Kapitel 32 - Quentin

Hätte man Jan vor einer Woche gefragt, ob die Situation in Winterfels noch schlimmer werden konnte, hätte er dies verneint. Seine Schule war seit Monaten belagert, er konnte seinen Eltern nicht schreiben, die Schulgemeinschaft war im heftigen Streit. Doch seit den Ereignissen zwischen den Gewächshäusern wusste er, dass sich die Lage noch weiter verschärfen konnte. Zu dem Gefangenschaftsgefühl gesellte nun noch eine Unsicherheit, die Jan ganz und gar nicht gefiel. Das Wissen, dass dieser Pettigrew es auf das Schulgelände geschafft und dort einen Lehrer angegriffen hatte, versetzte ihn in große Sorge. Konnten die Belagerer auch einfach in ihre Burg eindringen?

Jan schien nicht der einzige zu sein, den das beunruhigte, denn auch die Zahl der Fluchtversuche mehrte sich. Während am Tag nach dem Kampf zwischen Jorski und Pettigrew bereits zwei Viertklässler nur von der Wache haltenden Frau Relting aufgehalten werden konnten, gab es doch direkt am ersten Tag nach den Ferien schon wieder einen Ausbruchsversuch.

Herr Goldenberg erzählte ihnen davon, als er genervt blickend wieder zu ihnen in den Deutschunterricht kam.
»Bitte versprecht mir, dass ihr nicht versucht, auf eigene Faust zu entkommen«, meinte er, als er wieder auf seinem Stuhl Platz nahm. »Als ich die roten Funken gesehen habe, dachte ich, weiß Merlin was ist los und dann ist es wieder nur ein Schüler, der denkst er könnte dunkle Magier austricksen.«
Er seufzte tief.

»Aber die Funken kamen doch von der Seite die ins Tal zeigt«, wandte Filio ein. »Wie soll man denn da entkommen. Der Bann ist doch da vollkommen zu.«
Herr Goldenberg hob seine Augenbrauen.
»Schön, dass du das begriffen hast«, sagte er schwach lächelnd. »Dieser junge Mann wollte den Bannzauber aufheben und ist dabei fast den Berghang hinuntergefallen. Er hat sich nur mit einem Zauber an einem Stein festgehalten und hätte er keine Funken benutzt, hätten wir ihn da bis zum Abendessen nicht gefunden.«

Filio hob gerade die Hand zu einer weiteren Nachfrage, aber Herr Goldenberg winkte ab.
»Vergleichen wir lieber weiter eure Aufgaben. Mit welchem s schreibt man denn Kessel?«

Jan konnte sich nicht wirklich auf den Unterricht konzentrieren. Der Gedanke an die verzweifelten Schüler ging ihm nicht aus dem Kopf. Tuplantis sorgte mit seinem Abwarten-Prinzip für viel Unzufriedenheit in der Burg. Jan erinnerte sich an seinen Vater, der sich immer über die Politiker beschwert hatte und oft einige Lösungen parat gehabt hatte, was man denn besser machen könnte. Seine Pläne zur Rentenreform hatten sich für Jan nicht selten so angehört, als habe er jahrelang Gesellschaftswissenschaften studiert.
Doch Jan hatte keinen Vorschlag, was Tuplantis anders machen sollte. Auch er fand die Lage aussichtslos und wusste einfach nicht, wie man aus der Hand ihrer Feinde herauskam.

»Und womit schreiben wir Wampuskatze, Jan?«, rief Herr Goldenberg ihn aus seinen Gedanken. Jan seufzte. Der Lehrer für Flugunterricht und Deutsch hatte ein Talent dafür, Schüler aus ihren Überlegungen zurück in den Unterricht zu reißen. Und so versuchte er, sich auf die Rechtschreibung zu konzentrieren und alles andere für einen Moment zu vergessen.

Während die Situation in Jan ziemlich viel Sorge hervorrief, weckte sie Filios Erfindergeist. Sobald die Doppelstunde Zaubertränke vorbei war, machte sich der Junge mit der Igelfrisur auf in den Gemeinschaftsraum, um an seiner Maschine weiterzutüfteln. Er war in der zweiten Ferienwoche quasi mit dem Bauplan ins Bett gegangen und hatte ihn manchmal sogar mit zum Frühstück genommen. Außerdem hatte er für jedem Zauber, den er anwenden wollte, eine ausführliche Recherche in der Bibliothek durchgeführt. Am Freitagabend hatte er dann seine Zeichnung endlich für vollendet erklärt und den ganzen Samstag damit verbracht, den mechanischen Teil der Arbeit auszuführen. Hätte Levi ihn nicht eindringlich dazu aufgefordert, dann hätte er vermutlich außer dem Frühstück nicht einmal etwas zu Essen zu sich genommen, von den Brause-Carls abgesehen, die zwischen den Lilienthalschrauben und Enzyklopädien einen erheblichen Teil seines Arbeitsplatzes einnahmen. Am Sonntag hatte er dann die anderen Erstklässler aus Haistra, sowie einige Ehuras zu sich geholt, um die ersten Zauber anzuwenden. Und er hatte sich fest vorgenommen, sein Werk am ersten Schultag nach den Osterferien noch zu vollenden.

Daher saß der manchmal etwas chaotische Schüler schon aufgeregt neben seiner Maschine, als Jan, Levi und Anna eintraten.
»Endlich seid ihr auch da«, begrüßte er sie, als sie sich zu ihm an den Tisch setzten. »Ein Streeler wäre schneller die Treppe hochgekommen als ihr.«

Levi verdrehte lachend die Augen.
»Nur weil du gerast bist, wie auf einem Rauchschweif X, macht das uns nicht gleich zu Riesenschnecken«, entgegnete er scherzhaft.
Jan betrachtete unterdessen Filios Maschine. Der Holzwürfel war immer noch immer der selbe wie im ersten Versuch. Auf ihm war nun allerdings ein roter, zylinderförmiger Körper befestigt.

»Wollten Henry und die anderen Ehuras nicht auch wieder kommen?«, fragte Filio gerade enttäuscht.
»Hannes hat gesagt, sie wollten noch ihre Fließdiagramme für Zaubereigeschichte zeichnen«, erinnerte sich Anna. »Marina und Lina sollten allerdings gleich noch kommen.«
»Außer Lina ist unterwegs Max begegnet«, lachte Filio. Danach wurde er allerdings wieder ernster, so wie man es eigentlich nicht von ihm kannte. »Eigentlich wollte Henry doch den Dreh-Zauber ausführen. Der ist echt schwierig. Aber zum Glück haben wir ja dich Anna. Du schaffst das natürlich auch.«

Doch das Mädchen war sich da nicht so sicher.
»Du weißt doch, dass mir die Theorie mehr liegt, als das Anwenden«, wandte sie vorsichtig ein. »Ich benutze lieber meinen Kopf als meinen Zauberstab. Ich weiß nicht, ob du da die Richtige fragst.«
Filio sah sie mit gespieltem Entrüsten an und ehe er zu einem Widerspruch ausholen konnte, ging Levi dazwischen.
»Dann frage ich eben Noah«, erklärte er und machte sich ohne auf möglichen Widerspruch zu warten auf den Weg zum Schlafsaal der Viertklässler.

Kurz nachdem er hinter einer Wand verschwunden war, kamen Lina und Marina in den Gemeinschaftsraum.
Sie flüsterten kichernd miteinander und Marina deutete auf Jan und die anderen, als sie ihre Freunde entdeckt hatte.
»Bauen wir ausnahmsweise mal an einer Maschine?«, kommentierte Lina spitz das Vorhaben der anderen, während Marina sich mit einem gut gelaunten Lächeln auf einen Stuhl neben sie setzte.

Filio ignorierte Linas Satz und wandte sich stattdessen wieder an die ganze Gruppe.
»Stellt euch vor, wenn wir die Alarmsirene fertig verzaubert haben, dann können wir die Maschine heute Abend schon in Betrieb nehmen.«
Ein Lächeln schlich sich auf Jans Gesicht. Er freute sich für seinen Freund, dass sein Plan endlich in Erfüllung zu gehen schien. Er erinnerte sich noch an den Tag, als Levi und er in den Schlafsaal gekommen waren und Filio angefangen hatte, die Zeichnung zu entwerfen. Er hatte wirklich gewissenhaft und zielstrebig an seinem Ziel gearbeitet.

»Sollte dann noch einmal jemand das Schulgelände betreten, der es nicht betreten soll, dann wird es aber laut hier auf der Burg«, fuhr Filio fort.
»Dann kann uns ja jetzt nichts mehr passieren«, meinte Marina lachend.
Sie alle wussten, dass Filios Maschine kein Wunderwerkzeug war, auch wenn Jan sich bei Filio da manchmal nicht so sicher war. Aber außer Lina hatten sie immer gerne daran gearbeitet und die gemeinsame Zeit hatte sie ähnlich verbunden, wie die Lilienthalschrauben die Holzplatten der Maschine.

Doch Levis Wiederkommen kurze Zeit später dämpfte ihre Euphorie.
»Er war einfach nicht da«, stellte er entrüstet fest, »Sein Zimmermitbewohner Mats Rehberg hat mir aufgemacht und gesagt, dass er ihn seit Ende der letzten Stunde noch nicht gesehen hat.«
»Vielleicht ist er auch einfach noch nicht im Gemeinschaftsraum angekommen«, warf Lina ein. »Es ist schließlich nicht jeder so schnell die Treppe hinaufgeeilt, wie ihr.«
»Aber wir mussten doch schon so lange unsere Kessel sauber machen und haben deshalb total überzogen«, widersprach Filio.

»Schaffen wir den Zauber denn nicht selbst?«, fragte Marina vorsichtig und warf einen Blick auf die Zeichnung.
Filio drehte diese so, dass die blonde Schülerin sie sehen konnte.
»Das darfst du liebend gerne machend«, meinte er und schob auch die Maschine ein Stück zu ihr.
»So war das jetzt nicht gemeint«, lachte Marina. Schnell schob sie Filio den Bauplan zurück.

Der Junge sah nachdenklich zu den anderen, die am Tisch saßen.
»Anna, dann läuft es wohl doch auch dich hinaus.«
Das angesprochene Mädchen schmunzelte leicht und schien noch nach einer passenden Antwort zu überlegen. Jan fiel auf, dass sie fast nie etwas Unbedachtes sagte und ihre Worte immer Hand und Fuß hatten, wie es sein Vater sagen würde.
»Schon gut, ich übernehme das«, bot sich Levi an und zog seinen Zauberstab aus einer Halterung an seinem Gürtel. »Wie heißt denn der gute Spruch?«

Filio schob den Bauplan in seine Richtung und zeigte auf eine Stelle, woraufhin Levi sie mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete.
»Ach du rotes Erinnermich«, stieß er hervor. »Gab es denn keinen kürzeren Zauberspruch?«
Filio blätterte unterdessen in einem seiner ausgeliehenen Bücher herum. Als er die richtige Seite gefunden hatte, hielt er auch die Levi hin.
»Eine Erklärung zur Bewegung und zur richtigen Betonung«, präsentierte er.

»Vielleicht wäre es besser, wenn du es erst einmal an etwas anderem versuchst«, schlug Anna vor und schob eine übrig gebliebene Holzwand zu Levi.
»Wäre wahrscheinlich das beste«, stimmte der zu und begann, sich an Filios Zauberspruch zu üben.

Als sie später zum Abendessen gingen, stand auf dem Tisch im Schlafsaal eine vollkommen fertige Maschine. Laut Filio sollte sich der rote Zylinder auf dem Holzwürfel drehen und wild anfangen zu leuchten, sobald jemand das Schulgelände betrat, der dort nicht erwünscht war. Jan zweifelte allerdings, ob das wirklich funktionieren würde. Diesmal war er mit dieser skeptischen Haltung noch nicht einmal alleine. Während Lina immer mal wieder einen spöttischen Ton über das Projekt fallen ließ, schien auch Hannes die Lust am Bauen verloren zu haben. Der Junge war den ganzen Nachmittag über nicht aufgetaucht, ebenso wenig wie Levis großer Bruder Noah. Bei Hannes vermuteten sie alle, dass er bei seinen Freunden aus Ehura war, aber dass Noah nicht erschienen war, hatte Levi sehr überrascht. Er hatte immer mal wieder seine Hoffnungen geäußert, sein großer Bruder würde ihnen beim Bau helfen.

»Der weiß schon, was ihm blüht«, lachte Levi, als sie den Innenhof betraten und er auch dort seinen großen Bruder nicht auffinden konnte. »Ich will gar nicht wissen, wie oft ich diesen Drehzauber ausprobieren musste. Und er hätte das bestimmt mit Leichtigkeit geschafft.«

»Ich seh schon Filio, bald brauchen wir auch noch eine Maschine, die vermisste Leute aufspürt«, scherzte Lina. Auch wenn das eigentlich nicht wirklich ernst gemeint war, schien dem Jungen die Idee zu gefallen. Nachdenklich begann er davon zu reden, ob man dafür nicht den gleichen Holzkörper nehmen konnte, wie für seine Alarm-Maschine.

Schmunzelnd nahm Jan zwischen Levi und Anna Platz. Er war froh, dass er sich mit den Leuten aus seinem Haus so gut verstand. Er wollte sich gar nicht ausmalen, wie es wäre, wenn er nicht nur von der Außenwelt abgeschottet, sondern auch aus der Klassengemeinschaft isoliert wäre. Es war einfach schön für den Jungen zu wissen, dass er hier Leute um sich hatte, die ihn mit seinen schwierigen Eigenschafen und fragwürdigen Theorien unterstützten und ihn einfach in ihrem Freundeskreis aufnahmen.

»Wäre es nicht auch möglich, eine Maschine zu bauen, die ein Hilfesignal an das Ministerium schickt?«, überlegte Levi gerade und lenkte Jans Gedanken wieder auf das Tischgespräch.
»Sie müssten ja noch nicht mal an das Ministerium gehen«, fügte er hinzu. »Die nächsten Zauberer würden schon reichen.«
»Die könnten dann Haas benachrichtigen und der schickt dann Auroren nach Winterfels«, vollendete Levi seine Idee.

»Aber auf die Idee wären die Lehrer bestimmt auch schon gekommen, oder?«, wandte Marina ein.
Jan sah erwartungsvoll zu Filio. Der schien allerdings noch in Überlegungen vertieft, weshalb Anna sich einschaltete.
»Dafür müssten wir den Bannzauber übergehen«, sagte sie mit ihrer ruhigen Stimme. »Das geht allerdings nicht. Es ist, als wolltet ihr ein Pferd durch eine Mauer laufen lassen.«

Plötzlich verstummte sie. Im angrenzenden Flur waren laute Schritte zu hören. Aufgeregt sah Jan die kalte Steinwand an, hinter der das Geräusch ertönte. Jemand musste eilig auf den Innenhof zulaufen. Während er noch grübelte, wurde das Tor ruckartig aufgestoßen.

Zum Vorschein kam ein etwas älterer Schüler. Seine Cargohose war vollkommen verdreckt und seine braunen Haare standen unordentlich zu allen Seiten ab. Jan erkannte ihn als Aaron, einen guten Freund von Levis großem Bruder. Das Erschreckendste an seinem Erscheinungsbild war aber nicht die verdrecke Kleidung oder das ungepflegte Aussehen, sondern, was er in den Armen trug. Es war ein Junge, sogar etwas größer als Aaron selbst. Doch seine Arme und Beine hingen schlaff nach unten, ebenso wie der Kopf. Jan konnte das Gesicht nicht wirklich erkennen, aber es war auch so schon ein widerlicher Anblick. Von dem nachtschwarzen Kapuzenpullover tropfte Blut, keine einzige Bewegung ging von dem Körper aus.

Ein erschrockenes Raunen ging durch den Innenhof, vereinzelt schrien Schüler auf. Am Lehrertisch sprang die Krankenschwester mit entsetztem Gesichtsausdruck auf und eilte durch den Mittelgang.
»Es ist zu spät, Tilde«, presste Aaron mit erstickter Stimme hervor. »Es ist zu spät. Quentin ist... er ist tot!«
Mit diesen Worten brach er laut keuchend zusammen.

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