.«
Er lächelte ihnen aufmunternd zu und ging dann schon mal in Richtung Burg Winterfels.
»Ich zeige euch noch, wo wir uns morgen nach dem Frühstück treffen, dann seid ihr fertig für heute«, erklärte er, während die Schüler ihm folgten.

Unterwegs redeten sie das, wofür sie oben auf der Tribüne zu begeistert gewesen waren. So erklärte Levi Jan noch einmal, wie denn Quidditch nun funktionierte und auch wenn Jan die Regeln immer noch nicht bis ins letzte Detail verstand, wusste er wenigstens jetzt, dass man nicht in Carls sondern auf Besen flog. Und er musste ehrlich zugeben, dass er etwas aufgeregt war, als er auf seinem Stundenplan sah, dass er bereits am nächsten Montag seine erste Flugstunde haben würde.

Er war so in sein Gespräch vertieft, dass er überrascht war, als sie bereits nach kurzer Zeit wieder bei den Stallungen ankamen. Herr Lurcus führte sie an einigen hölzernen Hütten vorbei und hielt an einer Feuerstelle an, um die einige Baumstümpfe als Sitze aufgestellt worden waren. »Hier treffen wir uns morgen«, sagte er. Er klang so, als hätte er noch etwas sagen wollen, doch er verstummte augenblicklich und warf einen verwunderten Blick auf einen Gang, der zwischen zwei Ställen entlangführte. »Das kann doch nicht schon wieder passiert sein«, murmelte er verwundert und Jan versuchte erfolglos zu erkennen, was Herrn Lurcus so verwunderte. »Kommt mal bitte mit!«, forderte der Lehrer die jungen Haistras auf und ging langsam auf den Gang zu. »Hier war etwas. Es scheint ganz so, als wäre eines meiner Tiere wieder ausgebrochen.«

»Ein Tier?«, flüsterte Jan besorgt. Er dachte an das Einhorn, das er eben gesehen hatte. Wenn es Einhörner gab, existierten dann vielleicht auch Drachen, Seeschlangen und Vampire? »Denkt ihr, das ist gefährlich?«
»Es gibt keine gefährlichen Tiere«, meinte Filio überzeugt. »Im Herzen jedes vermeintlichen Ungetüms schlummert ein Schmusekätzchen.«
Lina sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Wen auch immer du gerade zitiert hast, ich bin mir sicher, es waren seine letzten Worte bevor er von einem Ungarischen Hornschwanz verspeist wurde.«

Sie verstummte, als sie sah, dass Herr Lurcus stehengeblieben war.
»Doch kein Tier ausgebrochen«, murmelte er und drehte sich zu seinen Schülern um. Dabei trat er einen Schritt zur Seite, sodass Jan sehen konnte, was sein Lehrer schon kurz zuvor entdeckt hatte. Vor einem steinernen Gebäude stand ein Mann in einem kastanienbraunen Anzug. Mit seiner einen Hand hielt er ein Klemmbrett, während er mit der anderen die Wand abtastete.

»Ich habe keine Ahnung wer das ist, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er hier nichts zu suchen hat«, meinte Herr Lurcus kopfschüttelnd. »Wartet hier einen Moment auf mich. Ich bin gleich wieder da.«
Dann ging er ein paar Schritte auf den Fremden zu.
»Guten Tag!«, rief er ihm zu. »Was genau tun sie hier?«

Augenblicklich wirbelte der Mann herum und machte mit seiner Hand eine rasche Bewegung hinter seinen Rücken.
»Haben Sie mich erschreckt«, stieß er hervor und trat ein paar Schritte näher. Jan konnte nun sein Gesicht besser erkennen. Es war schmal und kantig und mit mittellangen, unordentlichen Haaren bedeckt. Ein buschiger Oberlippenbart wucherte über seine Lippen und sah so aus, als hätte er eine Rasur dringend nötig.
»Karsten Klein mein Name«, stellte der Fremde sich vor, »ich wurde vom Ministerium beauftragt die jährliche Überprüfung durchzuführen.«
Er hob ein Klemmbrett mit einigen Zetteln in die Höhe. Herr Lurcus musterte ihn kritisch.

»Sie waren in den Ferien erst da«, entgegnete er verwundert. »Da sagten Sie, es seien keine Mängel zu erkennen. Außerdem muss immer eine Fachperson bei Ihnen sein.«
Der Fremde ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen.
»Ein Stall war nicht nach den aktuellen Vorschriften überprüft worden. Die Abteilung für den Schutz magischer Geschöpfe nimmt es sehr genau mit den Formularen, müssen Sie wissen. Aber jetzt sollte alles ausgefüllt sein, ich werde Sie nun also nicht weiter stören.«

Er senkte den Kopf zum Abschied und verschwand dann hinter dem steinernen Stall. Herr Lurcus sah ihm misstrauisch nach.
»Herr Klein wird von Besuch zu Besuch merkwürdiger«, meinte er. »Und er schaut so aus, als hätte er sich seit der Überprüfung in den Ferien jeden Tag eine Flasche von Dr Filibusters Haarwachstrunk genommen. Ich kontrolliere mal lieber, ob er auch wirklich unser Schulgebäude verlässt. Geht ihr ruhig schon ins Schloss und genießt euren freien Nachmittag. Wir sehen uns morgen nach dem Frühstück an der Feuerstelle.«
Und ohne ein weiteres Wort folgte er Karsten Klein hinter den steinernen Stall.

Filio sah ihm skeptisch hinterher.
»Das sind ganz schön viele merkwürdige Sachen auf einmal, oder? Also die Linie bis zu der ich noch an Zufälle glaube, wurde auf jeden Fall überschritten.«
Jan nickte zustimmend. Auch für ihn wirkte das alles ziemlich auffällig. Herr Klein war genau fertig gewesen, als Herr Lurcus ihn entdeckt hatte. Möglicherweise hatte der Hausöehrer ihn auch einfach bei etwas ertappt, das niemand wissen durfte.

Du fantasierst, hörte er die liebevolle Stimme seiner Mutter in seinem Kopf, wie sie es immer gesagt hatte, wenn er im Grundschulalter ihrer Nachbarin ein Verbrechen unterstellt hatte. Immer wenn sie konzentriert den Zaun zum Grundstück von Jans Familie entlanggelaufen war, hatte Jan sie misstrauisch aus dem Fenster beobachtet und hinterher, mit dem Gefühl ein echter Detektiv zu sein, seiner Mutter davon berichtet. Nur weil sich manche Leute anders verhalten als wir, macht sie das noch lange nicht zu Verbrechern.

Mittlerweile wusste Jan, dass seine Nachbarin bloß einigen abergläubischen Lehren anhing und ihren ganzen Garten, inklusive der Grundstücksgrenze zu Jans Familie, nach gesundheitsschädigenden Wasseradern abgesucht hatte. Doch mit jedem Gedanken an Herrn Klein kehrte sein Detektivsinn zurück. Das konnte nicht richtig sein. Herr Klein hatte viel zu ertappt gewirkt, um tatsächlich ein Mitarbeiter des Ministeriums zu sein.

»Wollen wir ihm auch folgen?«, fragte er nachdenklich. »Nicht dass er ein Betrüger ist und Herr Lurcus in eine Falle tappt.«
»Wir wollen es jetzt auch nicht übertreiben«, entgegnete Lina. »Klar, der Kerl war ziemlich komisch, aber so Leute gibt es nun mal. Ich habe mich einmal aus Versehen mal in eine zwielichtige Gasse Berlins verirrt. Da gab es Leute, gegen die sah Herr Klein noch gepflegt aus.«

»Ich wäre eigentlich mitgekommen«, meinte Hannes und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Aber ich habe meinen Freunden aus Ehura vereinbart, dass wir uns um 15 Uhr im Bibliotheksflügel treffen. Ich bin sowieso schon zu spät. Ich hoffe, ihr nehmt es mir nicht böse, wenn ich mich jetzt auf den Weg mache.«
»Das ist kein Problem«, meinte Levi freundlich. »Wir erzählen dir dann heute Abend beim Essen, was passiert ist.«

»Wenn wir bis dahin nicht von einem Yeti aufgefressen worden sind, weil wir der Meinung waren, dass es eine gute Idee wäre, auf der Suche nach einemkomisch aussehenden Ministeriumsangestellten zwischen diesen Ställen hier herumzulaufen«, ergänzte Lina. Doch Hannes hörte sie wahrscheinlich schon nicht mehr. Er hatte sich bereits mit schnellen Schritten auf den Weg in die Burg gemacht.

»Er trifft sich mit den Ehuras?«, fragte Filio gespielt beleidigt. »Ich bin der Meinung, wir lassen Karsten Klein Herrn Lurcus' Sache sein und veranstalten ein Alternativprogramm. Damit er sieht, dass man bei uns viel mehr Spaß haben kann und das nächste Mal bei uns bleibt. Wie wäre es mit ›das verhexte Labyrinth‹? Kennt ihr das?«
»Das verhexte Labyrinth?«, fragte Jan überrascht. »Das wo man sich mit den verschiedenen Plättchen einen Weg zu den verschiedenen Zielen schieben muss?«

»Das hört sich nach der Muggelversion davon an«, erkannte Levi. »Beim ›verhexten Labyrinth kannst du reichlich wenig schieben. Da bewegen sich die Plättchen so wie sie Lust und Laune haben.«
Jans Mundwinkel zuckten. Bereits ›Bertie Botts Bohnanza‹ hatte ihm großen Spaß gemacht. Aber das hier hörte sich noch einmal aufregender an. Karsten Klein wirkte auf einmal nicht mehr ganz so rätselhaft. Und so war Jan immer mehr davon überzeugt, dass es nichts Besonderes mit dem Ministeriumsangestellten auf sich hatte. Er hatte in den letzten Tagen sich bewegendes Geschirr, fliegende Tribünen und leuchtende Holzstäbe gesehen. Ein schrulliger Fremder war da doch wirklich nichts Erwähnenswertes.
»Das Spiel möchte ich unbedingt kennenlernen. Worauf warten wir noch?«

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