Kapitel 24 - Von der Außenwelt abgeschottet

Nach dem Abendessen machten sich Jan und die anderen Haistras auf den Weg in ihren Gemeinschaftsraum. Eigentlich hatte Jan seinen Eltern noch einen Brief schreiben wollen, aber das war jetzt wohl schlecht möglich. Ein schlechtes Gewissen überkam ihn, als er daran dachte, wie viele Sorgen sie sich vermutlich um ihn machen würden, wenn sie mehrere Wochen keinen Brief von ihm bekamen. Erneut bedauerte er es, dass Herr Hausmann einen Bannzauber für Mobilfunkstrahlen über Winterfels eingerichtet hatte, da diese sonst den Apparierbann beschädigen konnten. Andernfalls hätte er jetzt problemlos seinen Eltern eine WhatsApp-Nachricht schreiben können. Vielleicht hätte man so auch Kontakt zum Deutschen Zaubereiministerium aufnehmen können und dieses wiederum hätte ihnen in ihrer misslichen Lage helfen können. Aber es brachte nichts, zu überlegen, was er mit einem Handy alles machen könnte, denn es gab hier nunmal keinen Empfang. Seufzend stieg er die Treppen zum ersten Stock empor.

»Kommst du mit mir nochmal kurz in die Bibliothek?«, fragte Filio Anna, als sie oben angekommen waren.
Diese sah ihn zwar kurz verwundert an, nickte dann aber leicht.
»Ja, klar«, antwortete sie mit ihrer ruhigen Stimme.
Die anderen fünf sahen ihnen fragend hinterher.
»Wenn die Lage nicht so ernst wäre, würde ich behaupten, sie wären sich auf der Tribüne nähergekommen«, meinte Hannes und schüttelte ratlos den Kopf. »Wird schon irgendeinen Grund haben.«

Schweigend gingen sie in ihren Gemeinschaftsraum und setzten sich in eine Ecke des großen Zimmers. Es war für Jan ein ungewohnter Anblick, Hannes bei ihnen sitzen zu sehen, da er normalerweise viel Zeit bei seinen Freunden aus Ehura verbrachte. Aber vermutlich war man in Zeiten der Sorge doch lieber bei seinem eigenen Haus, das laut Herrn Tuplantis ja eine Art Ersatzfamilie darstellte.

»Was denkt ihr haben die vor?«, brach Jan schließlich das besorgte Schweigen. »Diese Männer, die unseren Zauberbann manipuliert haben und unsere Eulen abfangen. Warum machen die so etwas Denkt ihr, sie wollen uns... töten?«

»Sie werden uns wohl kaum alle umbringen«, antwortete Lina nach kurzem Überlegen. »Das bringt ihnen ja gar nichts. Und auch wenn die Gefängnisausbrecher nach so vielen Jahren in Askaban verrückt im Kopf sind, muss noch jemand über ihnen stehen, der einen klaren Plan hat. Er muss irgendetwas mit uns vorhaben, was ihm für ein größeres Ziel hilft.«

»Vielleicht geht es auch gar nicht um uns, sondern um unsere Lehrer«, warf Hannes ein. »Einer meiner Freunde aus Ehura, bekommt monatlich den Ökonomagier, eine Zeitschrift über Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Sein Vater ist der Leiter der Abteilung für magisches Wirtschaftsgeschehen und legt daher höchsten Wert darauf, dass sein Sohn entsprechend gebildet ist. Diesen Monat gab es einige Seiten über die Superlative der deutschen Zauberergesellschaft: exportstärkste Unternehmen, reichste Zauberer, aber auch die talentiertesten Zauberer und Hexen sind thematisiert worden. Viele unserer Lehrer sind dort vertreten. Herr Tuplantis stand auf Rang zwei, nur der Rüdiger Repertor, der Gründer von MuggelMag, war vorihm. Herr Hausmann war vierter, Frau Relting auf Platz fünf und Herr Goldenberg und Frau Schmidt waren auch in den Top10 vertreten. Fast nirgendwo in Deutschland findet man so viele Experten der Zauberkunst wie hier. Und im Vergleich zum Innovationszentrum von MuggelMag sind die Lehrer hier schrecklich ungeschützt. Es wäre also jetzt gut möglich für die Bösen, uns so lange zu bedrohen bis die Lehrer auf ihre Seite wechseln.«

Eine betroffene Stille trat ein. Jan war erstaunt, wie schlecht er seinen Hauskamerad kannte. Er hätte Hannes nie zugetraut, so schlau verschiedene Informationen zusammenzuführen.
»Herr Jürgens und Herr König wären mit Sicherheit auch auf der Liste gewesen«, meinte Marina, »vielleicht wollen sie auch die Macht in Deutschland übernehmen und alle talentierten Magier, die ihnen dafür in die Quere kommen könnten, Stück für Stück beseitigen.«
Wieder wurden die fünf eine Zeit lang still. Wenn Marinas Theorie stimmte, was würde man dann mit ihnen machen? Sie auch einfach beseitigen? Oder gar zwingen, den Mördern ihrer Lehrer zu helfen?

»Das sind ja alles gute Theorien«, sagte Lina schließlich. »Aber wir wissen einfach zu wenig, um sagen zu können, wie es wirklich ist. Wir könnten noch hunderte solcher Szenarien entwerfen. Sogar welche, bei denen Herr Jorski mit unseren Feinden verbündet ist. Um sagen zu können, was wirklich los ist, brauchen wir mehr Informationen. Und wenn Tuplantis die uns morgen nicht geben kann, sollten wir überlegen, sie uns selbst zu beschaffen.«

Jan wollte gerade etwas zu ihrer Anspielung auf seine Herr-Jorski-Theorien entgegnen, als Filio und Anna den Gemeinschaftsraum betraten. Filio hatte ein Buch von der Größe eines Schuhkartons in seinen Händen und hatte sichtlich Mühe, es zu tragen. Dabei redete er schnaufend vor sich hin, was ihm ein paar verwunderte Blicke von einigen Zweitklässlern einbrachte.
Allerdings gesellten die beiden sich nicht zu ihnen, sondern gingen auf ihre Schlafsäle zu, wo sie sich voneinander verabschiedeten und dann in ihren Zimmern verschwanden.

»Was nur mit dem los ist«, wunderte sich Hannes kopfschüttelnd. »Das ganze Schuljahr hat er nichts gelesen, außer den Anleitungen für seinen Experimentierkasten, und jetzt kommt er mit dem dicksten Buch an, das die Bücherei zu bieten hat.«
»Sollen wir mal zu ihm gehen und nachschauen?«, fragte Jan besorgt.
Doch Levi schüttelte den Kopf.
»Wenn er mit uns reden wollte, wäre er zu uns gekommen«, entgegnete er. »Scheint so, als wollte er seine Ruhe haben.«
Seine Ruhe, das hätte Jan auch mal ganz gerne. Aber nicht von seinen Klassenkameraden, sondern von den ganzen Gefahren, die in Winterfels lauerten. Warum konnte er nicht einfach ein ruhiges erstes Schuljahr haben?

Als Levi, Hannes und er später am Abend ihren Schlafsaal betraten, saß Filio an seinem Schreibtisch und hatte ein großes Blatt Papier vor sich liegen. Daneben lag der dicke Wälzer, den er aus der Bücherei mitgebracht hatte. Der Junge mit der Igelfrisur hatte einen Bleistift in der Hand und kritzelte konzentriert auf dem Papier herum.
Neugierig warf Jan einen Blick über Filios Schulter, konnte aber nicht erkennen, was sein Mitschüler da zeichnete. Kreise, Vierecke und wellenförmige Linien wechselten sich mit schraffierten Feldern und unleserlichen Beschriftungen ab.

»Was genau wird das Filio?«, fragte Jan vorsichtig.
»Mein Beitrag zum Schutz dieser Schule«, antwortete Filio knapp, ohne dabei von seinem Papier aufzusehen. Dann drehte er sich zu seinem Buch um und begann, wenig strukturiert darin herumzublättern.
Jan und Levi warfen sich verwunderte Blicke zu. Gerade als Jan noch etwas nachhaken wollte, schlug Filio das Buch zu und drehte sich zu ihnen um.
»Schaut euch meinen Baum an!«, sagte er schwach lächelnd und deutete auf den Buchenspross in seinem bunt angemalten Topf. »Wenn ich mal irgendwelche Punkte durch Glück oder eure Hilfe bekomme, dann zieht entweder Herr Egger sie mir wieder ab, weil er mein Englisch nicht mag, oder Frau Relting, weil sie meinen Humor nicht mag. Und im Unterricht bin ich eben nicht so gut wie ihr, um da ordentlich zu punkten.«

»Und deswegen willst du jetzt das ganze Buch da auswendig lernen?«, fragte Levi verwundert und warf einen Blick auf den Titel. »McGonagalls & Flitwicks gesammelte Enzyklopädie der Zaubersprüche. Das schaut nach ganz schön vielen aus.«
Filio begann laut zu lachen.
»Glaubst du wirklich, das würde ich schaffen?«, entgegnete er mit hochgezogenen Augenbrauen und schüttelte den Kopf. »Nein, ich mache etwas, das ich wirklich kann. Ich bin ein Haistra. Ich bin kreativ. Ich baue eine Erfindung, die unser Schulgelände schützt. Sie zeigt an, wenn jemand das Schulgelände betritt und fängt dann wie eine Sirene an zu heulen. Und wenn die fertig ist, baue ich noch eine, die uns beschützt, sollten wir wirklich angegriffen werden.«

Jan war wirklich überrascht über die Idee des Jungen. Allerdings musste er ehrlich sagen, dass er daran zweifelte, ob ein Erstklässler so etwas besser hinbekommen würde, als ihre Lehrer, wo er doch eben erst gehört hatte, wie talentiert sie waren. Ob Filios Idee also von großem Nutzen war, stellte er in Frage. Das konnte er so aber auf keinen Fall sagen, noch zudem Filio wegen seinem Baum tatsächlich etwas geknickt zu sein schien. Also warf er einen fragenden Blick zu Levi. Der nickte bestätigend.
»Wir helfen dir«, versicherte Jan.
»Und ich auch«, ergänzte Hannes. »Ich frage morgen Leif und die anderen, ob die auch mitmachen. Nichts gegen unsere Zauberkünste, aber wir müssen uns einfach eingestehen, dass die Ehuras in manchen Sachen ein bisschen besser sind als wir.«
Ein fröhliches Lächeln huschte über Filios Gesicht, so wie man den Jungen eigentlich kannte.
»Ich danke euch.«

Am nächsten Morgen erzählte Filio auch Lina und Marina von seiner Idee. Wie Jan es bereits vermutet hatte, war Lina auch dieser Idee gegenüber skeptisch eingestellt.
»Wenn du irgendwelche neuen Zauber dafür ausprobierst und am Ende der ganze Haistraflügel in Flammen steht, haben wir nichts gewonnen«, warf sie ein.
Marina hingegen sagte Filio ihre Mitarbeit zu, auch wenn Jan das Gefühl hatte, dass sie mehr eine Ablenkung von den Sorgen um ihre aktuelle Situation brauchte, als dass sie wirklich glaubte, Filios Idee könnte etwas bewirken.

Eine Ansprache von Herrn Tuplantis hielt die Haistras dann allerdings davon ab, mehr über ihren Plan reden zu können.
»Guten Morgen liebe Schüler«, grüßte er in seiner gewohnt ruhigen Art. »Es tut mir zwar leid, dass ich eure Tischgespräche unterbrechen muss, aber die aktuellen Umstände haben mich zu einer erneuten Informationsmitteilung gezwungen. Wir haben uns gestern Abend noch lange beratschlagt und sind zu dem Entschluss gekommen, dass wir einige schwerwiegende Maßnahmen ergreifen müssen. Jeder von euch Schülern könnte in eine Situation geraten, in der er sich plötzlich verteidigen muss. Da vor allem aber unsere jüngeren Schüler in diesem Bereich noch wenig ausgebildet worden sind, bitte ich die Lehrer für die Fächer magische Politik und Wirtschaft, Deutsch und Englisch, ihren Unterricht auf praktische Selbstverteidigung abzuändern. Das Leben der Schüler sollte nun höchste Priorität haben und wie das Zaubereiministerium aufgebaut ist, können sie auch im nächsten Jahr noch lernen. Die Quidditchwochen müssen leider abgebrochen werden. Ob sie noch fortgeführt werden, wenn sich die Situation gebessert hat, ist unklar. Außerdem ist es weiterhin verboten, Briefe zu schreiben. Vielleicht wird die Außenwelt irgendwann misstrauisch und hilft uns.
Ich möchte noch einmal wiederholen, dass dies reine Vorsichtsmaßnahmen sind. Wir als Kollegium gehen aktuell von keiner ernsthaften Gefahr für euch Schüler aus, wollen aber keineswegs zu spät handeln.«

Doch Jan hörte den letzten Sätzen gar nicht mehr zu. Er wollte sie gar nicht richtig hören und ihnen schon gar keinen Glauben schenken. Vielleicht konnten diese Gauner auch einen Lebensbann über ihre Schule hängen, der sie alle umbringen würde. Schließlich hatten sie es ja auch geschafft, den Bannzauber des „großen Bannexperten" Ray Grimmson zu manipulieren. Jan hatte keine Ahnung, was mit Magie alles möglich war. Er überlegte kurz, ob er einmal in der Bücherei nach einem Buch über lebensgefährliche Bannzauber suchen sollte, entschied sich aber schnell dagegen. Er wollte gar nicht wissen, was es alles gab. Ein Wissen über einen möglicherweise lebensgefährlichen Zauber würde die Angst in ihm nur noch größer machen.

Während er über seine Sorge vor den Gefahren nachdachte, fiel ihm ein Satz ein, der auf die große Zitatwand im Erdgeschoss geschrieben war. Es ist meine Überzeugung, dass wer sich sorgt, zweimal leidet, stand dort. Jan wusste zwar nicht mehr, von wem das Zitat stammte, aber er fand, dass es etwas Wahres hatte. Vielleicht sollte er das Ganze etwas entspannter sehen. Auch wenn Filio das anders sah, war er der Meinung, dass er als Erstklässler ohnehin nichts am Verlauf der Dinge ändern konnte. Er konnte nur hoffen, dass er seine Eltern in den Sommerferien wiedersehen konnte. Und bis dahin wollte er sich eine so schöne Zeit wie möglich machen.

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