Interlog - Günther Haas

Tiefschwarze Wolken schoben sich vor den dünnen Sichelmond und ließen nur wenig Licht auf die Erde. Finster lagen sie nun dort – die Berge und Hügel von Mitteldeutschland. Auch Burg Winterfels mit ihren vier mächtigen Türmen war kaum mehr als ein Schatten in der Nacht. Die Finsternis verschluckte das alte Gebäude bildlich und nur aus ein paar kleinen Turmfenstern brannte noch ein spärliches Licht. Es kam aus einem vornehmen Büro, das aufgrund der Lage im Turm einen runden Grundriss hatte. In die Wände waren verschiedene eiserne Drachen eingelassen, deren Münder unermüdlich wärmende Flammen spien und somit das Büro erhellten. In ihrem Schein konnte man in der Mitte des Raums einen Schreibtisch erkennen, an dem ein großer Mann saß. Er trug einen laubgrünen Anzug und hatte mittellange Locken, die wohl einmal blond gewesen waren, mittlerweile aber von grauen Strähnen verdeckt wurden. In seinen Händen hielt er einen langen, hölzernen Stab, aus dessen Spitze ein helles Licht kam. Es erhellte einen Brief, der auf dem kunstvoll gefertigten Schreibtisch lag. Beim Lesen verzogen sich die Mundwinkel des Mannes unter dem gepflegten Dreitagebart besorgt nach unten. Falten traten auf sein lebensgeziertes Gesicht. Das tiefe Schlagen einer Uhr ließ den Mann aufschrecken. Am Ziffernblatt waren zwar mindestens zehn Zeiger zu viel befestigt, aber wenn man dem Läuten glauben konnte, war es mittlerweile schon zwei Uhr.

Mit einem Seufzen sah der Mann zu einem Fenster hinaus in die eintönig schwarze Dunkelheit, als auf einmal jemand an die Tür klopfte. Interessiert hob der Mann den Kopf und sah, wie ein anderer Herr, etwas kleiner und mit auffällig schmaler Stirn, sowie einer wohlgepflegten Frisur, im Schein der Feuer den Raum betrat.
»Ich grüße Sie, Herr Haas«, sagte der am Schreibtisch Sitzende und deutete auf einen maigrünen Sessel. »Nehmen Sie doch Platz.«
Der Gast schmunzelte und ging mit kräftigen Schritten auf ihn zu.
»Georg, wie lange ist es her, dass wir uns auch bei der Arbeit das Du angeboten haben?«, fragte er lachend und reichte dem Mann am Schreibtisch freundschaftlich die Hand. Die Begrüßungen hielt länger als notwendig und erst danach ließ der Gast sich auf den grünen Sessel nieder.

»Es entfällt mir jedes Mal als Neue, Günther«, schmunzelte der andere und sein amüsierter Gesichtsausdruck ließ an der Wahrheit seiner Aussage zweifeln. Danach fiel sein Blick allerdings wieder auf die Zettel auf seinem Schreibtisch und die Sorgenfalten kehrten auf sein Gesicht zurück.
»Du hast meinen Brief also erhalten?«, erkundigte er sich.
»Ja, das habe ich«, erwiderte Günther Haas, während er seinen Blick über die Drachenköpfe in der Wand und die vielen, dazwischen in der Luft schwebenden Bücher schweifen ließ. »Es tut mir leid, dass ich jetzt erst erscheinen konnte, aber es gab heute Mittag einen schrecklichen Vorfall. Ich komme direkt von einem Einsatz in Thüringen und war nach der Arbeit noch nicht zu Hause.« Er stoppte kurz und sah betrübt zu Boden.
»Noch dazu kam, dass du mir vom Apparieren zu eurer Plattform abgeraten hast«, fuhr er fort. »Ich bin mit meinem Geleitschutz auf den Kleinen Wolfsberg appariert und von dort aus hier hergeflogen. Und du weißt ja, dass ich schon immer lieber gelaufen bin als zu fliegen. Dementsprechend lange habe ich für den Flug gebraucht.«

Ein Schmunzeln huschte über das Gesicht von Georg Tuplantis.
»Dann freut es mich, dass du überhaupt hier angekommen bist.«
Doch das Lächeln konnte die Sorgen nicht aus seinem Blick verdrängen. Sie blitzten unter dem vermeintlich glücklichen Gesichtsausdruck hervor wie Rost unter einem schlecht lackierten Geländer.
»Was mich allerdings nicht freut, ist der Anlass, weswegen ich dich rufen musste«, fuhr er mit bedrückter Stimme fort. »Heute gab es einen Anschlag auf unsere Stallungen. Mit einem Bombarda-Zauber wurde ein gesamtes Steingebäude in die Luft gesprengt.«
Die Augen des Besuchers weiteten sich.
»Ist einem Schüler etwas passiert?«, fragte er erschrocken.
»Wir können von Glück reden, dass dem nicht so ist«, erwiderte der Schulleiter. »Allerdings hat ein Lehrer von uns schwere Kopfverletzungen erlitten und Tilde sagt, dass er mit etwas weniger Glück sein Leben hätte verlieren können.« Er machte eine kurze Redepause.

»Es hat Witold erwischt«, fuhr er dann fort.
»Witold Jorski?«, wiederholte Haas erschrocken, woraufhin der andere bejahend nickte. »Es muss wirklich ein talentierter Magier am Werk gewesen sein, wenn selbst ein berüchtigter Auror nichts gegen ihn ausrichten konnte«
»Aber der Verbrecher, wer immer er war, hat noch etwas viel Schlimmeres angerichtet«, sagte Tuplantis. Er machte erneut eine Pause, für die ihn jeder Geschichtenerzähler beneidet hätte. Doch es war deutlich, dass er sie nicht der Spannung wegen einbaute, sondern weil es ihm vor dem grauste, was er als nächstes zu berichten hatte.

»Die Apparier-Plattform wurde verhext«, brachte der Schulleiter schließlich hervor und sah zu einem kleinen Fenster hinaus, als ob er den Tatort in der Dunkelheit sehen könnte. »Als Merino König sie benutzen wollte, ist er verschwunden. Zwei Schüler haben von blauen Flammen erzählt, die über ihm zusammengeschlagen sind. Natürlich wollen wir nicht, dass sie traumatische Schäden davontragen und haben erzählt, dass die blauen Flammen nur eine Sicherheitsfunktion sind. Aber dir kann ich die Wahrheit sagen, Blaue Flammen kenne ich nur von einem Protego diabolica. Diese Ähnlichkeit, gebündeltmit der Tatsache, dass Merino nie an seinem Ziel angekommen ist, versetzt michin große Sorge. Ich kann mir nicht erklären, was mit ihm passiert ist.«

Für einen Moment herrschte Stille. Nichts war zu hören, außer ein paar Regentropfen, die gegen den Turm schlugen.
»Dann können wir nur hoffen, dass ihm nichts passiert. Ich würde sehr um ihn trauern«, meinte der Zaubereiminister schließlich. »Er war nicht nur ein höchst talentierter Zauberer, sondern auch ein unfassbar menschlicher Zeitgenosse, der stets höflich und respektvoll gegenüber jedem war.«
»Ja, das war er«, stimmte der Schulleiter zu. »Aber ich habe dich nicht hergebeten, um mit dir zu trauern. Wir brauchen Lösungen, Günther. Meine Schüler schweben möglicherweise in höchster Gefahr. Es wurden zwei Anschläge an einem Tag ausgeübt. Wer sagt mir, dass es morgen nicht noch mehr sind? Ich brauche Fachmänner, die die Sicherheit der Jugendlichen wiederherstellen.«

»Fachmänner, die es in meinem Ministerium gibt?«, beendete Haas den Satz. Der deutsche Zaubereiminister seufzte tief. »Du weißt, dass ich schon seit Jahren Personalprobleme habe. Niemand möchte in die Abteilung für magische Strafverfolgung, nicht seit Pettigrew vor dreieinhalb Jahren zwei Auroren in den Wahnsinn gefoltert hat.«
Georg Tuplantis seufzte. Wie auch seinem Gesprächspartner war ihm die Verzweiflung tief ins Gesicht geschrieben.
»Aber du hast doch noch Auroren«, warf er ein. »Was ist mit Christoph Marell oder Svea Dreyer? Sie konnten doch auch den Aufstand der Bergtrolle vor ein paar Jahren aufklären.«
Eine kurze Stille trat ein. Außer dem immer stärker werdenden Geräusch des Regens war nur das zischende Geräusch der eisernen Drachen zu hören.

»Die wenigen Auroren, die wir noch haben, habe ich heute alle nach Thüringen geschickt«, erklärte der Zaubereiminister schließlich. »Dort wüten wieder die schlimmsten Tierwesen, die dieses Land zu bieten hat. Erklinge. Die berüchtigten, elfenhaften Geschöpfe aus Deutschland, die mit mehr oder weniger schönen Geräuschen Kinder anlocken, um sie dann aufzufressen. Eigentlich dachten wir, dass wir in den letzten Jahren alle dieser Scheusale gefangen oder getötet hätten. Doch heute wurden wir gelehrt, wie falsch wir lagen. Mindestens elf Stück sind auf einmal wieder an unterschiedlichsten Stellen aufgetaucht. Ein Muggelkind hat es heute schon erwischt. Wenn ich auch nur einen Auror von dort wegschicke, werden mehr Todesfälle zu beklagen sein. Das können wir nicht verantworten, oder?«

Entschieden schüttelte Tuplantis den Kopf. Sein Blick wanderte über die kleinen Fenster in der Wand, an denen Regentropfen abperlten und die Uhr, an der ein blitzförmiger Zeiger begann, sich wild im Kreis zu drehen. Schließlich sah der Schulleiter wieder seinem Gesprächspartner ins Gesicht.
»Ich war noch nicht über die Vorfälle mit den Erklingen informiert«, antwortete er. »Diese haben selbstverständlich Vorrang. Schließlich brauchen die unwissenden Muggelkinder eher Schutz als eine Menge junger, begabter Zauberer. Allerdings würde ich auch sie ungerne ihrem Schicksal überlassen. Denkst du, wir können das Ausland um Hilfe bitten?«

»Ich habe auch schon überlegt, wen wir da fragen können«, antwortete Haas, »aber ich bin zu keinem Entschluss gekommen. Die Ministerien von Österreich und Dänemark sind zu klein und ähnlich unterbesetzt wie meins. Die Schweizer kümmern sich in der Regel nur um ihre eigenen Probleme, da brauchen wir gar nicht erst zu fragen. Und mit Polen haben wir einen Vertrag geschlossen. Wir können nicht noch mehr von ihnen verlangen.« Der Zaubereiminister schüttelte resigniert den Kopf und listete noch einige andere europäischen Staaten auf und erklärte, warum man von ihnen keine Hilfe erwarten konnte. Danach kehrte wieder für einige Zeit Stille ein. Beide wussten, wie aussichtslos ihre Situation war. Aber beide waren auch fest entschlossen, nicht aufzugeben und irgendwie eine Lösung zu finden.

»Ich denke, die größten Chancen haben wir bei den Briten«, überlegte Tuplantis schließlich, »Shacklebolt war schon immer der Vernünftigste von deinen Amtskollegen.«
Doch Haas schien nicht wirklich überzeugt zu sein. Eine tiefe Sorgenfalte hatte sich auf seiner schmalen Stirn gebildet.
»Shacklebolt würde nicht zögern, uns zu helfen«, stimmte er zu. »Aber er ist ein beschäftigter Mann und leider überlässt er alle Angelegenheiten, die uns betreffen, seinem Leiter der Abteilung für Äußeres.«

»Grimmson«, knurrte Tuplantis und seine Hände verkrampften sich. »Ich verstehe bis zum heutigen Tag nicht, wie Shacklebolt diesen Taugenichts an die Position setzen konnte.«
»Er musste die konservativen Zauberer in seiner Gesellschaft zufrieden stellen«, erklärte der Zaubereiminister und seufzte tief. »Grimmson ist als Reinblüter in ihren Kreisen sehr beliebt und Shacklebolt wusste, dass er mit seiner Ernennung, Unruhen und Unzufriedenheiten verhindern konnte. Was das für Auswirkungen auf uns hat wird er dabei kaum bedacht haben. Wir müssen einfach an ein Wunder glauben, und hoffen, dass Shacklebolt unseren Hilferuf persönlich annimmt.«

»Das Licht der Hoffnung erlischt zuletzt«, stimmte Georg Tuplantis zu und richtete sich in seinem Stuhl auf. »Ich danke dir für deine Überlegungen und, dass du hergekommen bist. Jetzt möchte ich dich allerdings nicht weiter aufhalten. Deine Frau ist zu Hause mit Sicherheit schon krank vor Sorge um dich.«
Haas erhob sich etwas schwerfällig aus dem grünen Sessel.
»Du weißt, dass ich jederzeit komme, wenn du mich brauchst«, erwiderte er. »Wir beide haben schwere Zeiten vor uns und wir müssen wissen, dass wir trotzdem noch zusammenhalten.«
Auch der Schulleiter erhob sich nun. Doch anstelle einer Antwort schenkte er Haas bloß eine Umarmung. Eine Umarmung alter Schulfreunde, die von ihren Sorgen und Problemen überflutet wurden und alles in ihrer Macht Stehende tun würden, um sich gegenseitig zu unterstützen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top