Kapitel 20 - Das Spiel

Der Schnatz und der Quaffel schossen in die Höhe und ehe Jan sich versah war der kleine goldene Ball am Himmel verschwunden, der andere hingegen landete in den Händen einer Jägerin von Kesten.
»Sicher du die linke Seite ab!«, rief Lina Jan zu, während sie auf die gegnerische Spielerin zuflog. Jan signalisierte mit einem Daumen nach oben, dass er verstanden hatte, dann steuerte er seinen Besen in die angewiesene Richtung, um Mila Crameri, eine Jägerin der Kestens, die dort bereits auf einen Pass wartete, zu decken.
Doch er musste feststellen, dass die schwarzhaarige Kesten um einiges schneller war als er. Außerdem gelang es ihr durch geschicktes Kurvenfliegen, Jan immer weiter abzuhängen. Als ihre blonde Mitspielerin ihr einen Pass zuspielte, war Jan viel zu weit von der Jägerin entfernt, um den Ball abfangen zu können. Mila allerdings griff den Quaffel geschickt mit ihrer linken Hand und steuerte damit auf Levi und die Torringe der Haistras zu. In diesem Moment kam Hannes von der Seite und flog vor sie, um einen möglichen Torwurf abzufangen. Mila allerdings täuschte einen Wurf auf den linken Ring vor, sodass Hannes sich in diese Richtung neigte, dann warf sie aber auf den mittleren.

Jan konnte nichts anderes tun als dabei zuzusehen, wie der Ball auf den Torring zugeflogen kam und Levi noch zu weit links war, um ihn festhalten zu können. Mit rasanter Geschwindigkeit schoss der Hüter auf den Quaffel zu und erwischte ihn in letzter Sekunde mit seinem rechten Vorderfuß. Der Ball änderte seinen Kurs und verfehlte den Ring um einiges. Erleichtert atmete Jan auf. Von der Haistra-Tribüne kamen laute Jubelrufe.

Hannes flog dem Quaffel hinterher und fing ihn geschickt auf. Dann nahm er ihn unter den Arm und flog mit hoher Geschwindigkeit in Richtung des gegnerischen Tors. Jan folgte seinem Kurs und versuchte sich sowohl darauf zu konzentrieren, sich auf seinem Besen zu halten, als auch Hannes im Blick zu halten, um einen möglichen Pass annehmen zu können. Als Hannes ungefähr zwei Drittel des Spielfelds überquert hatte, kam auch ein solcher. Jan löste seine Hände von seinem Besen und fing den Ball auf, wobei die Wucht des Wurfs ihn fast von seinem Fluggefährt geschleudert hätte. Er schaffte es gerade noch so, die Balance zu halten und mit seinem Besen weiter auf die Torringe der Kestens zuzufliegen. Vor diesen flog allerdings Enrico, den Blick genau auf Jan gerichtet und jederzeit bereit, seinen Wurf zu halten.

Jan sah kurz in die Mitte des Spielfelds, wo Lina mit ihrem Besen ebenfalls in Richtung des gegnerischen Tors flog. Ohne länger darüber nachzudenken, nahm er den Quaffel fest in die Hand und warf ihn seiner Mitschülerin zu. Doch sobald er Jans Hand verlassen hatte, sah er die gegnerische Jägerin Mila, die auf den Quaffel zuflog und ihn vor Lina in die Hände bekam. Jan schüttelte entsetzt den Kopf über sich selbst. Bevor man warf, musste man sich erst einen Überblick verschaffen. Was würde sein Handballtrainer nur sagen, wenn er bei diesem Wurf dabei gewesen wäre?
Mit enormer Geschwindigkeit jagte Mila nun auf die Torringe der Haistras zu. Weder Jan, noch Lina oder Hannes hatten eine Chance mit ihr mitzuhalten. Als sie noch einige Meter vom Tor entfernt war, holte Mila bereits aus, täuschte einen Wurf nach links an, warf dann aber in Richtung des rechten Rings.

Jan sah zu Levi und hoffte inständig, dass der Hüter seines Teams, den Quaffel noch fangen konnte. Doch zu seinem Erschrecken war Levi auf Milas Trick hineingefallen und zuerst ein kurzes Stück nach links geflogen. Zwar hatte er seinen Kurs mittlerweile korrigiert, aber er war noch ein gutes Stück vom Ball entfernt. So schnell es ging, eilte der Hüter der Haistras auf das Geschoss zu und Jan war sich ziemlich sicher, dass er es sogar noch mit den Fingerspitzen streifte, aber es reichte nicht mehr, um das Gegentor zu verhindern. Der Quaffel flog durch den rechten Torring und löste laute Jubelrufe auf Teilen der Tribünen aus.

Niedergeschlagen trat Jan in die Luft. Nur wegen seines Fehlpasses lagen sie nun 10 Punkte zurück. Er musste unbedingt etwas tun, um den Rückstand wieder auszugleichen. Ab jetzt durfte er sich keinen Fehler mehr erlauben.

Doch das war leichter gesagt als getan. Jan merkte schnell, dass es einfach zu viel gab, auf das man sich beim Quidditch konzentrieren musste – nicht vom Besen zu fallen, die richtige Geschwindigkeit zu halten, den Ball richtig zu fangen und zu werfen und die Positionen der Mit- und Gegenspieler im Blick zu behalten. Und immer wenn Jan sich vornahm, sich auf eine Sache mehr zu konzentrieren, begann er die anderen zu vernachlässigen. Bereits nach zehn Minuten fühlte er sich vollkommen erschöpft und er war mittlerweile sogar erleichtert, dass nicht noch ein Gegentor gefallen war. Schon zwei Mal hatten sie nur dank Levis herausragenden Paraden einen höheren Rückstand verhindern können.

In der elften Minute glaubte Jan aber dann, eine Chance für sein Team zu erkennen. Levi hatte gerade den Ball gefangen und ihn zu ihm geworfen. Er wiederum war ein Stück damit nach vorne geflogen und hatte zu Lina abgespielt, die nun mit dem Ball nach vorne preschte. Hannes flog ohne Gegenspieler ihn der Nähe auf der rechten Seite. Gerade in dem Moment, als Lina den Ball in seine Richtung warf, kam allerdings Bewegung über ihren Köpfen auf. Marina und Leonard schossen dicht aneinander auf einen Punkt zwischen Hannes und den Torringen der Kestens zu. Sie mussten den goldenen Schnatz entdeckt haben. Jan hoffte inständig, dass Marina ihn vor dem Sucher der Kestens fangen würde, während Hannes das Geschehen über ihm gekonnt ausblendete. Er fing geschickt den Quaffel auf und schoss damit auf die Torringe der Kestens zu, genau in die gleiche Richtung wie Leonard und Marina. Während Marina ihren Kurs änderte, flog Leonard weiterhin genau auf Hannes zu. Gerade als Hannes den Quaffel abwerfen wollte, krachte der Sucher der Kestens stark gegen ihn und stürzte den Haistra fast von seinem Besen. Nur noch mit einem Bein und seinen Händen klammerte Hannes sich an seinen Besen. Leonard hingegen geriet nur kurz ins Taumeln und setzte seinen zielstrebigen Kurs fort. Erst als Herr Goldenberg laut pfiff, blieb er widerwillig stehen.

Der Schiedsrichter flog sofort zu Hannes und half ihm wieder auf seinen Besen. Dann erteilte er Leonard eine 5-Minuten Sperre für sogenanntes Keilen. Von dessen widerspenstigen Diskussionsversuchen ließ Herr Goldenberg sich nicht beirren, sondern redete leise mit Hannes, der sich daraufhin seine Hand an die Schulter und seine Rippen hielt und schmerzhaft das Gesicht verzog. Der Zusammenstoß mit Leonard war wohl so scherzhaft gewesen wie er ausgesehen hatte. Der Lehrer sagte noch etwas zu ihm, woraufhin Hannes heftig den Kopf schüttelte. Jan konnte nicht verstehen, worüber sie sich unterhielten. Nach einiger Zeit verkündete Herr Goldenberg allerdings die Fortsetzung des Spiels. Er gab Hannes den Ball für einen Freiwurf, den der allerdings Lina überließ. Jan fiel auf, dass der rechte Arm seines Mitspielers ungesund verdreht aussah und bewunderte ihn dafür, dass er trotzdem noch weiterspielte. Dass er den Freiwurf Lina überlassen hatte, konnte er mehr als nachvollziehen. Deren Wurf traf allerdings nur den Ring und prallte wieder ins Spielfeld ab.

Danach verlief das Spiel nicht mehr gut für die Haistras. Hannes spielte zwar tapfer weiter, aber es war eindeutig, dass er keineswegs mehr voll leistungsfähig war. Mit diesem Nachteil schaffte Jans Mannschaft es nicht mehr richtig, ins Spiel zu kommen. Es ging fast nur noch auf ihr Tor, das Levi zwar mit allen Kräften verteidigte, aber auch er konnte nicht verhindern, dass es zur Hälfte der Zeit bereits 0:40 stand. Fast minütlich kam ein neuer, gefährlicher Wurf von Mila oder den anderen Kestens, die der Hüter der Haistras fast immer parierte. Den Quaffel beförderte er dann zu seinen Jägern, doch dabei ließ er Hannes immer mehr aus dem Spiel, da er seinen rechten Arm kaum noch heben konnte und das Werfen mit links gar nicht gewohnt war. Zu zweit waren Jan und Lina allerdings in Unterzahl und der Junge merkte schnell, dass er keine Chance hatte, wenn er von zwei Kestens angegriffen wurde. Und so entwickelte sich das Quidditchspiel immer mehr zu einem Trauerspiel.

In der 39. Minute fiel schließlich auch das 0:50. Mit jedem Tor entwickelte sich in Jan mehr Wut und Verzweiflung, aber leider keine Ideen, wie er seinem Team noch zu einem Sieg verhelfen konnte. Erneut flog Lina mit dem Ball nach vorne aufs Tor zu, aber die Kestens wussten bereits, dass sie bald zu Jan abspielen wollte und so flog ihr Jäger direkt neben ihm, während die beiden Mädchen versuchten, Lina den Quaffel abzunehmen. In all ihrer Verzweiflung spielte die Jägerin der Haistras einen Ball zu Hannes, der diesen mühevoll mit einer Hand auffing und dann leicht schwankend sich auf die gegnerischen Ringe zubewegte.

Bereits als der Jäger der Kestens noch einige Meter von ihm entfernt war, spielte er einen Pass zu Lina, vermutlich weil er sich um seinen eher schwachen Abwurf mit der linken Hand im Klaren war. Da der gegnerische Spieler aber noch weit genug entfernt war, konnte Lina den Quaffel geschickt fangen, flog eine Kurve um Mila Crameri und warf aus weiter Entfernung auf den rechten Torring. Dies überraschte Enrico so sehr, dass er es nicht rechtzeitig schaffte, zu dem Ball zu lenken. Der Quaffel flog durch die Mitte des Rings und löste einige Jubelrufe auf der Haistra-Tribüne aus. Es stand 10:50. Wenn Marina jetzt den Schnatz fangen würde, stände es unentschieden. Und wenn der Gegentreffer die Kestens so aus dem Spiel brachte, dass sein Team noch ein Tor erzielen könnte, dann wären die Chancen für einen Sieg wieder da. Und auch Jans Hoffnung flammte wieder neu auf.

Doch schnell musste er erkennen, dass die Kestens keineswegs aus dem Spiel gekommen waren. Als wäre nichts geschehen, setzte Mila ihre starken Sprints nach vorne fort und passte im richtigen Moment zu ihrer Mitspielerin. Diese wiederum spielte nach kurzer Zeit zu Mila zurück, deren Wurf nur knapp von Levi gehalten werden konnte.

Beim nächsten Angriff der Kestens war Levi allerdings nicht ganz so erfolgreich. Er hatte sich hauptsächlich auf den Jäger der Kestens konzentriert, der allerdings im letzten Moment zu Mila abspielte. Jan verfehlte den Ball um Fingerbreite, sodass die Kesten ihn fangen und problemlos auf den freien rechten Torring werfen konnte.

Resigniert trat Jan in die Luft. Nun waren die Kestens wieder fünfzig Punkte vor ihnen. Nicht einmal ein Schnatzfang würde ausreichen um diesen Rückstand auszugleichen. Jetzt mussten sie, die Jäger, noch einmal alles geben. Gerade startete Hannes einen neuen Angriff. Jan verlagerte sein Gewicht nach vorne und versuchte, seinen Besen so schnell wie möglich auf die Ringe der Kestens zuzubewegen. Er musste es jetzt einfach schaffen, seinem Team zu einem Tor zu verhelfen. Im Augenwinkel bekam er mit, wie Hannes von der rechten Seite den Ball zu Lina in die Mitte warf. Diese wiederum schoss mit ihrem Besen wieder auf das Tor zu und zielte einen Wurf auf den rechten Torring an. Jan beobachtete, wie Enrico sich bereits dorthin bewegte. Der linke Torring war nun also frei, nur für Lina zu weit weg, um eine realistische Trefferchance zu haben.

Überrascht stellte der Junge fest, dass sie allerdings auch nicht auf den linken oder mittleren Ring, sondern zu ihm warf. Zum Glück schaffte er es gerade noch, den Quaffel aufzufangen. Jetzt musste er ihn nur noch in den leeren Torring direkt vor ihm befördern. Nur noch wenige Meter trennten ihn davon. Jetzt war sein Moment gekommen, das so wichtige Tor zu werfen. Er holte mit seinem Arm aus, stieß ihn nach vorne, ließ den Ball los und sah zu wie er sich auf den gegnerischen Torring zubewegte. Doch dann musste er mit ansehen, wie der Ball nicht durch, sondern gegen den Torring flog, abprallte und wieder zurück ins Spielfeld flog, wo Enrico ihn geschickt auffing.

Jan saß einen Moment lang unbeweglich auf seinem Besen. Er konnte nicht glauben, was gerade passiert war. Er hatte die eindeutige Chance für sein Team ruiniert und das so sichere Tor nicht erzielt. Er raufte sich die Haare und wünschte sich sehnlichst, disapparieren zu können, um dieser Situation einfach nur zu entkommen.
Chancentod hätte sein Handballtrainer ihn jetzt genannt, da war sich Jan sicher. Vor lauter Ärger und Scham hätte er am liebsten das Spiel abgebrochen, aber er wusste, dass das das Letzte war, was er machen konnte. Jetzt musste er verhindern, dass die Kestens einen Konterangriff starten konnten. Er durfte jetzt nicht aufgeben.

Mit einer Mischung aus Ehrgeiz und Wut steuerte er auf den Jäger zu, dem Enrico den Ball zugeworfen hatte. Doch ehe Jan ihn erreichen konnte, hörte er einen schrillen Pfiff. Ein Blick nach oben zeigte ihm, dass Marina den Schnatz gefangen hatte. Eigentlich hätte er sich darüber freuen müssen, aber vor lauter Enttäuschung über sich selbst war in ihm kein Platz mehr für andere Gefühle. Sie hätten ein Unentschieden erzielen können, wenn er nicht versagt hätte. Ohne die triumphierenden Kestens auch nur noch eines Blickes zu würdigen flog er auf das in ungefähr fünf Metern Höhe schwebende Umkleidehäuschen der Haistras zu und pfefferte verärgert seinen Schulbesen zu Boden. Sein Team hatte nur wegen ihm verloren. Und die halbe Schule hatte dabei zugesehen. Die Tür zur Jungenkabine trat er fast ein und schloss sie mit einem lauten Knallen. Er konnte es einfach nicht glauben, wollte nicht wahrhaben, was passiert war.

Als Levi und Hannes reinkamen, senkte er beschämt den Kopf und sah zur Seite. Er schaffte es nicht, seinen Freunden ins Gesicht zu blicken. Erst als Levi ihm die Faust zum einschlagen hinhielt, sah er auf.
»Gutes Spiel«, meinte der Hüter der Mannschaft und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Jan lächelte schwach und schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, dass wir verloren haben«, presste er hervor. »Ihr beide habt alles gegeben.«
Levi winkte ab.
»Da kannst du doch nichts für«, widersprach er, während er seine Hüterhandschuhe auszog. »Hätte dieser trollhirnige Leonard nicht Hannes Arm so gut wie gebrochen, hätten wir das locker gewonnen. So ein Ausrutscher wie bei dir am Ende passiert jedem mal.«
Doch Jans Schuldgefühle gingen einfach nicht weg. Umso dankbarer war er, als sie das Thema auf Hannes' verletzten Arm lenkten, sodass er wenigsten auf ein bisschen andere Gedanken kommen konnte.

Beim Umziehen ließ er sich dennoch besonders viel Zeit. Er wollte noch nicht zurück zur Burg gehen. Nicht jetzt, wo noch so viele Zuschauer auf dem Weg zum Schloss waren. Er wollte ihre Kommentare nicht hören. Er wollte nicht einmal ihre Blicke sehen. Er wollte ihnen allen nicht begegnen. Als Hannes bereits fertig umgezogen die Umkleide verließ, hatte Jan gerade einmal seine Schuhe zugebunden, die eigentlich nicht einmal offen gewesen waren. Levi warf ihm einen skeptischen Blick zu.

»Brauchst du immer so lange, um dich umzuziehen? Du warst doch schon eine Weile vor uns hier.«
Jan schaffte es nicht einmal, sich zu einem schwachen Lächeln aufzuraffen.
»Meine Gedanken sind aktuell einfach wo anders als beim Umziehen«, antwortete er. »Und wenn ich unkonzentriert bin, brauche ich einfach länger.«
»Das kann ich verstehen«, meinte Levi. »Dann bleibe ich mal hier und versuche, dich ein wenig auf andere Gedanken zu bringen. Du hattest doch erzählt, dass du früher diesen Muggelsport gespielt hast. Wie hieß er? Handball? Hattest du da eigentlich ein Lieblingsteam?«

Jan winkte kopfschüttelnd ab.
»Das ist super nett von dir Levi. Aber ich glaube, es ist das Beste, wenn ich jetzt einfach alleine bin.«
Doch statt zu gehen, setzte sich Levi neben Jan.
»Hey, das war dein erstes Quidditchspiel«, meinte er. »Und dafür hast du dich richtig gut geschlagen. Und das nächste Spiel ist gegen Ehura. Da gibt es keinen Leonard, der Hannes außer Gefecht setzt. Da gewinnen wir. Immer den Blick nach vorne richten.«
Jan nickte geistesabwesend.
»Mache ich«, murmelte er. »Lässt du mich trotzdem kurz alleine?«

»Wenn du unbedingt willst«, antwortete Levi, sah Jan noch einmal aufmunternd an und stand dann auf. »Wir warten dann draußen.«
»Nein, geht ihr ruhig«, widersprach Jan. »Ich... brauche vielleicht etwas mehr Zeit.«
»Sicher?«
Jan nickte.
»Dann sehen wir uns später beim Abendessen«, verabschiedete sich Levi. »Dann erzählst du mir, welches Handball-Team du am liebsten magst.«

Jan zog seine Mundwinkel ein wenig nach oben, während Levi den Umkleideraum verließ. Er war dankbar dafür, einen Freund wie Levi zu haben, der selbst in solchen Situationen zu ihm hielt. Doch auch der konnte ihn jetzt nicht aufheitern. Natürlich war es sein erstes Quidditchspiel. Und wenn man bedachte, wie wenig Übung im Fliegen er bis jetzt erst hatte, dann hatte er auch keine Glanzleistung von sich erwarten können. Aber dennoch hatten so viele Schüler dabei zugesehen, wie er versagt hatte. Und das, obwohl er so lange im Handballverein gewesen war.

So wiederholten Jans Gedanken sich immer wieder, bis er sich sicher war, von draußen nicht mehr die lauten Stimmen der gehenden Zuschauer zu hören. Dann erst zog auch er sich um. Als er wieder normale Alltagskleidung trug, ging er vorsichtig zur Tür, lauschte noch einmal nach Geräuschen und vergewisserte sich, dass wirklich alle Zuschauer gegangen waren. Dann öffnete er vorsichtig die Tür und spähte hindurch. Tatsächlich schwebten die Tribünen völlig menschenverlassen über dem Spielfeld. Die Sonne war fast vollständig untergegangen und eine kühle Brise wehte über das im Dämmerlicht liegende Stadion.

Jan atmete die frische Luft tief ein. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass er vierzig Minuten lang im stickigen Umkleidehäuschen gewartet hatte. Eigentlich war es Zeitverschwendung gewesen. Wirklich besser fühlte er sich nicht. Immer wieder sah er vor seinem inneren Auge, wie der Quaffel an dem Torring abprallte. Immer wieder hallten die Jubelrufe der Kestens in seinen Ohren wieder. Aber vermutlich war das besser, als sie sich im Innenhof in Echtzeit anhören zu müssen. Jan hoffte, dass die Kestens bereits fertig mit Abendessen waren, bis er im Innenhof ankommen würde. Gedankenverloren schnappte er sich seinen Besen, als plötzlich eine Gestalt vor ihm auf dem Balkon des Umkleidehäuschens landete.

»Wer...?«, fragte eine überrascht klingende Mädchenstimme. »Jan? Bist du das?«
Jan erkannte die Stimme sofort. Marina. Wie von einem Schockzauber getroffen blieb er stehen. Warum kam sie noch einmal zum Umkleidehäuschen zurück?
»Ja«, antwortete er schließlich. »Ich bin's.«
»Du hast mich echt erschreckt! Ich dachte nicht, dass noch jemand hier ist. Ist es immer noch nicht besser?«

»Besser?«, fragte Jan verwundert.
»Levi meinte, dass du nach dem langen Quidditchspiel noch eine Weile warten wolltest, bis du wieder auf einen Besen steigst. Aber ich hatte nicht gedacht, dass es so schlimm ist. Fühlst du dich denn schon ein bisschen besser?«
»Ja, es geht wieder«, antwortete Jan nach wie vor etwas überrascht. »Ich wollte gerade losfliegen. Was machst du denn hier?«
»Ich habe meine Uhr in der Umkleide vergessen«, erzählte Marina und schüttelte den Kopf. »Ich hoffe mal, dass ich sie finde. Wartest du noch kurz hier?«
»Äh... ja, mache ich.«

Kopfschüttelnd sah Jan Marina hinterher. Wie groß musste denn der Zufall sein, dass jemand genau in dem Moment den Balkon betrat, als Jan losfliegen musste? Und ausgerechnet Marina, die Person, die trotz ihres Schnatzfangs eine Niederlage erzielt hatte und daher allen Grund hatte, ärgerlich auf Jan zu sein.
Aus der Mädchenumkleide kam ein triumphierendes Geräusch. Kurz darauf trat Marina wieder auf den Balkon.
»Gefunden«, meinte sie und zeigte mit einem zufriedenen Lächeln auf etwas golden Glitzerndes an ihrem Handgelenk. Dann klopfte sie mit ihrem Besen auf den Boden des Balkons. »Bereit?«

Jan nickte und setzte sich auf seinen Besen. Dann flogen sie gemeinsam los. Unterwegs baute Jan absichtlich ein paar unsichere Schlangenlinien in seinen Flugstil ein, um die Aussage, er habe sich vom Fliegen erholt, glaubwürdiger zu machen. Es war ihm unangenehm, dass er wegen seines Unmuts so lange in der Kabine geblieben war.

Marina schien seine unsicheren Bewegungen zu bemerken, denn als sie beim Besenhäuschen landeten, sah sie ihn besorgt an.
»Sicher, dass alles gut ist?«
»Jetzt, wo ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, schon«, antwortete Jan, während er seinen Schulbesen an der richtigen Stelle befestigte.

»Ich finde es echt klasse, dass du das Spiel durchgezogen hast, obwohl es dir nicht gut ging«, sagte Marina. Auch aus ihrer Richtung kam das Klick-Geräusch, das ertönte, wenn die Halterung den Besen umschloss.
»Vermutlich wäre es besser gelaufen, wenn ich nicht bis zum Schluss mitgespielt hätte«, meinte Jan, während sie sich auf den Weg zur Burg machten.
Selbst im Dämmerlicht sah Jan, dass Marina ihn vorwurfsvoll ansah.
»Jetzt hör auf dich so schlecht zu reden! Quidditch ist ein Team-Sport. Wir gewinnen zusammen und wir verlieren zusammen.«

»Aber hätte ich nicht so viele Fehler gemacht, dann...«, wollte Jan sagen, doch Marina ließ ihn nicht ausreden.
»So funktioniert das nicht. Jeder macht Fehler. Aber ich verstehe, dass du ärgerlich bist. Ich habe als Kind in einer Junior-Mannschaft gespielt. Bei den Sjælland Sandternen. Ich war eigentlich Jägerin, aber ich wollte auch einmal Sucherin sein. Deshalb habe ich unseren Trainer so lange genervt, bis er zugestimmt hat. Beim Spiel gegen die Hovedstad Hvidhajen, unsere schärfsten Rivalen, durfte ich Sucherin sein. Ich war total überzeugt, dass ich es schaffen würde. Als ich nach gut einer halben Stunde den Schnatz gesehen habe, habe ich begeistert gejubelt und bin auf ihn losgeflogen. Das hat auch der Sucher von den Hvidhajen bemerkt. Und weil er sein Weg bis zum Schnatz viel kürzer war als meiner, hat er ihn gefangen und nicht ich. Hätte ich den Schnatz gefangen, hätten wir gewonnen.«
Nachdenklich sah in den dunklen Abendhimmel.

»Das... tut mir leid«, sagte Jan schließlich.
Marina winkte ab.
»Muss es nicht«, meinte sie. »Aber dir muss dein Wurf heute auch nicht leidtun. Sowas gehört zum Quidditch dazu. Und es macht uns stärker. Im nächsten Spiel bin ich zwar wieder Jägerin gewesen, aber ich habe 8 Tore in einem Spiel geworfen. So viele hatte ich noch nie geschafft!«

»Dass es so viele Jugendmannschaften bei euch gibt«, sagte Jan begeistert. »Ich hätte gar nicht gedacht, dass es so viele Zauberer gibt.«
»Gibt es auch nicht«, erwiderte Marina lachend. »Es gibt nur drei Junior-Teams. Uns, die Hvidhajen und eine Mannschaft vom Festland. Einmal im Jahr gibt es das große Turnier mit allen drei Mannschaften. Das war immer mein Highlight des Jahres.«

Sie erreichten das Schulgelände erreichten, passierten die im Dämmerlicht liegenden Ställe und redeten weiter über Quidditch in Dänemark, über die WM im letzten Jahr und über die Unterschiede zwischen Handball und Fußball. Als sie schließlich im Eingangsflur von Winterfels ankamen, trennten sie sich, weil Jan noch zum Abendessen in den Innenhof gehen wollte und Marina Lina versprochen hatte, nach dem Holen ihrer Uhr zu ihr in den Gemeinschaftsraum zu kommen. Und während Jan hörte, wie Marinas Schritte auf dem steinernen Boden verklangen, spürte er, dass sein Ärger über das missglückte Spiel nicht einfach schwächer geworden war, sondern teilweise von einem anderen Gefühl bedeckt worden war. Ein Kribbeln, als würde ein Schnatz in seinem Bauch hin und her fliegen und ihn mit seinen filigranen Flügeln kitzeln.

Marinas Schritte verklangen langsam in der Ferne. Jetzt erst bemerkte Jan, wie ungewöhnlich es gewesen war, Marina alleine anzutreffen. Normalerweise war sie immer gemeinsam mit Lina unterwegs und Jan hatte das Gefühl, dass sie sich ihrer Freundin in vielerlei Hinsicht anpasste. Marina selbst hatte er daher immer sehr schlecht einschätzen können. Manchmal wirkte sie für ihn einfach nur wie eine etwas kleinere Kopie von Lina. Aber das Gespräch mit ihr hatte ihn überrascht. Sie war verständnisvoll gewesen, freundlich, lebensfroh. Er errötete, als er bemerkte, dass sich ein verträumtes Lächeln auf seinem Gesicht gebildet hatte. Schnell schüttelte er sich und machte sich auf den Weg in den Innenhof. Aber er wurde den Wunsch einfach nicht los, Marina im nächsten Quidditchspiel zu beweisen, dass er besser sein konnte als heute.

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