Kapitel 14 - Briefe an Jemanden
Levi kam kurze Zeit später in Begleitung von zwei älteren Schülern wieder. Der eine war ohne Zweifel sein großer Bruder Noah. Auch wenn Jan ihn nicht schon aus den Begegnungen im Gemeinschaftsraum oder seinen Auftritten als Jäger des Haistra-Teams kennen würde, hätte er ihn sofort erkannt. Seine Haare hatten die selbe haselnussbraune Farbe wie Levis und beide hatten die gleiche graublaue Augenfarbe.
Der Jugendliche neben Noah war Jan allerdings weniger bekannt. Er glaubte, ihn schon einmal als Winteraufsicht im Flur vor dem Innenhof gesehen zu haben. Wenn er sich richtig erinnerte, war er Haussprecher der Furhos. Die beiden älteren Schüler grüßten die jungen Haistras und betrachteten interessiert ihr Spielfeld.
»Schau mal Quentin, sie haben Jorski gebaut!«, lachte Noah, als er Jans Spielfigur sah. Der andere betrachtete die angesprochene Figur amüsiert. Dann wandten sie ihren Blick der von Levi verzauberten Spielfigur zu.
»Hast du das gemacht?«, fragte Noah interessiert und betrachtete die sich fröhlich im Kreis drehende Figur.
»Nicht schlecht, kleiner Bruder«, meinte er, als Levi bejahte. »Dann wollen wir doch mal den Rest machen.«
Und ohne noch lange zu warten, ergriffen er und Quentin ihre Zauberstäbe und hauchten einem Schneemann nach dem anderen Leben ein. Jan konnte seinen Augen nicht trauen, als auch sein Abbild von Herrn Jorski sich auf eines der Felder im Starthaus begab.
Nachdem alle Figuren in der Lage waren, sich zu bewegen, ließen Noah und Quentin ein wenig Schnee in die Höhe schweben.
»Aleam effigio!«, sagten sie gleichzeitig und Jan beobachtete begeistert, wie sich der Schnee zu einem Würfel formte, der in einer blauen Wolke in der Luft schwebte.
»Einmal mit dem Zauberstab antippen und er dreht sich«, erklärte Quentin und sah auf seine Armbanduhr. »Wir müssen los, Noah. Derik und Aaron warten bestimmt schon.«
Und mit einem hastigen Abschiedsgruß verabschiedeten sich die beiden und eilten in Richtung der Gewächshäuser davon.
»Echt klasse, was die können«, staunte Filio und lief begeistert um eine seiner Figuren herum. »Dann können wir ja jetzt anfangen. Seid ihr so weit?«
Der letzte Satz galt Lina und Marina, die aufgeregt miteinander tuschelten. Als die Jungen aber nun ihre Aufmerksamkeit auf sie lenkten, verstummten so schnell. Jan fiel auf, dass Linas Wangen leicht errötet waren. Marina hingegen war deutlich anzusehen, dass sie ein lautes Lachen nur schwer unterdrücken konnte.
»Herr Jorski fängt an«, lachte Filio und warf Jan einen aufmunternden Blick zu. Unsicher ging der Junge auf den Würfel zu. Er hatte ein wenig Sorge, dass es bei ihm nicht funktionierte und er sich blamieren würde. Aber dann rief er sich ins Gedächtnis, dass er ja einfach nur den Würfel antippen musste. Das würde er schon hinbekommen. Er riss sich zu einem mutigen Lächeln zusammen und machte mit seinem Zauberstab eine kurze Bewegung auf den eisigen Würfel. Sofort begann dieser sich wie wild in der Luft zu drehen und verursachte dabei einen Wirbel aus Schneeflocken. Als er wieder zur Ruhe kam, leuchtete auf seiner Oberfläche das Feld mit der vier. Dass dies bedeutete, dass seine Figur zuerst im Haus bleiben musste, war Jan egal. Er war einfach begeistert von dem, was Magie alles möglich machte.
Im Laufe des Spiels fand Jan heraus, dass der Würfel sich unterschiedlich drehen konnte, je nachdem, wie man ihn antippte und er hatte das Gefühl, dass Filio wusste, wie er auf den Würfel tippen musste, damit die Zahlen fielen, die er brauchte. Jan hingegen musste zusehen, wie seine Figuren von den anderen pulverisiert wurden. Den Schnee, den sie zurückließen, nahmen sich die gegnerischen Schneemänner und vergrößerten sich damit.
Der Junge war am Ende froh, dass wenigstens sein Abbild von Herrn Jorski ins Ziel kam. Im Vergleich zu Filios drei im Ziel angekommenen Figuren war das zwar reichlich wenig, aber das Ergebnis war ihm relativ egal. Für ihn zählte nur die schöne Zeit, die er gehabt hatte. Als Levi fragte, ob sie denn noch eine Runde spielen wollten, hörten sie auf einmal, wie sich ihnen Schritte näherten. Im nächsten Augenblick sahen sie auch schon Herrn Jorski um eine Ecke biegen. Eilig stellte sich Jan vor seine übriggebliebene Figur, sodass der Lehrer sie nicht sehen konnte. Als er bei ihnen vorbeikam, hielt er kurz an und betrachtete ihr Spielfeld.
»Ihr spieltet ein Spiel«, stellte er fest und lächelte freundlich, »ich mochte auch früher gerne ... Schnee. In Polen lag immer viel Schnee. Einmal bauten wir ein Schneekanone und erschreckten Kann-nicht-Zaubern.« Er lachte ein wenig. Als er gerade weitergehen wollte, wehte ihm eine heftige Windböe entgegen und blähte seinen schwarzen Umhang auf. Dabei flog auch ein Briefumschlag heraus und wurde in Richtung des Spielfeldes gefegt. Levi fing ihn geschickt auf und reichte ihn freundlich dem Lehrer zurück.
»Dankeschen«, antwortete Herr Jorski, »ich habe geschrieben ein ... Brief an meine Frau und Tochter Zosia. Sie ist so alt wie ihr ungefähr.«
Er nahm den Brief wieder entgegen und verstaute ihn sicher in seiner Tasche.
»Viel Spaß euch noch!«
Die Schüler verabschiedeten sich höflich und sahen dem Lehrer noch eine Weile zu, wie er in Richtung des Eulenturms verschwand.
»Voll nett, dass er an seine Familie schreibt«, meinte Marina, als er außer Hörweite war.
»Ja, das fände ich auch nett«, meinte Levi.
»Fändest du auch nett?«, wiederholte Filio verwundert. »Was soll das denn heißen?«
»Auf dem Brief stand ein Name, an den er adressiert war«, erklärte Levi, »Jozef Marek Wozniak. Keine Frau Jorski und schon gar keine Zosia Jorski.«
»Ist ja frech, dass er uns angelogen hat«, beschwerte sich Lina, »hätten wir fast geglaubt, der gute Mann hätte ein Herz für seine Familie.«
»Wer das wohl ist, dieser Jozef Wozniak?«, überlegte Levi. »Ich hab' den Namen noch nie gehört.«
Jan zuckte ratlos mit den Achseln. Wenn schon seine Freunde aus der Zaubererwelt ratlos waren, dann wusste er es erst recht nicht. Aber plötzlich kam ihm eine Idee.
»Vielleicht ist es einer der Fremden, die Winterfels spioniert haben«, überlegte er, »vielleicht hat sich Herr Jorski mit ihnen verbündet. Ihr wisst schon, dieser Mann bei den Stallungen Anfang des Schuljahrs oder der Vermummte, den wir neulich am Berghang gesehen haben.«
Sofort war er wieder mitten in seinen Überlegungen. In seinen Ideen, wer es auf die Schule und ihre Schüler abgesehen haben könnte. Auch Filio schien das für realistisch zu halten.
»Der Mann der sich die Ställe angeschaut hat sah schon wie ein Jozef Wozniak aus«, stimmte er zu, woraufhin Marina verwundert eine Augenbraue hob.
»Aber ist Herr Jorski nicht Auror?«, fragte sie skeptisch. »Da verbündet er sich doch nicht mit Feinden, sondern kämpft gegen die dunklen Künste.«
Daraufhin herrschte eine Zeit lange nachdenkliches Schweigen. Jan wusste, dass Marina eigentlich recht hatte. Aber ihr Argument reichte einfach nicht aus, um seine Zweifel zu beseitigen. Er konnte den Gedanken nicht loswerden, dass irgendetwas nicht stimmte. Vielleicht spielte Herr Jorski ja auch ein doppeltes Spiel. Eigentlich war er auf der Seite von den mysteriösen Gestalten, die Winterfels ausspionierten, aber um seinen Verbündeten bestmöglich zu helfen, täuschte er eine Arbeit als Auror vor.
»Dunkle Künste«, brach Filio das Schweigen schließlich. »Ich muss noch meine Recherchearbeit in Verteidigung gegen die dunklen Künste machen. Herr Egger bringt mich um, wenn ich das nicht mache.«
Jan schmunzelte. Er bewunderte den Jungen mit der Igelfrisur dafür, angespannte und unangenehme Situationen mit seiner humorvollen Art auflockern zu können, auch wenn seine Kommentare manchmal ein wenig unpassend waren.
»Dann lasst uns jetzt noch schnell in den Bibliotheksflügel gehen«, entschied Levi. »Vielleicht schaffen wir es noch, ein paar Informationen zu sammeln, bevor es Abendessen gibt. Worüber sollst du denn recherchieren?«
Filio warf ihm einen dankbaren Blick zu. Während sie sich auf den Weg in den Bibliotheksflügel machten, erzählte er ihnen von seiner Aufgabe. »Ich soll möglichst viel über die Bewachung von Askaban herausfinden«, erklärte er. »Herr Egger meinte, das hätte zwar nicht direkt etwas mit unserem aktuellen Thema zu tun, aber ich müsste den Rest noch zusätzlich nachholen. Kann aber auch sein, dass ich ihn ausnahmsweise mal nicht richtig verstanden habe.«
Er verdrehte genervt die Augen.
Nach einigen Treppen, Gängen und Überlegungen kamen die fünf schließlich im Bibliotheksflügel an. Anders als an Jans alter Schule war dieser Teil von Winterfels nicht nur ein kleiner Raum mit unordentlichen, vollgestopften Regalen. Stattdessen bestand er aus mehreren Räumen, die durch bogenförmige Öffnungen miteinander verbunden waren. Jedem Unterrichtsfach war ein Bereich zugeordnet, wo man von der ersten bis zur fünften Klasse alle notwendigen Informationen finden konnte. Außerdem gab es noch einen Raum mit Muggelbüchern und eine kleine Nebenkammer, die mit einigen Sesseln ausgestattet waren. Dort konnte man sich hinsetzen und dem Buch ein Jahr bei dem Yeti lauschen, das sich von morgens bis abends selbst vorlas.
Das Herz der Bibliothek war allerdings ein großer Raum, in dessen Regalen es alle möglichen Geschichten zu finden gab, von Liebesromanen bis hin zu Biographien berühmter Zauberer. Filio witzelte oft, wenn man Anna suchte, würde man hier in neunzig Prozent der Fälle fündig. Tatsächlich entdeckten sie ihre Hauskameradin mit den tief dunkelbraunen Haaren auf einer der kreativ gestalteten Sitzgelegenheiten. Sie war so in ein Buch vertieft, auf dessen Einband in verschnörkelten Buchstaben Zentaurenblut stand, dass sie ihre Hauskameraden erst bemerkte, als Marina sie begrüßte. Vor Schreck klappte sie ihr Buch zusammen und atmete tief ein. »Habt ihr mich erschreckt«, seufzte sie lachend. »Was macht ihr denn hier?«
»Wir machen meine Zusatzaufgabe in Verteidigung gegen die dunklen Künste«, erklärte Filio schwach lächelnd. »Kannst du uns vielleicht sagen, wo wir etwas über Askaban finden?«
Anna legte den Kopf schief. Dann deutete sie auf einen Türbogen über dem ein Bild von einem Wesen aufgehangen war, das aus einem Schrank lief und ständig seine Gestalt wechselte. Unter dem Bild stand in großen Lettern Verteidigung gegen die dunklen Künste.
»Vielen Dank«, freute sich Filio und die fünf wollten schon gemeinsam loslaufen, als Anna sie zurückhielt.
»Wartet doch!«, beschwerte sie sich scherzhaft und legte Zentaurenblut beiseite. »Ich komme mit und helfe euch. Das Buch ist sowieso bei weitem nicht so gut wie die ersten zwei Bände.«
Sie erhob sich von dem Hocker, der sich zusammenfaltete, sobald sie aufgestanden war und in ein Regal flog, das voll von zusammengeklappten Sitzgelegenheiten war.
Dann gingen sie in Richtung des Abteils für Verteidigung gegen die dunklen Künste. Jan und Levi bemerkten allerdings schnell, dass sie hier nicht wirklich gebraucht wurden und Anna und Filio zu zweit am besten vorankamen. Also ließen sie die beiden in Ruhe und stöberten einfach in den Regalen herum. Jan konnte gut der Hälfte der Buchtitel keinen wirklichen Sinn entnehmen und fragte sich, ob sie die entsprechenden Themen einfach noch nicht im Unterricht hatten oder ob Herr Egger sie so falsch ausgesprochen hatte, dass er sie nicht wiedererkannte. Levi hingegen war begeistert von den ganzen Büchern, die es hier zu finden gab.
»Warum sind wir denn nicht öfter in der Bibliothek?«, fragte er, als er gerade fasziniert ein Buch mit dem Titel Gegen die dunklen Künste - was ein zukünftiger Auror alles wissen muss hervor. »Das habe ich mir schon seit Ewigkeiten gewünscht und hier steht es einfach.«
Begeistert schlug er eine Seite auf. Die Überschrift verriet, dass es sich hierbei um unverzeihliche Flüche gehen sollte. Fasziniert überflog Levi eine der Seiten.
»Schau mal, hier steht sogar immer eine Zusatzinformation über Deutschland!«, erzählte er und deutete auf einen Informationskasten am unteren Rand der linken Seite, neben dem eine Deutschlandfahne gemalt wurde.
»Das deutsche Zaubereiministerium hat einen Zauber verhängt, der der entsprechenden Abteilung mitteilt, wann und wo ein unverzeihlicher Fluch ausgeübt wird«, las er laut vor. »Das wusste ich gar nicht.«
Und auch wenn Jan keine Ahnung hatte, wovon Levi redete, hörte er seinem Freund einfach dabei zu, wie er fröhlich von den Informationen aus dem Buch schwärmte. Als Filio und Anna ihre Recherchearbeit beendet hatte, lieh Levi sich das Buch für drei Wochen aus, bevor die jungen Haistras den Bibliotheksflügel wieder verließen.
Als sie schließlich im Innenhof ankamen und an ihrem Haustisch Platz nahmen, fiel Jans Blick wieder auf Herrn Jorski, der am Lehrertisch saß und sich gerade gut gelaunt mit der Ärztin Frau Elverhøj unterhielt. Und wieder kamen in Jans Kopf einige Gedanken hoch. Was hatte es mit dem Brief von Herrn Jorski auf sich? Kurz vor dem Angriff auf die Stallungen hatten sie Herrn Jorski doch auch mit einem Brief in der Hand gesehen. Auch damals hatte er behauptet, er würde an seine Familie schreiben. Mit dem jetzigen Wissen erschien Jan das unglaubwürdiger denn je. Wem schrieb der geheimnisvolle Lehrer nur so oft?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top