Interlog - ein kleines Opfer
Die morgendlichen Sonnenstrahlen erhellten den Wald und bahnten sich einen Weg durch das Blätterdach, um den Waldboden zu erhellen und die Flügel der darüber fliegenden Insekten zum Glänzen zu bringen. Ein Distelfalter bewegte sich mit anmutigen Bewegungen darüber und ließ seine prächtigen Farben zur vollen Geltung kommen, die eher farblose Heuschrecke am Boden glich ihre mangelnde Flugfähigkeit durch elegante Sprünge über den Waldboden aus. Sogar ein seltener Hirschkäfer ließ sich dabei blicken, wie er sich einen Weg durch das noch vom vergangenen Herbst auf der Erde liegende Laub bahnte.
Das laute Rascheln von menschlichen Schritten scheuchte die bunte Artenvielfalt allerdings in Eile davon. Schnell waren die meisten Tiere in einem geeigneten Versteck verschwunden. Dafür traten zwei Männer zwischen den Bäumen hervor. Der größere von beiden hatte dunkelbraune Haare und ein von einer langen Narbe auf der linken Wange entstelltes Gesicht. Der andere wiederum lief etwas gekrümmt und war ein wenig rundlicher als sein Gesprächspartner.
»Fakt ist, dass wir so nicht mehr lange durchhalten«, sprach der Vernarbte gerade in einer angespannten Stimmlage. »Wir müssen sehen, dass wir jetzt eben keine Briefe mehr umändern, sondern sie selbst verfassen. Wir müssen uns vor einer Flut aus besorgten Briefen, Heulern und Aufmerksamkeit schützen.«
Der andere sah skeptisch zu seinem Gesprächspartner, konzentrierte sich dabei allerdings nicht genug auf den Boden vor seinen Füßen und kam unbeholfen ins Straucheln, als er über eine Baumwurzel stolperte.
»Aber Titus«, brachte er dann hervor, »wie wollen wir denn wissen, wie die Kinder ihren Eltern schreiben würden. Wir können doch nicht mal erahnen, was die Bengel in ihre Briefe kritzeln.«
»Wir nicht, Marcos«, erwiderte Titus mit einem geheimnisvollen Unterton. »Aber ich habe da so eine Idee, wer. Sagtest du nicht, du hättest bei deiner Firma einen Buchhalter gehabt, der nach meinem Verschwinden mit dir in die Muggelwelt abgetaucht ist?«
Marcos kratzte sich nachdenklich an seinem rundlichen Gesicht.
»Ja, das hatte ich«, antwortete er schließlich. »Robert Dennert hieß er. War ein Halbblut, der wegen seiner Mutter viel von der Muggelwelt wusste. Hat mir bei meinen Geschäften geholfen und die MaG Dachdecker GmbH übernommen, nachdem ich mich dir angeschlossen habe.«
»Ein Halbblut?«, wiederholte Titus und schüttelte den Kopf. »Womit du dich abgegeben hast. Aber ich fürchte, wir werden ihn fürs erste gebrauchen. Aussortieren können wir ihn immer noch, wenn unsere Lage stabil genug ist. Fürs erste brauchen wir jede Unterstützung. Arbeitet dein Kollege immer noch bei deinem Muggelbetrieb?«
Das letzte Wort spuckte er aus, als wäre es etwas dermaßen Widerliches, dass er es eigentlich gar nicht in den Mund nehmen durfte.
»Ja, er ist noch immer Geschäftsführer von meinem Unternehmen«, bestätigte Marcos. »Dem Unternehmen, mit dessen Einnahmen wir einen Großteil unserer Ausrüstung finanziert haben.«
Es war deutlich, dass ihm die Art, wie sein Gesprächspartner über sein Werk redete, gar nicht gefiel.
Titus setzte ein künstliches Lächeln auf.
»Natürlich«, stimmte er spöttisch zu, »wir haben uns über deinen Muggelbetrieb und nicht über meinen Einbruch bei der 3Z-Bank finanziert.«
Ohne auf Marcos ärgerlichen Blick einzugehen, fuhr er fort.
»Wo genau lebt er nochmal, dieser Robert Dennert?«
»In meinem Ort, direkt neben dem großen Rathaus, Habichtsweg 7 müsste es sein«, antwortete Marcos, wobei sich ein Schatten über sein Gesicht legte. Irgendetwas schien den Mann zu stören, doch das bemerkte Titus gar nicht. Siegessicher sah er sich im Wald um.
»Ich danke dir mein Freund«, antwortete er. Dann richtete er seinen Blick konzentriert auf einen Punkt zwischen den Bäumen, bevor sein Körper eine Drehung vollführte und sein Umriss aus dem Wald verschwand.
Auch über dem kleinen Dörflein Engertzhausen schien die Sonne am fast wolkenlosen Himmel. Das gute Wetter lockte viele Familien nach draußen und das fröhliche Rufen von Kindern, sowie das Brummen von Rasenmähern erfüllte die Luft. In der Samuel-Steiner-Straße 13 verließ gerade eine fünfköpfige Familie ihr Haus und nahm in ihrem familienfreundlichen Kombi Platz. Nur der Vater blieb nach kurz vor der Tür stehen und unterhielt sich mit einem Handwerker, der so gar nicht dem Bild entsprach, wie man sich einen Handwerker vorstellte. Sein Werkzeugkoffer hatte ungefähr die Größe eines Schulmäppchens und seine Kleidung sah nicht sehr robust aus. Die schwarze Rahmenbrille auf seiner Nase und die unordentlichen schwarzen Haare ließen ihn mehr wie einen IT-Studenten als einen Dachdeckermeister aussehen.
»Der Baum hat auch einiges vom Dachstuhl mitgenommen«, erklärte der Familienvater und betrachtete den Handwerker kritisch. »Können wir davon ausgehen, dass Sie auch das hinbekommen?«
Der Dachdecker nickte zuversichtlich.
»Seien Sie ganz unbesorgt«, versicherte er freundlich lächelnd. »Wenn Sie zurückkommen, wird ihr Haus wieder aussehen wie neu.«
Der Familienvater zwang sich zu einem Lächeln und schlug dann mit seiner kräftigen Pranke in die dünne Hand des Dachdeckers ein.
»Ich danke Ihnen.«
Dann stieg er auf der Fahrerseite des Autos ein, startete den Motor und fuhr aus dem Blickfeld des Dachdeckers.
Dieser wiederum sah sich kurz prüfend in der Gegend um, dann verschwand sein Körper vom Boden und tauchte bald wieder auf dem Dach auf. Direkt neben ihm klaffte ein tiefes Loch. Dachbalken stachen wie gefährliche Fangzähne eines Ungeheuers aus der Dunkelheit heraus, die überall verstreut liegenden Dachpfannen machten das Bild der Verwüstung perfekt.
Jeder andere Dachdecker hätte nun verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Doch nicht dieser. Stolz rückte er sich seinen Kittel mit der großen Aufschrift MaG Dachdecker GmbH zurecht und zog aus dessen Bauchtasche einen langen hölzernen Stab.
»Nebulus«, flüsterte er, woraufhin sich einige Nebelschwaden aus dem Garten der Familie erhoben und den Dachdecker schließlich so umhüllten, dass er kaum noch zu sehen war.
»Vielleicht der falsche Zauber bei dem Wetter«, murmelte er kopfschüttelnd.
Dann wandte er sich allerdings wieder dem Dach zu. Konzentriert richtete er seinen Fokus auf einige der zerborstenen Dachbalken und murmelte dabei leise »Reparo«, wobei er mit seinem Zauberstab kreisförmige Bewegungen vollführte.
Dass am anderen Ende des Daches soeben eine weitere Gestalt erschienen war, fiel dem Handwerker dabei nicht auf. Dafür war er viel zu beschäftigt mit seinen Reparaturarbeiten. Erst das Geschepper einiger herunterfallender Dachziegel ließ ihn aufschrecken. Er hob den Blick und sah, wie eine Gestalt durch den Nebel auf ihn zuschritt. Schützend hob er seinen Stab und hielt ihn dem Fremden entgegen.
»Wer sind Sie?«, fragte der Dachdecker und bemühte sich, mutig zu klingen. Doch er konnte ein leises Zittern nicht aus seiner Stimme verbannen.
Als Antwort erhielt er nur ein höhnisches Lachen.
»Ach Robert«, ertönte daraufhin eine kalte Stimme, »freust du dich nicht, einen alten Bekannten wiederzusehen?«
Dann trat die Gestalt aus dem Nebel heraus, sodass man sie erkennen konnte. Es war ein großer, dünner Mann mit einem schwarzen Umhang, dessen Kapuze über den Kopf gezogen war und tief ins Gesicht ragte. Man konnte bloß seine nach oben gewölbte Nase und eine lange Narbe auf der linken Wange erkennen. Es fehlte nur noch ein wenig Blut an den Händen oder vielleicht eine Sense und man hätte ihn in ein Gruselkabinett stellen können.
»T...Titus?«, brachte der Handwerker schließlich hervor.
Wieder lachte der Mann.
»Warum klingst du so besorgt?«, fragte er dann. »Denkst du ich will dir etwas antun? Dir? Nein, dich würde ich nicht im Traum angreifen. Ich bin gekommen, um dir ein Angebot zu machen.«
Der als Robert angesprochene ließ seinen Zauberstab sinken. Die Angst in seinen Augen wich und stattdessen trat ein Funken Erwartung hinein.
»Ein Angebot?«
»Wie ich sehe, hast du dich in der Muggelwelt ganz gut zurechtgefunden«, stellte Titus fest, ohne auf die Frage seines Gegenübers einzugehen. Sein Blick fiel auf die Schürze des Handwerkers. »MaG Dachdecker GmbH.«
Ein spöttischer Unterton lag in seiner Stimme, während sein Blick zu den sich wieder zusammenfügenden Dachbalken wanderte.
»Erstaunlich«, fuhr er dann fort, »und du hattest noch keinen Ärger mit dem Ministerium? Ich kenne einen Bekannten aus England, der ziemliche Probleme bekommen hat, weil er ein Muggelgewehr verzaubert hat.«
»Das Ministerium denkt, ich hätte mein Leben als Zauberer aufgegeben. Ich interessiere sie so wenig, wie jeder andere Bürger aus Engertzhausen. Das Einzige, was nervt sind die Kann-nicht-zaubern. Sie haben eine schreckliche Erfindung, die sich Finanzamt nennt.«
Titus betrachtete ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Abfälligkeit.
»Faszinierend, wie du dich hier eingefunden hast«, meinte er. »Ich hätte nie gedacht, dass ein falsches Puzzleteil so gut passen kann.«
Robert sah ihn fragend an.
»Wie kommst du auf...«, begann er, doch Titus gebot ihm mit einer Handbewegung zu schweigen.
»Denkst du nicht auch manchmal, dass du etwas Besseres bist, als die Menschen, mit denen du dich hier abgibst?«, fragte er dann in einem Ton, der unmissverständlich machte, dass es nur eine Antwort auf diese Frage gab. »Du bist ein Zauberer. Du bist überlegen. Du gehörst nicht in die Welt der Muggel. Willst du nicht deinen rechtmäßigen Platz wieder einnehmen?«
»Was willst du von mir, Pettigrew?«
»Ich will dir helfen, wieder zu Ruhm und Ehre in der Zauberwelt zu kommen«, versprach Titus und machte dabei eine einladende Geste.
Ein Klappern von sich aufeinandersetzenden Dachziegeln ertönte, woraufhin Robert einen kurzen Schwenk mit seinem Zauberstab nach rechts machte, dann dem anderen aber wieder fest in die Augen sah.
»Was forderst du im Gegenteil?«
»Nicht viel«, entgegnete Titus. »Aber Marcos meinte, du wärst gut darin, viele Informationen auf einem Papier zu speichern. Jemanden mit dieser Fähigkeit könnten wir gebrauchen um ein paar Daten von kleinen Bälgern zu sammeln, deren Nichtkenntnis uns verraten könnte. Du bekämst sogar ein Bett in unserer vornehmen Behausung.«
Ein kritischer Blick füllte Roberts Gesicht.
»Ich helfe dir Titus«, entschied er dann. »Allerdings werde ich hier wohnen bleiben. Die Kann-nicht-zaubern hier sind eine gute Kundschaft, die ich in eurer Gegend vielleicht nicht finde.«
Seine Stimme wurde mit jedem Satz den er sprach sicherer, während Titus Gesichtsausdruck sich immer mehr verhärtete.
»Deinen Muggelbetrieb wirst du nicht weiter benötigen«, entgegnete er kaltherzig. »Bei uns wird es dir um einiger besser gehen als mit der MaG Dachdecker GmbH.«
Ein künstliches Lächeln bildete sich auf Roberts Gesicht.
»Ich möchte ihn dennoch weiterführen«, erwiderte er entschlossen. »Ein Papier zu erstellen wird schließlich keine Unmengen an Zeit benötigen.«
»Du wirst deinen Betrieb aber nicht weiterführen«, fuhr Titus scharf dazwischen. »Es wäre eine Schande für uns, jemandem Obdach zu gewähren, der unter Muggeln arbeitet. Komm mit und erlebe mit uns den Sieg des Guten.«
Robert warf einen besorgten Blick auf das Dach, dessen letzte Dachziegel sich gerade an ihren Platz bewegten. Er atmete tief durch.
»Es ist viel, was du da von mir verlangst.«
Titus schüttelte über zeugt den Kopf.
»Ganz im Gegenteil. Stell dir vor, du hättest einen Schuppen, voll mit Holz, und ich böte dir an, ihn mit Gold zu füllen. Würdest du sagen, es wäre zu viel verlangt, das Holz herauszuräumen, um Platz für das Gold zu machen? Nein, du würdest bereitwillig und dankbar zusagen und das Holz für das Gold opfern. Genauso ist es bei meinem Angebot auch. Dein Muggelbetrieb ist ein kleines Opfer für das, was dich erwartet, wenn du dich uns anschließt.«
»Und du bist dir sicher, dass es kein Leprechaun-Gold ist, das du mir da anbietest?«, fragte Robert skeptisch.
»Reine Merlin-Barren mit 18 Karat«, versicherte Titus mit einem künstlichen Lächeln.
Robert schlug nachdenklich mit dem Zauberstab gegen seine Hand.
»Du erinnerst mich an Grindelwald«, meinte er schließlich. »Versprichst den Leuten alles mögliche und willst dich eigentlich nur an ihrem Dienst bereichern. Ich behalte meinen Betrieb.«
Titus kräuselte ärgerlich seine Lippen.
»Du undankbarer Troll!«, fauchte er. »Du solltest dich darüber freuen, dass ich dir dieses Angebot gemacht habe, obwohl du ein Halbblut und ein Muggelfreund bist. Du gehörst verbannt und freust dich nicht einmal, wenn ich dir stattdessen Wohlstand anbiete.«
Sein Blick wurde finster, seine Stimme hart. Dann reichte er Robert einen Handschuh.
»Wenn du dich umentscheiden solltest, zieh diesen Portschlüssel an!«, wies er den Handwerker an. »Andernfalls kannst du dich darauf freuen, dass ich Recht vor Gnade ergehen lasse. Meine Großherzigkeit hat ein Ende. Beschwöre es nicht herauf.«
Und ehe Robert noch etwas widersprechen konnte, war Titus verschwunden, disappariert.
Wütend trat er gegen einige Dachziegel. »Dieser elende Neotodesser!«, fluchte er und ließ die Nebelwolke wild im Kreis umherwirbeln. Er wusste, dass er keine andere Wahl hatte, als sich ihm anzuschließen.
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